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Nr. 2 / 2019
Faschistische Versuchungen

"Der Schoß ist fruchtbar noch...“ Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft

Nicht selten verlaufen gesellschaftliche Entwicklungen zunächst unterschwellig. Sie bleiben gewissermaßen subkutan, bis sie schließlich an überraschenden Bruchstellen ins gesellschaftliche Bewusstsein treten. Die jüngsten Ereignisse, ausgelöst durch den österreichischen FPÖ-Skandal, zeigen dieses Muster. In ihnen kommt eine Faschisierungstendenz zum Ausdruck, deren Wurzeln weit in die europäische Geschichte zurückreichen. Nun ist guter Rat teuer: Wie konnte es dazu kommen? Welche Personen oder Einrichtungen haben versagt? Warum haben gesellschaftliche Gegenkräfte das Nachsehen? Oder pädagogisch gewendet: Ist das Programm einer ,Erziehung nach Auschwitz‘ gescheitert?

 

Erziehung nach Auschwitz

Öffentlichen Zuspruch erhielt dieses Programm durch Adornos gleichnamigen Vortrag, den er im April 1966 im Hessischen Rundfunk hielt. Gewöhnlich begegneten damals Pädagog*innen (mit ihrem notorischen Gutmenschentum) Adornos Kritischer Theorie mit gehöriger Reserve. Ausgenommen von seiner eher abweisenden Rezeption aber blieb ein Text, um den bis heute kein*e Pädagog*in herumkommt: „Erziehung nach Auschwitz“ (Adorno 2003, Bd. 10/2, S. 674 ff.).

Allein stilistisch unterscheidet sich dieser verhältnismäßig kurze Text von vielen anderen vernunftkritischen Arbeiten Adornos. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass er für ein breites Publikum konzipiert wurde. Doch auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist dieser Text bemerkenswert. Er öffnet einer pädagogischen Rezeption sozusagen von sich aus die Türe. Während für Adornos Gesamtwerk ein „kritischer Grundzug gegen Pädagogik und Erziehung“ (Paffrath 1992, 15) charakteristisch ist, kehrt der Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“ diese Perspektive in gewisser Weise um. In seinen einleitenden Überlegungen macht Adorno deutlich, dass nach seiner Einschätzung zwar die Möglichkeiten äußerst begrenzt sind, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse so zu ändern, dass der Wahnsinn von Auschwitz sich nicht mehr wiederhole. Doch erscheint ihm gerade deshalb eine ‚Wendung aufs Subjekt‘ unverzichtbar: Die Ursachen für das, was in Auschwitz geschah, „sind in den Verfolgern zu suchen, nicht in den Opfern, die man unter den armseligsten Vorwänden hat ermorden lassen“ (Adorno 2003, Bd. 10/2, 676). Nötig sei daher, so folgert Adorno, eine Wendung aufs Subjekt:

Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt (ebd., 676).

Mit der ‚Wendung aufs Subjekt‘ verbindet Adorno also eine im weitesten Sinn erzieherische Intention. Sie setzt auf ‚ein allgemeines Bewußtsein‘, also: auf Aufklärung und Kritik. Dies mag diejenigen verwundern, die Adorno als Kritiker der Aufklärung kennengelernt haben. Andererseits lässt Adorno keinen Zweifel daran, dass Kritik der Aufklärung nicht deren Widerruf bedeutet: die Bestätigung des Irrationalen. Gegenüber der wachsenden Irrationalität des Zivilisationsprozesses insistiert Adorno auf Aufklärung. So verwundert es nicht, dass er – im ausdrücklichen Anknüpfen an den Aufklärungsphilosophen Kant – sich herausgefordert sieht, einen neuen ‚kategorischen Imperativ‘ einzufordern. Adornos kategorischer Imperativ lautet so:

Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen, noch zu sollen. […] Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. […] Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz sich nicht wiederhole. Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht. […] Barbarei besteht fort, so lange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen (ebd., 674).

Mit diesen Sätzen redet Adorno einer ganzen Pädagogengeneration ins Gewissen. Die jungen, kritischen Erziehungswissenschaftler, die gegen Ende der 60er Jahre eine pädagogische Reformphase einleiteten, konnten und wollten an Adornos Einsicht nicht vorbeigehen. Seine Forderung, die Menschen sollten ihr Denken und Handeln so einrichten, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (Adorno 2003, Bd. 6, S. 358), berührt den innersten Sinn jeglicher Pädagogik nach Auschwitz. Pädagogik kann sich im Bewusstsein der Dialektik der Aufklärung gar nicht anders als kritisch begreifen. „Das Thema der Pädagogik ist die Erziehung, die den Menschen im Zustand der Unmündigkeit antrifft“, schreibt Blankertz. „Erziehung muß diesen Zustand verändern, aber nicht beliebig, sondern orientiert an einer unbedingten Zwecksetzung, an der Mündigkeit des Menschen“ (Blankertz 1982, 306).

