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Nr. 2 / 2019
Faschistische Versuchungen

Georg Lukács: Gibt es überhaupt eine faschistische Weltanschauung? (1933)

[*]

Die Widersprüche der faschistischen Agitation

Im ersten Augenblick ist man geneigt, diese Frage unbedingt zu verneinen. Liest man sowohl die theoretischen Manifesta­tionen wie die Agitationshefte der Faschisten, so findet man darin ein derart mystisch-verworrenes Kauderwelsch, ein derart wüstes Durcheinander unzusammenhängender, ein­ander ins Gesicht schlagender „Gedanken“, dass man sich schwer entschliessen kann, dieses demagogische Chaos mit dem Namen einer Weltanschauung zu beehren. Und wenn man sich die Mühe nimmt, die faschistischen Schriftwerke näher zu analysieren, so findet man, dass alles Gedankliche darin morsch und hohl ist, dass hinter der pompös-dekorati­ven Fassade einer angemassten Einheitlichkeit der Welt­anschauung eben ein eklektisches Nebeneinander wider­spruchsvoller Gedankengänge verborgen und nicht einmal sehr verborgen steckt. Diese Zusammenhanglosigkeit wird noch gesteigert durch die zynische Form der faschistischen Propaganda. Der Fachminister für Propaganda, Josef Goeb­bels, hat — von seinem Standpunkt [aus] konsequenterweise — unlängst in einer Rede erklärt, dass jede Propaganda, die wirksam ist, gut sei, jede die unwirksam, schlecht; dass also die Güte der Propaganda ganz unabhängig von ihrem theoretischen Gehalt sei. Und vor der Machtergreifung drückte derselbe Goebbels diesen Gedanken noch zynischer aus. In einer Wahlrede im vorigen Sommer erklärte er, man müsse zu jeder Gesellschaftsschicht nicht nur in ihrer eigenen Sprache sprechen, sondern man müsse sich auch inhaltlich, in der Frage der Losungen und Forderungen an die speziellen [61] Wünsche der betreffenden Gesellschaftsschicht anpassen, unbekümmert darum, was man den anderen Gesellschafts­schichten sage. Man müsse also z. B. den Arbeitern die Sozialisierung der Industrie, den Fabrikanten die Aufrecht­erhaltung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln, den Arbeitslosen die Erhöhung, den Kapitalisten die Herab­setzung der Arbeitslosenunterstützung versprechen, etc. In diesem zynischen Eingeständnis Goebbels' kommt der tiefere gesellschaftliche Grund der Eklektik, der Zusammenhanglosigkeit, der unauflöslichen Diskrepanz der faschistischen „Weltanschauung" ungewollt, aber desto klarer zum Aus­druck. Das Ziel der Faschisten („Hochziel“, /2/ sagt Gott­fried Feder bombastisch) ist die „Versöhnung“ der wider­spruchsvollsten Klasseninteressen; die Faschisten wollen in der Periode der zugespitztesten Klassengegensätze, die die Geschichte bis jetzt produziert hat, in der Periode der Krise des kapitalistischen Systems, noch verschärft durch die akute zyklische Krise und durch die Tatsache, dass Deutschland eines der schwächsten Kettenglieder des heutigen monopol­kapitalistischen Systems ist, ihre Agitation so führen, dass sie diese entgegengesetztesten Klasseninteressen „theoretisch“ auf einen Nenner bringen. Es ist selbstverständlich, dass dabei die realen Widersprüche, von einer dünnen Glasur der hochtrabenden Phrasen bedeckt, nur desto krasser zum Vorschein kommen müssen. […] [62]

 

