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Nr. 2 / 2019
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Die Freiheit der Forschung: Das Lukács-Archiv

Im Frühsommer 2019 wurde im ungarischen Parlament ein, milde gesagt, nicht sehr sorgfältig zusammengetragenes Ensemble von Gesetzen angenommen, das der Regierung erlaubt, die Ungarische Akademie der Wissenschaften (UAW) auszuplündern, ihr Netz von Forschungsinstituten zu okkupieren, und die UAW, die ja die ernst zu nehmende wissenschaftliche Einrichtung in Ungarn war, in einen Klub überflüssiger alter Damen und Herren umzuwandeln. Diese Maßnahme soll natürlich dem „Gemeinwohl“ dienen, der Förderung der Innovation etc. Doch Argumente, die es irgendwie glaubhaft hätten machen können, dass Wissenschaft besser gedeihen kann, falls sie direkt unter die Aufsicht einer ministerialen Bürokratie gestellt wird und direkte Interventionen der Politik erdulden muss als im Rahmen der übrigens nicht einwandfreien, doch immerhin mit Gremien der aristokratischen Republik der Wissenschaft (Generalversammlung, Ausschüsse, Räte usw.) ausgestatteten Akademie, waren nicht zu hören. Und nicht, weil solche Argumente eigentlich unvorstellbar sind, sondern weil man das Argumentieren als überflüssig betrachtet hat: Die Akademie saß ein Jahr lang mit dem Revolver an der Schläfe mit am Verhandlungstisch. Dort war ihr nicht einmal erlaubt, hoffnungslose Rückzugsgefechte zu führen, da ein jedes Kind wusste und weiß, dass die Regierung, so clever, wie sie einmal ist, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen möchte. Es ging und geht im Grunde um die Gelder, die seitens der EU für die Förderung wissenschaftlicher Projekte bestimmt sind, und noch weiß die Regierung, dass aussichtsreiche und annehmbare Projekte nur von den Instituten der UAW zu erwarten sind. Dass durch diese Umgestaltung der seit 2010 laufende Prozess der Gleichschaltung der Forschung in den gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Einrichtungen endlich siegreich vollbracht werden kann, ist für die Regierung selbstredend ein erfreuliches Nebenprodukt.