Adornos Reflexionen zur ‚Erziehung nach Auschwitz‘ fielen gegen Ende der 60er Jahre auf fruchtbaren pädagogischen Boden. Seine Überlegung, Erziehung müsse „die subjektive Seite“ (Adorno 2003, Bd. 10/2, 675 f.) in den Blick rücken, knüpfte an frühere, vor allem psychoanalytisch geprägte Untersuchungen zum so genannten ‚autoritären Charakter‘ an. Nicht wenige Pädagog*innen zogen daraus den verführerischen Kurzschluss, im Einwirken auf die ‚subjektive Seite‘ lasse sich zu guter Letzt ein neuerliches Auschwitz verhindern. Doch blieb Adorno, was die erhoffte Wirkung pädagogischer Interventionen betrifft, höchst skeptisch. „Ich möchte […] nachdrücklich betonen“, schreibt er, „daß die Wiederkehr oder Nichtwiederkehr des Faschismus im Entscheidenden keine psychologische, sondern eine gesellschaftliche Frage ist“ (ebd., 678). Die moderne Gesellschaft aber, davon ist Adorno überzeugt, brütet weiterhin „Zerfallstendenzen“ (ebd., 677) aus. „Diese Zerfallstendenzen sind, dicht unter der Oberfläche des geordneten, zivilisatorischen Lebens, äußerst weit fortgeschritten“ (ebd., 677). In dieser Situation auf Erziehung zu setzen, hat also – wie Adorno selbst zugesteht – „etwas Desparates“ (ebd., 674). Diese Verzweiflung haben Pädagog*innen häufig überhört, wenn sie auf Adornos Überlegungen Bezug nahmen. Bereitwillig knüpften sie an die Vorschläge an, die Adorno – mit größter Vorsicht – in seinem Vortrag entwickelte. Sie kreisen um drei zentrale Begriffe: Autonomie, Empathie und Verdinglichung.

Autonomie hat nur dort eine Chance, wo sich das geistige, kulturelle und gesellschaftliche Klima einer „allgemeinen Aufklärung“ (ebd., 677) ausbreitet. Zwar werden sich in solch einem Klima die unbewussten Mechanismen, die Auschwitz möglich gemacht haben, „nicht geradeswegs […] auflösen“ (ebd., 689). Aber es stärkt „wenigstens im Vorbewußtsein gewisse Gegeninstanzen“ (ebd., 689), die eine autonome Lebensführung begünstigen. Sie findet ihren Ausdruck in der „Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (ebd., 679). Adornos Verweis auf ‚unbewußte Mechanismen‘ zeigt an, dass sich alle Versuche, Auschwitz zu verstehen, neben soziologischen oder pädagogischen Erklärungen auch psychoanalytischer Zugangsweisen bedienen müssen. Adornos Nähe zur Psychoanalyse veranlasst ihn, Fragen der Empathie (also: des Mitfühlens und Mitleidens) im Kontext der frühen Kindheit zu problematisieren. Da die Charaktere, die das Grauen von Auschwitz organisierten und herbeiführten, „nach den Kenntnissen der Tiefenpsychologie schon in der frühen Kindheit sich bilden, so hat Erziehung, welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren“ (ebd., 676).

Ein nachdrückliches Merkmal der Folterknechte von Auschwitz ist ihre emotionale Kälte. „Sie sind durch und durch kalt“ (ebd., 686), schreibt Adorno. Diese Kälte ist Teil ihrer frühkindlichen Biografie; mehr noch: sie ist Teil der gesellschaftlichen Ordnung, „welche die Kälte produziert und reproduziert“ (ebd., 688). Gegen diese Kälte lässt sich nicht anpredigen. Es helfen weder moralische Appelle, noch ist es allein mit gutem pädagogischen Willen getan. Was gegen diese Kälte aufzubieten wäre, umreißt Adorno mit einer Forderung, die der Erläuterung bedarf. Adornos Forderung lautet: man müsse der Kindheit ‚die Treue halten‘.

„Mit der Treue zur Kindheit […]“, schreibt Adorno im Entwurf für eine Rektoratsrede seines Freundes Horkheimer, „meine ich, daß Sie [damit sind die Studierenden gemeint, an die sich diese Rede richtet; L.P.] sich nicht den Traum eines richtigen, unentstellten Lebens, den Traum des ganzen Glücks für sich und für alle, verkümmern lassen dürfen […]. Der Begriff des Menschen selber haftet an dem Gedanken dessen, was mehr ist als die Menschen und ihre Existenz heute sind, und was schließlich doch verwirklicht werden muß, an der Utopie. Damit möchte ich Sie nicht zum Schwärmen ermutigen […], aber jenes unwägbare feine Gefühl, daß das, was ist, nicht die ganze Wahrheit ist, daß es ganz anders sein könnte und anders sein soll, muß jeder Erkenntnis dessen, was ist, sich gesellen; sonst ist es keine Erkenntnis, sondern die stumpfsinnige Wiederholung des bloßen Daseins“ (Adorno, zitiert nach: Paffrath 1992, 44).

Kindheit erscheint in den Überlegungen Adornos also nicht nur als Einbruchstelle, durch die gesellschaftliche Kälte von früh auf in die Menschen eindringt, sondern – gleichzeitig und im Widerspruch dazu – als besondere Zeitspanne zarter Empfindung und wacher Sensibilität für die Welt und die Menschen. Es ist diese Empfindungs- und Imaginationsfähigkeit, die Adorno gegen den vorherrschenden Bewusstseinszustand aufruft. Denn seinem Befund zufolge dominieren noch immer Indifferenz und Härte gegenüber sich und anderen. Sie verleiten die Menschen dazu, „sich selber gewissermaßen den Dingen [gleichzumachen]. Dann machen sie, wenn es ihnen möglich ist, die anderen den Dingen gleich“ (Adorno 2003, Bd. 10/2, 684).

 

Erziehung vor Auschwitz: der autoritäre Charakter

Der Verlust von Erfahrungsfähigkeit und Einbildungskraft führt dazu, dass das Selbst- und Weltverhältnis der Menschen gleichsam ‚einfriert‘. Augenscheinlich hat die gesellschaftliche Kälte, die Auschwitz möglich machte, eine komplexe Vorgeschichte. Adorno nähert sich ihr aus geschichtsphilosophischer, soziologischer und sozialpsychologischer Perspektive. Dabei greift er auf einen Fundus empirischer Untersuchungen zurück, die zunächst Erich Fromm (als Mitglied des Kreises junger Wissenschaftler, die seit den 30er Jahren im Frankfurter Institut für Sozialforschung zusammenfanden) durchführte (vgl. Fromm 1980/81, Bd. 3, 225 ff.). Fromms Interesse konzentrierte sich darauf, den Zusammenhang von Triebstruktur und Gesellschaft, von individuellem Entwicklungsverlauf und gesellschaftlichem Kontext zu entschlüsseln. Seine Forschungen förderten eine (überwiegend unbewusste) Charakterstruktur ans Licht, die für breite Bevölkerungsschichten am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnend war: den ‚autoritären Charakter‘.