/4a/ Die Antikapitalistische Massenstimmung als Spezialproblem des Faschismus

Es wäre jedoch falsch, über diese allgemeine, welthistorische Gemeinsamkeit das Spezifische des Faschismus zu übersehen. Dieses Spezifische liegt eben in der besonderen historischen Lage, in der der Faschismus dieses allgemeine Klassenziel der Bourgeoisie zu verwirklichen hat. Die spezifischen Inhalte und Formen der faschistischen Philosophie entspringen gerade aus der Notwendigkeit, dieses allgemeine Klasseninteresse der Bourgeoisie in der Krise des kapitalistischen Monopolkapitalismus, in der Krise des kapitalistischen Systems, inmitten der zyklischen akuten Krise zu ver­wirklichen. Es ist hier unmöglich, eine, wenn auch noch so zusammengedrängte ökonomische und gesellschaftliche Ana­lyse der heutigen Frage in Deutschland zu geben. Dem Leser werden ja die wichtigsten Tatsachen und richtunggebenden Analysen bereits bekannt sein. Wir wollen hier /5/ bloss auf jenen Punkt hinweisen, der für die spezifische Art des Hitlerfaschismus entscheidend geworden ist. Die Krise, die von ihr verursachte Massenarbeitslosigkeit und Kurzarbeit, die unerhörte Senkung des Lebensniveaus der Arbeiterklasse, die fürchterlichen Verheerungen, die die Krise im städtischen Kleinbürgertum und [in] der Bauernschaft hervorgebracht hat, mussten notwendigerweise eine vollständige Erschütterung des Glaubens |:an das kapitalistische System auch der rückständigsten Massen <im kapitalistischen Sy­stem), eine Feindschaft, einen Hass und eine Verachtung gegenüber dem kapitalistischen System, eine antikapitalisti­sche Massenstimmung hervorrufen. Wenn man die Wahlre­sultate der letzten Jahre in Deutschland aufmerksam studiert, so sieht man das ständige Anschwellen und Erstarken dieser antikapitalistischen Massenstimmung. Alle Parteien, die mit offen grosskapitalistischen oder kleinbürgerlichen-Parolen für sich warben, sind mit Ausnahme der deutsch-nationalen [66] Partei Hugenbergs vollständig aufgerieben worden. Aller­dings äusserte sich diese antikapitalistische Massenstim­mung, wie jede Entwicklung im Kapitalismus, in wider­spruchsvoller, ungleichmässiger Weise. Einerseits wächst das Klassenbewusstsein des Proletariats, seine Anziehungskraft auf städtisches Kleinbürgertum und Bauernschaft (K. P. D.), andererseits suchen die antikapitalistisch gestimmten, jedoch vorläufig noch rückständigen, verworrenen Massen andere Wege. Sozialfaschisten und auch Zentrum bemühen sich, ihre Arbeitermassen durch allerhand Demagogie bei der Stange zu halten. Nachdem die Sozialfaschisten in der relativen Stabili­sierung Marx als eine nicht einmal sehr ehrwürdige ge­schichtliche Reliquie behandelt haben, wird plötzlich in der Krise eine ,,Marx-Renaissance“ inszeniert (E P. Meyer, Landshut, Neue Blätter für den Sozialismus etc.). Aber diese Propaganda konnte zum Auffangen auch der rückständigen antikapitalistisch gestimmten Massen nicht genügen. Bei aller Unklarheit und Verworrenheit fühlten diese Massen deutlich, dass nur eine vollständige Umwälzung, nur eine Revolution ihre Lage wirklich verbessern könne. Sozialdemokratie und Zentrum waren aber ihrer Vergangenheit und Struktur nach offen „erhaltende“ Parteien, die nur Reformversprechungen geben konnten, deren Rolle sich bestenfalls darauf beschränken musste, die .bisher von ihnen /6/ ideologisch vernebelten Massen noch weiter unter ihrem Einfluss zu halten, ihren Anschluss an die revolutionäre Arbeiterbewe­gung, :an die rote Einheitsfront: zu verhindern. Die Massen, u. z. nicht bloss die ausgesteuerten oder vor der Aussteuerung stehenden Arbeitslosen, nicht bloss die Jungarbeiter, die nach ihrer Lehrlingszeit aufs Pflaster geworfen wurden und keine Aussicht hatten, so lange der Kapitalismus besteht, wieder in die Produktion zu gelangen, sondern auch die durch die Krise in ihrer Existenz bedrohten und dadurch aufgescheuchten und wildgewordenen Kleinbürger drängten zur Tat. U. z. zur sofortigen Tat. Die deutsche Bourgeoisie stand also vor der [67] Wahl: entweder tatenlos zuzusehen, wie diese Massen trotz ihrer Rückständigkeit allmählich von der kommunistischen Propaganda erfasst werden, wie ihre antikapitalistische Massenstimmung aus der Verworrenheit zu einer klaren Kampfstellung gegen das kapitalistische System sich ent­wickelt, oder eine scheinrevolutionäre Bewegung zu inszenie­ren, die unter demagogischer Vorspiegelung eines „radikalen Umsturzes“, einer sofortigen „rettenden Tat“, die noch rückständigen Massen um sich sammelt, die vorläufige Verworrenheit ihrer antikapitalistischen Stimmung zu einer Befestigung des wankenden monopolkapitalistischen Sy­stems ausnützt. Es ist klar, dass die deutsche Bourgeoisie sich nur zögernd zu diesem verzweifelten Hilfsmittel entschliessen konnte, dass wichtige Schichten der Bourgeoisie grosse Bedenken dagegen hatten, mit Hilfe einer, wenn auch noch so verlogenen und demagogischen „antikapitalistischen“ Pro­paganda den Kapitalismus zu retten. Jedoch die Verschär­fung der Krise, die wachsende Massenerregung, der wach­sende Einfluss der K. P. D. liess ihr keine Wahl. Der B. V. G- Streik, das klägliche Scheitern des Schleicherschen Versuches einer „Querverbindung“ der Gewerkschaften usw. trieben sie unaufhaltsam auf diesem Wege vorwärts. Und hier liegt u. E. der Punkt, wo der Faschismus etwas Spezifisches an sich hat, wo seine „Weltanschauung“ etwas Neues bringt. Dieses Neue liegt — grob zusammengefasst — darin, dass den Massen nicht mehr, wie in den alten apologetischen Ideologien der Bourgeoisie, der Kapitalismus selbst mundgerecht gemacht werden soll (die Propaganda der Hugenbergpartei geht noch diesen alten Weg, daher die Schwäche ihrer Massen-/7/ Basis), dass, vielmehr im Gegenteil, ihnen eine „Aufhebung“ des Kapitalismus versprochen werden, dass ihnen eingeredet werden soll, dass der Faschismus eine „neue Wirtschaftspe­riode“, den eigentlichen, den richtigen Sozialismus bedeute, dass im „dritten Reich" die Ausbeutung aufhöre und die „Versöhnung“ der Klassen schon darum eine Selbstverständ-[68]lichkeit sei, weil es in dieser „Volksgemeinschaft“ gar keine Klassen mehr gebe. Der grundlegende, weltanschauliche Widerspruch des Faschismus liegt also in dieser seiner zentralen Aufgabe: auf den Schultern einer antikapitalisti­schen Massenbewegung den Staatsapparat zu erobern, um "dann die Herrschaft des Monopolkapitalismus in einer noch nie dagewesenen Schärfe durchzusetzen, um die revolutionäre Arbeiterklasse und die unzufriedenen, rebellierenden Werktätigen mit einem ebenfalls noch nie dagewesenen Terror niederzuhalten.