Unter diesen Umständen und bei solch rosigen Aussichten fällt es einem schwer, über die Odyssee des Georg-Lukács-Archivs zu sprechen: Bei der Grablegung der UAW ist es fehl am Platz, dem Verstorbenen Schlechtes nachzusagen. Doch es scheint, als wäre das Schicksal, das der Akademie widerfährt, eine Illustration des Sprichwortes, Gott strafe nicht mit dem Stock. Solange das gleich nach Lukács’ Tode (1971) in der Wohnung des Philosophen eingerichtete Archiv als eine Institution der Akademie (mal dem Philosophischen Institut, mal der Bibliothek der UAW untergeordnet) eine Art zwar institutionell nicht gesicherte, doch praktisch existente Autonomie genoss, konnte es nachgelassene Schriften veröffentlichen (in den Ausgabenreihen „Aus dem Nachlaß von Georg Lukács“ und „Hefte des Georg-Lukács-Archivs“), Manuskripte zur Veröffentlichung (für die ungarische und deutsche Werkausgabe) vorbereiten, den wissenschaftlichen/philologischen Hintergrund für verschiedene Publikationen sichern, Schriften über Lukács oder der bzw. über die Lukács-Schule herausbringen (in der Bücherreihe „Alternativen“). Und natürlich bediente das Archiv alle, die im Archiv arbeiten wollten oder sich mit Bitten an das Archiv wandten, ob Forscher*innen oder Studierende. Doch ab 2010 (nicht zufällig, als sich die Orbán-Regierung eingerichtet hatte) war das Archiv dazu verurteilt, nur noch sinnlose Diskussionen mit der akademischen Obrigkeit führen zu können: Seine verbliebenen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen wurden entfernt, überhaupt jede nennenswerte Arbeit eingestellt (mit der idiotischen Begründung, so was gäbe es in der Bibliothek der UAW nicht). Ob die Schritte zur Ruinierung des Archivs schon anfänglich politisch motiviert waren, oder sich bloß die solchen wissenschaftspolitischen Einrichtungen nicht fremde bürokratische Stumpfsinnigkeit und der eingefleischte Konservativismus der Akademie austoben wollten, war vielleicht nicht von vornherein klar. Klar war nur, dass es der Akademie unangenehm geworden ist, eine Einrichtung in ihrem Rahmen zu haben, die den Namen Lukács trägt. Dass das Archiv nicht nur gemaßregelt, sondern liquidiert werden sollte, ist erst 2016 eindeutig geworden, als die Akademie die Absicht erklärte, den handschriftlichen Nachlass der Bibliothek der UAW, Lukács’ Bibliothek dem Institut für Philosophische Forschung zu übergeben und Lukács’ Wohnung aufzugeben, und das mit der empörend scheinheiligen Begründung, dadurch wäre endlich der Nachlass den Usurpatoren, in deren Hände er gelangt war, entrissen, und der Letzte Wille des Philosophen vollbracht. Um die Akademie zum Rückzug zu zwingen oder wenigstens zu retten, was noch zu retten war, haben frühere Mitarbeiter*innen des Archivs, einige Akademiker*innen und Redakteur*innen einer linken Zeitschrift eine Stiftung (Internationale Stiftung Lukács-Archiv, LANA/ISLA) etabliert, die Verhandlungen mit der Akademie führen sollte (als Eigentümer von Lukács’ Handschriften und Bibliothek war die Akademie nicht zu umgehen). Sie taten das in der Annahme, der internationale Ruf – die Nachricht der Liquidierung des Archivs rief heftigen internationalen Protest hervor – müsse in den Augen der Akademie doch noch etwas wert sein, doch die Verhandlungen entarteten zu einem Kuhhandel, in dem seitens der Akademie der selbe Stil der Scheinheiligkeit und der Taubheit gegenüber sachlichen Argumenten herrschte, in dem später in den Verhandlungen mit der Regierung (formal mit dem Ministerium für Innovation und Ähnliches) die Akademie in die Ecke getrieben wurde.

Das Archiv ist seit mehr als einem Jahr geschlossen. Angeblich soll dort so etwas wie eine Gedenkstätte eingerichtet werden – das Regime hat große Erfahrungen in der Einrichtung von Gedenkstätten, die dem Andenken des/der Betroffenen Abbruch tun, siehe das „Haus des Terrors“ –, doch auch abgesehen davon ist diese Absicht etwas, das unsere Stiftung schroff zurückweist: Uns (und der Gemeinschaft aller, die in Sachen Lukács interessiert sind) geht es um die Wiederherstellung des Archiv in all seinen eigentlichen Funktionen. Dass all die internationalen Proteste von Wissenschaftler*innen, wissenschaftlichen Gesellschaften und Studierenden, auch Proteste der Gremien und Figuren der Akademie selbst, nur die prompte Veräußerung der Wohnung, nicht aber die Zerschlagung des Archivs verhindern konnten, zeugte schon damals, als die Stiftung mit der Akademie einen Dialog führen wollte, davon, dass es um mehr ging als nur um den bösen Willen der akademischen Obrigkeit. Ich überlasse es den Leser*innen, zu beurteilen, wie unsere Chancen, Ideen über die Freiheit der Forschung mit etwa dem Ministerium für Innovation (und Ähnliches) oder mit der Regierung zu tauschen, stehen.

Was bleibt, ist, einiges von dem, wofür das Archiv stand, fortzuführen, wenn nicht auf Erden, dann im virtuellen Himmel des Internets – siehe dazu die Homepage. Und nur ungern würde ich die Gelegenheit verpassen, die Leser*innen dieser Zeilen dazu aufzurufen, nicht nur Leser*innen zu bleiben, sondern womöglich an der genannten Homepage mitzuarbeiten und die Arbeit des Archivs fortzuführen.