Unter dem autoritären Charakter versteht Fromm ein typisches Muster bzw. Syndrom von Persönlichkeitseigenschaften, die das Sozialverhalten prägen. Es kommt vor allem in antidemokratischen und faschistischen Einstellungen zum Ausdruck. Erich Fromm, der diesem Sozialcharakter mehrere Untersuchungen widmete, kennzeichnet den autoritären Charakter u. a. durch die Bereitschaft, Vorurteilen zu folgen, durch einen extremen Gehorsam gegenüber Autoritäten, durch sein Bestreben, anderen gegenüber gewaltsam und beherrschend aufzutreten, sowie durch seinen Rassismus und Ethnozentrismus, d. h. seine Angst vor dem Fremden und seine Ablehnung fremder Kulturen und Lebensäußerungen. Dieses Set von Einstellungen und Haltungen kommt nicht zufällig zustande und tritt auch nicht plötzlich in Erscheinung. Es entsteht in langfristigen Prozessen, an denen Erziehungsverhältnisse immer auch ihren Anteil haben (vgl. auch Glaser 1964).

Fromms Verständnis des autoritären Charakters nimmt in erster Linie nicht auf individuelle Charakterausprägungen Bezug, sondern auf gesellschaftlich dominante Grundstrukturen. Fromm interessiert sich für den ‚Gesellschaftscharakter‘ (vielleicht könnte man auch sagen: die spezifische Unterbewusstseinslage) der Gesellschaft seiner Zeit. Der Gesellschaftscharakter soll den Kern der Charakterstruktur erfassen, „den die meisten Mitglieder einer Kultur gemeinsam haben, im Gegensatz zum individuellen Charakter, in dem sich die der gleichen Kultur angehörenden Menschen jeweils unterscheiden“ (Fromm 1980/81, Bd. 9, 89). Die Funktion des Gesellschaftscharakters besteht darin, „die Energien der Mitglieder dieser Gesellschaft so zu formen, daß ihr Verhalten nicht von ihrer bewußten Entscheidung abhängt, ob sie sich an das gesellschaftliche Modell halten wollen oder nicht, sondern daß sie sich so verhalten wollen, wie sie sich verhalten müssen“ (ebd., 90). Diese unbewussten Dispositionen reichen (wie unsere bisherigen Ausführungen zur Psychoanalyse bereits deutlich machten) bis in die frühe Kindheit zurück. Freuds Analyse des ödipalen Konflikts etwa zeigt, wie durch die Identifikation mit dem Vater (als Vorbild und Gegner) der patriarchale Besitz- und Herrschaftsanspruch schon in jungen Jahren aufgebaut wird. Dort, wo der ödipale Konflikt nicht zur Lösung kommt und ‚untergehen‘ kann, weil z. B. die unerträgliche Dominanz des Vaters oder der ihn ersetzenden Institutionen (wie Schule, Militär, Strafjustiz oder Obrigkeit) die Möglichkeiten unterlaufen, zu innerer Unabhängigkeit zu gelangen, bleibt am Ende nur die Flucht in eine Regressionslösung: die Fixierung an das innerlich festgehaltene Bild des Vaters (bzw. seiner Ersatzfiguren).

Es ist diese ‚autoritäre Fixierung‘, die Fromm – zunächst noch in den Spuren Freuds – als dominanten Charakterzug zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschlüsselt. Wollte man Freuds Terminologie beibehalten, so müsste man von einem ‚sado-masochistischen Charakter‘ sprechen. Allerdings wird dieser Terminus allzu leicht mit Perversionen und Neurosen in Zusammenhang gebracht. Fromm interessiert sich jedoch für die Charakterdynamik ‚normaler‘ Menschen. Um Missverständnissen vorzubeugen, wählt er daher den Begriff des ‚autoritären Charakter‘’, denn dieser Charaktertyp ist vor allem durch seine Einstellung zur Autorität gekennzeichnet. Der autoritäre Charakter bewundert Autoritäten und strebt danach, sich ihnen zu unterwerfen; gleichzeitig aber will er selbst eine Autorität sein und sich andere gefügig machen. Das dominante Beziehungsmuster des autoritären Charakters konkretisiert Fromm am Verhältnis zur Macht:

Für den autoritären Charakter gibt es sozusagen zwei verschiedene Geschlechter: die Mächtigen und die Machtlosen. Seine Liebe, seine Bewunderung und seine Bereitschaft zur Unterwerfung werden automatisch von der Macht geweckt, ganz gleich, ob es sich dabei um eine Person oder eine Institution handelt. Die Macht fasziniert ihn, nicht, weil sie vielleicht irgendwelche speziellen Werte repräsentiert, sondern schlicht als Macht. Genauso automatisch, wie seine ‚Liebe’ durch Macht geweckt wird, wecken machtlose Menschen oder Institutionen seine Verachtung. Allein schon der Anblick eines machtlosen Menschen erweckt in ihm den Wunsch, diesen anzugreifen, zu beherrschen und zu demütigen (Fromm 1980/81, Bd. 1, 316).