Die inneren Widersprüche der faschistischen „Weltan­schauung“ treten in dieser Massenbewegung in noch ge­steigerterem Masse hervor. Der demagogisch wachgerufene Schein eines Umsturzes, eines radikalen Umbaus der Ge­sellschaft äussert sich in der Massenbewegung darin, dass den Massen einerseits eine „Selbsttätigkeit“, eine „Aktivität“ vorgegaukelt und diese Aktivität auch in entsprechende organisatorische Formen gekleidet, ideologisch gefestigt wird. Andererseits werden die Massen — gerade mit Hilfe ihrer „Aktivisierung” — von den wirklichen, wenn auch unklar und verworren erfassten antikapitalistischen Zielen ihrer Aktivität nicht nur abgelenkt, sondern gerade diese Aktivität wird ideologisch und organisatorisch in die entgegengesetzte Richtung gelenkt. Goebbels[†] spricht in seiner Frankfurter Rede (22. Juni 1933) von einer „ger­manischen Demokratie, in der das Volk in unmittelbare Beziehung zu seinem Schicksal gestellt wird, in der das Volk nicht selbst Politik macht, sondern die Männer seines Vertrauens beauftragt. . . Über diese geistig-politische Entwicklung stehe eine Autorität, die sie regiere und regle­mentiere, eine germanische Demokratie mit einer ausgeprägten Autorität.“ (Von mir gesperrt, G. L.) Freilich ist diese Rede nach der Machtergreifung gehalten worden.