Der Wunsch, andere zu demütigen, resultiert aus eigener, unbewusst gehaltener Ohnmacht und Abhängigkeit. Um diese Ohnmacht nicht spüren zu müssen, sucht der autoritäre Charakter das Gefühl der Macht – sei es in der Identifikation mit dem Mächtigen, dem er sich unterwirft, sei es im Ausleben eigener Macht.

Es gibt eine Reihe literarischer Dokumente, die die Entstehung des autoritären Charakters veranschaulichen: etwa Alfred Anderschs Erzählung „Der Vater eines Mörders“ oder Heinrich Manns „Der Untertan“. Sie dechiffrieren indirekt oder ausdrücklich die pädagogische Seite des autoritären Charakters. Er ist verwoben mit den Praktiken der ‚Schwarzen Pädagogik‘, die im 19. und 20. Jahrhundert unverkennbar ihre Spuren hinterließ. Fromm konnte ihren Niederschlag bereits früh unter Beweis bringen. In einer empirischen Studie zum Gesellschaftscharakter (die in den Jahren 1929/30 durchgeführt, jedoch erst ein halbes Jahrhundert später veröffentlicht wurde; vgl. Fromm 1980/81, Bd. 3, 1 ff.) untersuchte er die unbewussten Dispositionen von Arbeitern und Angestellten, die sich selbst ausdrücklich dem linken politischen Spektrum zuordneten. Dabei stellte sich heraus, dass in der Mehrzahl der Fälle das eigene revolutionäre Selbstbewusstsein und die unbewusst wirksamen Charakterorientierungen weit auseinanderdrifteten. Die Ergebnisse ließen sich als deutliches Indiz dafür lesen, dass am Vorabend des Dritten Reiches kein nennenswerter Widerstand gegen die Machtergreifung Hitlers zu erwarten war.

Angesichts dieser Ergebnisse kann man davon ausgehen, dass die Mitglieder des damaligen Frankfurter Instituts in gewisser Weise vorgewarnt waren. So konnte das Institut die Emigration rechtzeitig vorbereiten. Sie führte in kurzen Etappen über Genf, Paris und London nach New York. Bereits 1935 (also knapp zwei Jahre nach der Machtergreifung Hitlers) befanden sich die meisten Mitglieder des Instituts in den Vereinigten Staaten, wo dem Institut die Angliederung an die Columbia Universität ermöglicht wurde. Die Rückkehr nach Frankfurt erfolgte erst 1951.

Die Erforschung des autoritären Charakters blieb auch im Exil ein vordringliches Anliegen. Unter Beteiligung Adornos wurde in den Jahren 1945/46 – unter dem Eindruck des gerade vergangenen Zweiten Weltkriegs und des Holocausts – in den USA eine Nachfolge-Studie zur ‚Authoritarian Personality‘ durchgeführt. Seltsamerweise finden sich in dieser Studie (die 1950 zum ersten Mal veröffentlicht wurde; vgl. Adorno u. a. 1950) die Pionierarbeiten Erich Fromms nur mit einer Fußnote erwähnt. Erklärbar ist dies nur aus dem Zerwürfnis zwischen Fromm und Adorno, das dazu führte, dass Fromm in die Nachfolge-Studie nicht mehr mit einbezogen wurde. Berühmt wurde die Studie zur ‚Authoritarian Personality‘ vor allem durch ihren Untersuchungsaufbau, die an Fromms Experimente mit offenen Fragen und qualitativen empirischen Erhebungsformen anknüpfte. Das Forschungsprojekt war breit angelegt, umfasste eine große Personengruppe und benutzte sowohl statistische wie auch interpretierende Methoden. Die Untersuchungshypothese ging davon aus, dass Personen, die faschistischen Vorstellungen anhängen, sich vor allem durch antisemitische, ethnozentristische und konservative Einstellungen auszeichnen. Dabei sollte die autoritäre Persönlichkeitsstruktur mit Hilfe einer neuen F-Skala erfasst werden. (‚F‘ bedeutete in diesem Fall: ‚Faschismuspotential‘.) Aus mehr als zweitausend Personen wurden schließlich je vierzig Frauen und Männer für ausführliche Interviews ausgesucht. Der erwartete Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der F-Skala und der Ausprägung von Antisemitismus, Ethnozentrismus und Konservatismus ließ sich im Großen und Ganzen bestätigen. Auch wenn das damalige Untersuchungsdesign heutigen Anforderungen nicht genügt, stellt die Untersuchung insgesamt doch einen Meilenstein qualitativer empirischer Sozialforschung dar.

Die Ergebnisse der Studien zum autoritären Charakter werfen ein Licht auf die verwickelten Verhältnisse von Erziehungspraxis und politischem System. Sie machen verständlich, wie die Pädagogik an der Ausgeburt des Faschismus Anteil hat. Doch lassen sie keine eindeutigen Schlüsse darüber zu, was dagegen aufzubieten wäre. Angesichts der Kälte, die den autoritären Charakter kennzeichnet, sind Pädagog*innen mit der Forderung, Humanität und Liebe unter den Menschen zu befördern, schnell bei der Hand. Doch macht Adorno unmissverständlich klar, dass die Aufforderung, die Mitmenschen zu lieben, sich sogleich in Widersprüche verstrickt.

Liebe predigen setzt in denen, an die man sich wendet, bereits eine andere Charakterstruktur voraus als die, welche man verändern will. Denn die Menschen, die man lieben soll, sind ja selber so, daß sie nicht lieben können, darum ihrerseits keineswegs so liebenswert (Adorno, 2003, Bd. 10/2, 688).

So gesehen führt die Forderung, nach Auschwitz eine andere Erziehung zu praktizieren, in ein theoretisches wie praktisches Dilemma. Das theoretische Dilemma (das bisher nur am Rande gestreift wurde und an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden soll) besteht darin, dass Adornos kategorischer Imperativ (‚daß Auschwitz nicht noch einmal sein dürfe’) an eine Vernunft appelliert, deren Verstrickung in Zwangsprozeduren und irrationale Gewaltherrschaft längst durchschaut ist. Wenn, wie Adorno immer wieder betont, niemand den gesellschaftlichen Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht haben, tatsächlich entronnen ist, dann stellt sich die Frage, für wen Adornos Imperativ eigentlich kategorisch Geltung haben soll: Wer kann von welchem Ort aus diese Forderung erheben? Andererseits gibt es aber auch keinen vernünftigen Grund, darüber zu schweigen – selbst wenn sich die vernünftige Einsicht, auf die Adorno hinaus möchte, angesichts der herrschenden gesellschaftlichen Unvernunft als ohnmächtig erweisen sollte. Wirksam (und damit pädagogisch relevant) würde kritische Einsicht erst, wenn ihr etwas zur Seite träte, das die Menschen dazu veranlasst, sich dem Irrsinn zu widersetzen. Adorno nennt dieses ‚Etwas‘ (das sich aus einer anderen, leiblichen Quelle speist) das ‚Hinzutretende‘. Es drängt sich beispielsweise als unmittelbare Empfindung auf, die uns ergreift, wenn wir uns Auschwitz vergegenwärtigen: der Affekt der Überwältigung durch den Abscheu. Der „Abscheu vor dem unerträglichen Schmerz […], dem die Individuen ausgesetzt sind“ (Adorno 2003, Bd. 6, 358), macht es unmöglich, sich vom Leiden der Opfer nicht berühren zu lassen.

Erziehung sieht sich in dieser Perspektive (neben dem Anspruch, Empathie und Imagination zu entfalten) vor die Aufgabe gestellt, bestimmte grundlegende Fähigkeiten zu erhalten: etwa die Fähigkeit, sich erschüttern zu lassen, oder die Fähigkeit, die Welt „ohne Vorurteile und Schablonen, ohne Angst an sich heran zu lassen“ (Schäfer 2004, 116). Adorno folgt damit gewissermaßen einer Immunisierungs-Strategie: Es käme darauf an, die Beziehungslosigkeit, Härte und Kälte zu vermeiden, die sich in die Menschen einnistet und in ihnen eine Destruktivität erzeugt, die Fromm als „das Ergebnis ungelebten Lebens“ (Fromm 1980/81, Bd. 1, 324) diagnostiziert. Zugleich aber muss damit gerechnet werden, dass die vorherrschenden gesellschaftlichen Beziehungsmuster die Fähigkeit, sich berühren zu lassen, von klein auf einschränken oder verstümmeln. Je mehr im Alltagsleben die Beziehungen zwischen Menschen eine Qualität gewinnen, die Adorno als ‚Verdinglichung‘ charakterisiert, um so mehr gerät die erzieherische Aufgabenstellung in einen kaum lösbaren Zirkel. Denn die Transformation verdinglichter, reduzierter Erfahrung verlangt als Heilmittel, was die Störung scheinbar nicht zulässt: nämlich eine vertiefte Erfahrungsfähigkeit. Wäre dieser Zirkel wirklich völlig geschlossen, käme jede Pädagogik zu spät. Denn Pädagogik kann in die Menschen nicht eingreifen wie in einen reparierbaren Automatismus. Insofern bleibt pädagogische Praxis immer auf etwas ‚Hinzutretendes‘ angewiesen, auf ein unmittelbares Moment, also auf etwas, das man – in Adornos Worten – nicht ‚andrehen‘ kann. „Die Aufforderung“, schreibt er, „den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch“ (Adorno 2003, Bd. 10/2, 688). Hier zeigt sich ein Grunddilemma jeder ‚Erziehung nach Auschwitz‘: als pädagogisches Programm postuliert, kommt sie letztlich sich selbst in die Quere.

 

Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft

Die Generation Pädagog*innen, die in den 60er und 70er Jahren auf Adornos ‚Erziehung nach Auschwitz‘ Bezug nahm, ließ sich von solchen Bedenken kaum irritieren. Als ‚zweite Generation‘ nach dem Holocaust wollte sie das Schweigen brechen, das die erste Generation über die nationalsozialistischen Verbrechen gelegt hatte. Dies verführte sie dazu, die Erinnerung an den Holocaust zu pädagogisieren. Im Versuch, aus der deutschen Geschichte zu lernen, machten zahlreiche ‚Pädagog*innen der zweiten Generation‘ „die Aufarbeitung der NS-Geschichte zu ihrem eigenen Markenzeichen“ (Messerschmidt 2005, 36). Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurde zu einem wichtigen Teil ihres pädagogischen Selbstverständnisses. Allerdings übersahen sie dabei, dass die Idee, aus der Erinnerung zu lernen, häufig einer allzu simplen Vorstellung geschichtlicher Kontinuität verhaftet blieb.

Denn aus „dem Nationalsozialismus lässt sich der aktuelle Rechtsextremismus nicht erklären. Umgekehrt wirken Kenntnisse über den Nationalsozialismus nicht automatisch immunisierend gegen rechtsextreme Ideologien und Forderungen“ (Messerschmidt 2003 a, 54).

Im Gegenteil: die Pädagogisierung von Auschwitz erzeugt in der nachfolgenden ‚dritten Generation‘ eher eine Abwehr gegen Belehrung. ‚Das haben wir schon so oft gehört; dauernd werden wir mit dem Nationalsozialismus belästigt‘, lauten die Klagen.