/7a/ Es wäre jedoch eine allzu grosse Vereinfachung der Frage, die Perioden vor und nach der Machtergreifung [69] mechanisch voneinander abzutrennen. <Es ist klar> wir werden sehen, dass dieser grundlegende Widerspruch nach der Machtergreifung viel offener zutage tritt und desto schärfer zum Ausdruck kommen muss, je mehr der Faschis­mus sich „konsolidiert“ zu haben meint (man denke |:auch:| an die inneren Kämpfe im italienischen Faschismus). Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Faschisten schon vor der Machtergreifung einen blutigen Terror gegen den revo­lutionären Teil der Arbeiterklasse ausgeübt haben, dass die Frage dieses Terrors für sie mithin nicht bloss eine Frage der Eroberung des Staatsapparates, sondern zugleich eine agita­torische Frage gewesen ist. D. h. sie mussten ihre „Welt­anschauung“ so ausgestalten, dass mit ihrer Hilfe die rückständigen Arbeiter zu einem Kampf gegen ihre eigene Vorhut fanatisiert werden konnten. Andererseits darf eben­falls nicht vergessen werden, dass ein noch so „konsolidier­tes“ faschistisches Regime keineswegs auf diese ihre Massen­basis verzichten kann; dass, je krasser die Widersprüche zwischen Propaganda und Praxis in Erscheinung treten, die Fassadeneinheit der „Weltanschauung“, die nationale und soziale Demagogie desto energischer gefördert werden muss. […] [70]

 

Faschismus als herrschende Tendenz der bürgerlichen Ideologie

Es wäre wiederum eine allzu grosse Vereinfachung der Frage, wenn man in solchen Äusserungen nichts als feige Kapitula­tion der liberalen Bourgeoisie vor den „langen Messern“ der Braunhemden sehen würde. Feigheit, insbesondere „Mangel an Zivilcourage“ ist allerdings eine Nationaleigenschaft der deutschen Bourgeoisie und ihrer ideologischen Wortführer. Jedoch diese Kapitulation ist keine Kapitulation vor einem Gegner, von dem man bisher durch prinzipielle Gegensätze getrennt war. Der Faschismus ist ja keine „Erfindung" eines findigen Kopfes, eines „genialen Führers“, wie es die faschistische Ideologie selbst zu sein behauptet. Wir haben <ja> ganz im Gegenteil gesehen, wie die spezifischen Grundprobleme des Faschismus aus der objektiven Gesamt­lage der akuten Krise des kapitalistischen Systems notwendig herauswachsen. Mit diesen Problemen mussten sich alle Parteien und Strömungen der Bourgeoisie, alle bürgerlichen Ideologen in irgend einer Weise auseinandersetzen. Und da die objektive ökonomische und gesellschaftliche Lage im historischen Mass[s]tabe hier keinen anderen Ausweg zulässt, als verschärfte Diktatur der Bourgeoisie oder Diktatur des Proletariats, als Faschismus oder Kommunismus, mussten alle Denker dieser Periode, die sich mit diesen Problemen auseinandersetzten und auseinandersetzen mussten, die nicht ins Lager des revolutionären Proletariats kamen oder sich ihm annäherten, ganz gleich ob sie es wussten oder wollten, mehr oder weniger in faschistischer Richtung denken und handeln. Das welthistorische Dilemma der Periode: Faschis­mus oder Kommunismus macht es notwendig, dass die faschistische Ideologie zur allgemeinen herrschenden ideo­logischen Tendenz der Bourgeoisie werde. Der allgemeine Prozess der Faschisierung der bürgerlichen Parteien, die sozialdemokratische Partei immer mit inbegriffen, der Ge-[72]werkschaften, des öffentlichen Lebens etc. ist <eine allgemein bekannte Tatsache> hinlänglich bekannt. Hier wird es darauf ankommen zu zeigen, wie dieser Faschisierungsprozess sich innerhalb der bürgerlichen Philosophie unserer Zeit, die sozialdemokratische selbstverständlich wieder mitinbegrif­fen, vollzogen hat. Wir denken dabei nicht bloss an jene unzähligen kleinen /10/Gruppen und Grüppchen, die sich um den Faschismus herum, von ihm abgesplittert, teils oppositio­nell zu ihm eingestellt gebildet haben, nicht bloss an die in den letzten Jahren immer offener zutage tretende Faschisierung der Universitätsphilosophie, der publizistischen Popularisie­rung etc., sondern mit in erster Reihe an jene Denker, die gemeint haben, unabhängig von den Parteien, über den Parteien zu stehen, ihre Meinungen zu vertreten, ja den Faschismus — vom bürgerlichen Standpunkt — „energisch zu bekämpfen“. Wenn wir im nachfolgenden beweisen werden, dass auch diese Denker ideologische Wegbereiter des Faschismus gewesen sind, dass das ideologische Arsenal des Faschismus, seine Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie etc. von diesen Denkern zumindest seine Rohstoffe und Halbfabrikate geholt hat, so wollen wir die Frage selbst­redend nicht dahin vulgarisieren, dass wir diese Philosophen zu bewussten Faschisten stempeln würden. Sie sind Weg­bereiter des Faschismus gewesen infolge der objektiven geschichtlichen Situation, infolge ihrer Klassenlage in dieser Situation. „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“, sagt Marx.