Verstärkt wird diese Abwehr zweifellos durch den politischen Gebrauch, der von der Erinnerung an den Holocaust gemacht wird. Bis heute muss in zahllosen politischen Fensterreden der Holocaust als Fixpunkt zur Sicherung nationaler Identität herhalten. Das Nachkriegsdeutschland setzt sich von seiner nationalsozialistischen Vergangenheit ab, indem es den Holocaust als ‚Staatsakt‘ zelebriert. Die Beschlagnahme des Holocaust aber erweist sich als höchst problematisch (vgl. Georgi 2000), denn sie instrumentalisiert – ob gewollt oder nicht – die Opfer.

Der Holocaust eignet sich nicht als Grundlage für den Aufbau einer nationalen Identität. Die Versuche, deutsche Identität auf dieses Ereignis zu gründen, wiederholen nur den ausschließenden Gestus des deutschen Nationalprojektes. Nur die würden dazu gehören, die sich biografisch und auf Grund ihrer Abstammung auf eine ‚Herkunft‘ aus dieser Geschichte berufen könnten (Messerschmidt 2003 b, 104).

Doch ist Deutschland inzwischen zu einem Einwanderungsland geworden, in dem eine Identitätsstiftung durch Ausschluss schlicht anachronistisch wirkt. Für eine ‚Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft‘ bedeutet dies,

Ausdrucksformen des Erinnerns zu entwickeln, die problematische Aneignungen und Identitätsmarkierungen reflektieren und sich offen halten für die Erfahrungen gesellschaftlicher Gruppen, die nicht als ethnische Deutsche, sondern als deutsche Staatsbürger in dieser Gesellschaft leben und an Prozessen des kollektiven Erinnerns jenseits nationaler Identitätspolitik mitwirken (ebd., 105).

In der dritten Generation nach Auschwitz überlagern sich also unterschiedliche Problemkonstellationen, die die pädagogische Praxis zu einer Gratwanderung machen: Da ist zum einen die Abwehr der Art und Weise, wie die zweite Generation von der Erinnerung an den Holocaust Gebrauch macht; da ist zudem das Problem, die Erinnerung an den Holocaust zu anderen Geschichten des Rassismus und ‚ethnischer Säuberungen‘, die die ‚anderen Deutschen‘ mitbringen, ins Verhältnis zu setzen; und da sind schließlich die aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen, die aus der Nicht-Anerkennung der ‚anderen Deutschen‘ entstehen. Wie sich dies zu einem schier unentwirrbaren Knäuel verwickelt, lässt sich an einem Fallbeispiel demonstrieren, das Bernd Fechler, der ehemalige Leiter der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, aufgezeichnet hat. Ausgangspunkt ist der Besuch einer 10. Realschulklasse aus dem Frankfurter Umland in einer Ausstellung über die NS-Zeit und die Verfolgung der Juden:

Da die Klasse eine halbe Stunde früher als vereinbart zur Führung erscheint, schickt sie der Lehrer schon einmal ohne Aufsicht in die Ausstellung. Zehn Minuten später entsteht ein Aufruhr in der Gruppe. Einige Schüler, des Wartens in der Ausstellung offenbar überdrüssig, hatten sich das Gästebuch vorgenommen und sich darin mit Neonazi-Parolen und Unterschriften verewigt. Andere in der Klasse hatten dies bemerkt und unter die provokanten Sprüche den schriftlichen Hinweis gesetzt: ,Die Nazis aus der Klasse 10c der Rabensteiner Realschule‘. [Der tatsächliche Name der Schule wurde natürlich geändert. L. P.] Voller Empörung waren sie sodann mit dem Corpus delicti zum Lehrer marschiert, um ihn zum Eingreifen, d.h. zur Bestrafung der Missetäter zu bewegen.

 Noch unsicher, wie er mit diesem Fall umgehen soll, kopiert der Lehrer zunächst die entsprechenden Seiten des Gästebuchs. Da die Stimmung unter den Schülern zu eskalieren droht, biete ich ihm als pädagogischer Mitarbeiter der Einrichtung an, jetzt sofort ein Konfliktgespräch mit der Klasse zu moderieren. Im Lauf der erhitzt und aggressiv ausgetragenen Debatte zeigt sich eine tiefe Spaltung der Klasse in eine große Gruppe von Jugendlichen aus Migrantenfamilien einerseits und eine Minderheit von ‚ethnischen Deutschen‘ andererseits. Aus der zweiten Gruppe waren die Naziparolen gekommen. Der Zorn der Migrantenjugendlichen ist groß, immer wieder bezeichnen sie ihre deutschen Mitschüler als ‚Nazis‘ und ‚Rassisten‘. […] Das Streitgespräch endet an diesem Tag unversöhnlich und ohne konkretes Ergebnis (Fechler 2000, 207 f.).

Dies war der Auftakt zu einer Konfliktgeschichte, die die Klasse offensichtlich schon lange beschäftigte. Nach diesem Eklat war sie endlich ans Licht gekommen, aber noch lange nicht vom Tisch.

Der Konflikt in der Klasse 10c um die Nazi-Parolen in unserem Gästebuch hatte sich mit diesem Streitgespräch noch nicht erledigt. Schon kurz nach dem Vorfall erhielten wir von dem Klassenlehrer die Rückmeldung, dass die Schüler die Debatte trotz ihres unversöhnlichen Ausgangs als überwiegend positiv erlebt hatten. Endlich sei die miese Stimmung, die schon lange in dieser Klasse herrsche, offen zu Tage getreten. Allerdings hatte sich der Graben zwischen ‚Ausländern‘ und ‚Deutschen‘, denen das ‚Nazi-Label‘ noch lange nachhing, zunächst noch weiter vertieft. Erfreulicherweise wurde auch von Seiten der Schulleitung eine Fortsetzung unserer Vermittlungsarbeit befürwortet. Zur gleichen Zeit hatte man sich jedoch in der Schule auf Leitungsebene einen eigenen Reim auf die Affäre gemacht und entsprechende Maßnahmen eingeleitet […]. Mehrheitlich beschloss die Klassenkonferenz, dass beide Seiten, sowohl die Gruppe der deutschen Schüler, die sich zu den Nazisprüchen im Gästebuch bekannt hatten, als auch die ausländischen Schüler, die für die Ergänzung verantwortlich zeichneten, mit einem Eintrag in die Personalakte bestraft werden sollten (ebd., 212).

Auf diese Weise aber wurde die Schuld-/Unschuld-Relation in der Klasse gravierend verschoben. „Am Pranger standen nicht mehr nur die ursprünglichen ‚Täter‘, sondern auch diejenigen, die den Skandal als erste öffentlich gemacht hatten“ (ebd., S. 213), und Fechler fügt kommentierend hinzu: „Lästig und beschämend für die Gemeinschaft ist nicht der Schuldige, sondern dasjenige Mitglied, das durch seine öffentlichen Anklagen das eigene Nest beschmutzt“ (ebd., S. 213 f.).

In die gleiche Richtung zielte auch die erste Reaktion der Schulleitung gegenüber der Jugendbegegnungsstätte am Tag nach dem Eklat, ihre Bitte, die berüchtigten Seiten ganz aus dem Gästebuch entfernen zu lassen. Artikulierte sich hier doch vor allem das Anliegen, nicht als ‚Nazi-Schule‘ in Verruf zu geraten und die offensichtliche ‚Schande‘ ungeschehen zu machen. Das in der Logik dieser Argumentation zentrale und primäre ‚Opfer‘ jedoch, die ‚geschädigte‘ Einrichtung selbst, wurde gar nicht erst gehört (ebd., 213 f.).

So, wie Fechler die Geschichte erzählt, finden sich in ihr alle Anknüpfungspunkte wieder, auf die eine ‚Erziehung nach Auschwitz‘ gewöhnlich Bezug nimmt: Es ist die Rede von Täter*innen und Opfern, von Scham, Schuld und Wiedergutmachung. Aber geht es in diesem Konflikt tatsächlich um die Erinnerung des Holocaust oder handelt es sich dabei vielmehr um eine ‚Deckerinnerung‘, einen Rückgriff auf tradierte Erinnerungsbestände, die dazu herangezogen werden, neue soziale Konfliktlagen zu inszenieren?

„Wie waren die Jugendlichen also einzuordnen“, fragt Fechler, „die durch ihre Mitschüler als ‚Nazis‘ geoutet worden waren? Für mich waren zunächst nicht die ‚rechten Jugendlichen‘ das Problem, sondern die gesamte Konfliktlandschaft war ein Rätsel, das es zu entschlüsseln galt. […] An wessen Adresse war die Provokation, die die Parolen im Gästebuch zweifellos darstellten, eigentlich gerichtet? Welche genaue Bedeutung hatte sie in diesem Moment für die Autoren und welche für die anderen Beteiligten? Zu welchem ‚Spiel‘ stellte diese Handlung den Auftakt dar, und welche Handlungserwartungen waren an mich als Vertreter der Institution gerichtet?“ (ebd., 216 f.)

An diesen Fragen wird ablesbar, mit welchen Irritationen eine ‚Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft‘ rechnen muss, wie sehr die veränderte gesellschaftliche Situation tradierten Erziehungskonzepten einen Strich durch die Rechnung macht. An die Stelle einer selbstgewissen Moralerziehung tritt die Bereitschaft, neue Beunruhigungen und Unklarheiten zuzulassen. „Uns geht es“, schreibt Fechler über seine Einrichtung, „um die Herstellung einer akzeptierenden Offenheit im pädagogischen Diskurs, einer Atmosphäre der Angstfreiheit, eines geschützten Rahmens als Ausgangspunkt für Kontroversen und Verständigungsprozesse. Von diesem Standpunkt aus ist es nur folgerichtig, auch Äußerungen Jugendlicher zuzulassen, die politisch und moralisch gar nicht mit den Werten und Überzeugungen derjenigen, die in dieser Einrichtung arbeiten, übereinstimmen“ (ebd., 216). Wie aber ging der Konflikt weiter?

Die Stimmung in der Klasse hat sich nach dem Bekanntwerden der Beschlüsse, die auf der Konferenz gefällt worden waren, weiter verschlechtert. Trotz der relativ milden Strafen ist die Empörung über die Gleichbehandlung der beiden Seiten riesengroß. Während sich besonders Atifa und Gabriele, eine afghanische Schülerin und ein italienischer Schüler, unterstützt von ihren Freunden darüber ereifern, wie es sein kann, dass sie mit ‚Nazis‘ in eine Schublade gesteckt werden, versinken Sascha, David und Tobias weiter in ihren Sitzen und versuchen, sich vor den nicht enden wollenden Debatten über ‚Deutsche‘ ‚Nazis‘ und ‚Rassisten‘ wegzuducken. Hatten sie den Konferenzbeschluss zunächst noch mit Erleichterung aufnehmen können, so stellt sich die Tatsache, dass sie gegenüber der Schulleitung noch einmal so glimpflich davon gekommen waren, gegenüber ihren Mitschülern als Pyrrhussieg heraus. Und es erscheint völlig unklar, wie sie ihr ‚Nazi-Etikett‘ unter solchen Umständen noch einmal loswerden sollen.