Selbstverständlich hat sich dieser Prozess der Faschisierung der deutschen Philosophie nicht einfach, nicht gradlinig vollzogen. Es gab und gibt vielmehr auch heute eine Unmenge einander widersprechender, einander bekämpfender Strö­mungen und Tendenzen in der deutschen Philosophie. Jedoch die objektiven Probleme der Epoche, diktiert von der unaufhaltsam sich verschärfenden Krise des Kapitalismus, setzen sich in widerspruchsvoller Weise, den einzelnen Denkern oft unbewusst, durch. Wir werden bei der Be-[73]handlung der einzelnen Probleme sehen, dass gerade je „höhere“ Probleme, von der unmittelbaren ökonomischen Lage scheinbar je entferntere Fragen zur Diskussion stehen, desto geringer der prinzipielle Gegensatz zwischen den einzelnen Fraktionen der bürgerlichen Philosophie unserer Zeit. Es wird sich dann zeigen, wie innige Verbindungen — gerade auf dem Gebiet der Philosophie — Liberalismus und Faschismus miteinander verknüpfen, wie gross der Anteil der bilateralen Philosophie an der Entstehung und dem Aufbau der faschistischen Weltanschauung gewesen ist. /11 / Je allgemeiner die Probleme gestellt sind, mit desto grösserer Wucht setzt sich das allgemeine — trotz innerer Fraktionskämpfe im geschichtlichen Mass[s]tabe einheitliche — Gesamtinteresse der Bourgeoisie in der Philosophie durch. […] [74]

 