Die Wende im Konflikt kommt dann so überraschend wie zwingend. Von uns aufgefordert, doch noch einmal zu erklären, was sie mit ihren Sprüchen im Gästebuch tatsächlich gemeint hatten, legt Tobias ausführlich dar, dass es sich bei seinem Text um eine ‚Motivationsrede Hitlers an seine Soldaten‘ handeln würde, die er ‚aus dem Computerlexikon abgeschrieben‘ habe. Das mit dem Computerlexikon scheint ihm besonders wichtig zu sein, denn diese Tatsache wiederholt er einige Male. Was aus dem Computerlexikon stammt, einem modernen, allen zugänglichen Informationsmedium, kann aus seiner Sicht nicht so verwerflich sein. Das entscheidende Argument kommt jedoch schließlich von der anderen Seite. Marinella, eine italienische Schülerin, stellt die These auf, dass ‚eine Motivationsrede an Soldaten so schlimm nicht sein kann. Jedes Land liebt seine Soldaten. Soldaten sind dazu da, ihr Land zu verteidigen. Das wollen wir doch auch, egal ob wir Türken sind oder Griechen oder Italiener. Und ich finde, dass man seine Soldaten motivieren will, ist erstmal was ganz Normales.‘ – Jedes Land braucht motivierte Soldaten: Das ist ein Satz, auf den sich alle einigen können. Das hat nichts mit ‚Nazis‘ zu tun. Die sich daran anschließenden Wortmeldungen bekräftigen immer wieder diese Ansicht. In diesem Punkt scheinen die Schüler einen Ansatz gefunden zu haben, um die tiefe Spaltung, die ihnen auch langsam auf die Nerven geht, zu überwinden.

Konnten wir das als verantwortungsbewusste (Geschichts-)Pädagogen einfach so durchgehen lassen? War hier nicht eine klare Intervention gefordert, um einen allzu leichtfertigen Umgang mit Geschichte, mit der Verwischung von politischen und moralischen Kategorien, zu unterbinden? Konnten wir eine ‚Motivationsrede für Soldaten‘, die mit dieser Motivation einen Vernichtungsfeldzug geführt hatten, durch den Verweis auf die allgemein akzeptierte Notwendigkeit militärischer Landesverteidigung einfach so unkommentiert stehen lassen? Brauchten die Schüler nicht spätestens hier Hilfen zur politischen und historischen Orientierung? Oder sollten wir die selbst gefundene Lösung, so problematisch sie inhaltlich auch war, erst einmal anerkennen? Hier war eine klare Entscheidung nach Prioritäten gefordert, und wir entschieden uns ohne Umschweife für die zweite Option: Mit Blick auf das langfristig angestrebte Ziel einer Verbesserung des Klassenklimas kommentierten wir die Lösung der Schüler nicht. Immerhin hatten sie einen eigenständigen Ausweg aus der verfahrenen Situation gefunden […] (ebd., 222 ff.) 

Diese Geschichte führt mitten hinein in die Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten, denen sich eine ‚Erziehung nach Auschwitz‘ heute ausgesetzt sieht. Sie kennt keine glatten Lösungen und stellt auch die eigenen getroffenen Entscheidungen freimütig in Frage. Wie hätten Sie in dieser Situation entschieden? Hätten Sie sich am Ende doch zu einer Belehrung über die historisch angemessene, ‚richtige‘ Thematisierung von Auschwitz entschlossen? Wie immer Sie in solchen Situationen entscheiden, steht in Ihrer pädagogischen Verantwortung. Diese Verantwortung kann Ihnen keine theoretische Reflexion abnehmen. Aber sie kann dazu beitragen, angesichts verwirrender Interessenlagen und unversöhnlicher Konflikte das pädagogische Urteilsvermögen zu schärfen.

 

Literatur

Adorno, Theodor W. u. a.: The Authoritarian Personality, New York 1950.

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/ Main 2003, Bd. 6, 1-408.

Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in: Gesammelte Schriften, Bd.10/2, Frankfurt/ Main 2003, 674-690.

Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik, Wetzlar 1982.

Fechler, Bernd: Zwischen Tradierung und Konfliktvermittlung. Über den Umgang mit ‚problematischen‘ Aneignungsformen der NS-Geschichte in multikulturellen Schulklassen. Ein Praxisbericht, in: Fechler, Bernd u. a. (Hrsg): Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft, Weinheim 2000, 207-228.

Fromm, Erich: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrrechtstheorie, in: Gesamtausgabe 1980/81, Bd. 1, 85-109.

Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, in: Gesamtausgabe 1980/81, Bd. 1, 217-392.

Fromm, Erich: Autorität und Familie. Geschichte und Methoden der Erhebungen, in: Gesamtausgabe 1980/81, Bd. 3, 225-230.

Georgi, Viola: Wem gehörte die deutsche Geschichte?, in: Fechler, B. u.a. (Hrsg): Erziehung nach Auschwitz in der multikulturellen Gesellschaft, Weinheim 2000, 141-162.

Glaser, Hermann: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg 1964.

Messerschmidt, Astrid: Rezension zu: „Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hrsg.): Rechtsextremismus – was heißt das eigentlich heute? Über Rechtsextremismus, Rassismus und Zivilcourage – Prävention für Schule und Bildungsarbeit.“, in: Fritz Bauer Institut: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Nr. 25/2003 a, 54-55.

Messerschmidt, Astrid: Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung, in: Lenz, Claudia / Schmidt, Jens / von Wrochem, Oliver (Hrsg.): Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg 2003 b, 103-113.

Messerschmidt, Astrid: Zwischen Schuldprojektion und Moralisierungsabwehr – Beobachtungen in der dritten Generation nach dem Holocaust, in: Außerschulische Bildung 1/2005, 35-41.

Schäfer, Alfred: Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim 2004.

Paffrath, Hartmut F.: Die Wendung aufs Subjekt, Weinheim 1992.