Wissenschaftsfeindliche Massenströmungen in der Nachkriegszeit

Die antiwissenschaftliche Strömung, die die Lebensphiloso­phie emportrug, ging in der Nachkriegszeit weit über die Grenzen der sogenannten wissenschaftlichen öffentlichen Meinung, selbst wenn man diese in breitestem Sinne <, als über die Universitätsphilosophie hinaus[gehend]> auffasst, hinaus. Die Erschütterungen des Krieges und der Nach­kriegszeit, die tiefe Verzweiflung und das Gefühl einer ausweglosen Lage, die ganz breite Massen insbesondere des Kleinbürgertums erfassten, die Unsicherheit und Perspektivenlosigkeit der materiellen, moralischen und geistigen Grundlagen ihrer gewohnten Existenz, das Verlorengehen des Vertrauens zu den traditionellen Führern und geistigen Beratern (Monarchie, alter Staat, Kirche etc.) haben in diesen Massen eine Verzweiflungsideologie (der neuen Religiosität, des Suchens nach einem neuen Glauben um jeden Preis hervorgebracht) hervorgebracht. Teils als verzweifeltes Sich- Klammern an die alten religiösen und sittlichen „Werte“, teils — was hier wichtig ist — als verzweifeltes Suchen nach einem neuen Glauben um jeden Preis. Die relative Stabilisierung hat diesen Prozess nur episodisch, nur kurz vorübergehend zum Stillstand gebracht; nur auf der Oberfläche. Mit dem [195] Ausbruch der akuten Krise brachen diese Strömungen mit erneuter Kraft hervor, noch gesteigert dadurch, dass auch jene neuen Götzen, deren Anbetung in der Nachkriegszeit bestimmten Teilen des Kleinbürgertums eingehämmert wur­de, ebenfalls ihren Kredit verloren haben. So insbesondere der in bestimmten Kreisen des Kleinbürgertums bis zum blinden Vertrauen emporgewachsene Glaube an die soge­nannten Wirtschaftsführer; so der Glaube in anderen Kreisen des Kleinbürgertums und auch der Arbeiterklasse an die Republik, an die bürgerliche Demokratie, an den Pazifismus usw. Es wäre eine ausserordentlich lohnende Aufgabe, die aber leider /109/ weit über den Rahmen dieser Arbeit gehen würde, diese Strömungen, die spezifischen gesellschaftlichen Zusammensetzungen ihrer Bestandteile, ihr Wachstum und ihre Veränderungen ausführlich zu analysieren. Denn es würde sich dabei ein Bild ergeben, das in einzelnen Zügen an das späte Rom oder an die Reformationszeit erinnert. Die Massenhysterie, die unerhörte Leichtgläubigkeit und Be­reitschaft für den wüstesten Aberglauben auch der sogenann­ten Gebildeten, das brennende Bedürfnis nach Glauben, nach Religion, wobei die Gegenstände dieses Glaubens ebenso rasch weggeworfen, wie fanatisch hingenommen werden, der Masseneinfluss, der durch die plumpeste Scharlatenerie erreicht werden kann: all dies und noch vieles andere sind Züge, die sich eben aus dieser steigend perspektivenlos­hoffnungslosen Lage des Kleinbürgertums in der Krise ergeben. Wir verweisen bloss auf die ausserordentlichen Erfolge, die in den ersten Nachkriegsjahren Theosophie und Anthroposophie in Deutschland errungen haben, auf die „wissenschaftliche Erneuerung“ der Astrologie, auf die Wirkungen der deutschen, chinesischen und indischen Mystik unter den Gebildeten usw. Der sogenannte „religiöse Sozia­lismus“ zeigt, dass diese Bewegung auch bestimmte Schichten der Arbeiterklasse nicht ganz unberührt gelassen hat, er zeigt aber zugleich, dass der Sozialfaschismus auch in dieser [196] Hinsicht jenen Vernebelungsprozess der Massen, der dem Anwachsen dieser Massenhysterie zur Gefolgschaft Hitlers voranging, aktiv mitgemacht hat, dass auch er zu jenen Götzenbildlieferanten gehört hat, die für diese neuerwachten Glaubensbedürfnisse stets den zeitgemässen Fetisch anboten. Und es ist für die Zeitstimmung bemerkenswert, dass es massenhaft bekannte Gelehrte gab, die diese Produktion einer neuen Religiosität aktiv mitmachten (z. B. der Philo­soph K. Oesterreich, der Herausgeber des „Grundrisse der Geschichte der Philosophie“ in Bezug auf die Theosophie) und dass sehr viele diese Bewegungen, wenn sie auch „kritisch“ zu ihnen standen, durchaus der ernstesten „wissen­schaftlichen“ Würdigung wert hielten. […] [197]

 



[*]Wiederabdruck in Auszügen von Georg Lukács: Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden? (1933) Herausgegeben von László Sziklai. Veröffentlichungen des Lukács-Archivs aus dem Nachlass von Georg Lukács. Redaktion Láslzlo Sziklai. Budapest: Akadémia Kiadó (1982), mit freundlicher Genehmigung durch Zoltán Mosóczi (The Lukács Estate)

 

[†] Deutsche Allgemeine Zeitung 23. Juni 1933