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Nr. 2 / 2018
pro & contra

Muss der zukünftige Mensch durch Askese sein Selbst überwinden?

pro

So geht die Hoffnung darauf, ein neuer Menschentypus sei im Werden, der den freigesetzten Mächten nicht verfällt, sondern sie zu ordnen vermag. Der fähig ist, nicht nur Macht auszuüben über die Natur, sondern auch Macht über seine eigene Macht; das heißt, sie dem Sinn des Menschenlebens und Menschenwerkes unterzuordnen. „Regent“ zu sein in einer Weise, wie sie gelernt werden muß, soll nicht alles in Gewalt und Chaos zu Grunde gehen.

Hier Genaueres zu sagen, ohne zu phantasieren, ist schwer. Man muß überall verstreute Anzeichen, Hoffnungen, Versuche, durch Fehlschläge durchkreuzte Entwicklungsrichtungen zusammenholen und aus ihnen ein Ganzes herausschauen.

Das Bild, das so entsteht, ist dann utopisch; aber es gibt ja zwei Arten von Utopien. Die einen sind müßige Spiele der Phantasie; die anderen hingegen Vorentwürfe von Kommendem. Sie haben in der Geschichte große Bedeutung gehabt. Ein bloßes, aus reinem Nicht-Wissen und Nicht-Haben sich vollziehendes Suchen ist unmöglich; man kann nur suchen, was man in irgend einer Weise vorwegnehmend schon hat. Utopien sind Anstrengungen, das, was noch verborgen aus dem geschichtlichen Werdebereich heraufdrängt, in Bildern und Plänen offen hinzustellen, damit es wirksam gesucht werden könne.  

Wie hätte also wohl der Menschentypus auszusehen, der da gesucht bzw. dessen Werden erhofft wird? […]

Dieser Mensch hat auch wieder einen Sinn für Askese. Er weiß, es gibt keine Herrschaft, die nicht zugleich Herrschaft über sich selbst wäre. Es kann keine Gestalt aufgebaut werden, wenn der, der sie bauen will, nicht selber gestaltet ist. Es gibt keine Größe, die nicht auf Überwindung und Entsagung ruhte. Die Triebe des eigenen Innern sind nicht in Ordnung, sondern müssen gemeistert werden. Der Glaube an die angeblich gute Natur ist Feigheit. Er blickt von dem Bösen weg, das ebenso in ihr ist, wie das Gute, und dadurch verliert das Gute selbst seinen Ernst. Diesem Bösen muß widerstanden werden, und das ist Askese. Schon die Unbedingtheit des echten Befehls, die nicht aus der Gewalt, sondern aus gültiger Autorität; und jene des echten Gehorsams, die nicht aus dem Preisgegebensein, sondern aus der Anerkennung echter Befugnis kommen, können nur verwirklicht werden, wenn der Mensch über die Unmittelbarkeit von Trieb und Hang hinausgeht. Der Mensch, der gemeint ist, lernt wieder, welche befreiende Kraft in der Selbstüberwindung liegt; wie das von innen her angenommene Leiden den Menschen umwandelt; und wie alles wesenhafte Wachstum nicht nur von der Arbeit, sondern auch von frei gebrachtem Opfer abhängt. (S. 172)

 

(aus: Romano Guardini, Die Macht. Versuch einer Wegweisung, 9. Auflage 2016, in: ders., Das Ende der Neuzeit/Die Macht, S. 168/69 bzw. S. 172. Verlagsgemeinschaft Matthias Grünewald, Ostfildern / Ferdinand Schöningh, Paderborn. Alle Autorenrechte liegen bei der Katholischen Akademie in Bayern).

contra

Nicht selten wurde die Frage nach der Askese mit derjenigen nach der Entsagung des Selbst bzw. Selbstüberwindung gleichgestellt. Wenn man die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes ‚Askese‘ – d.h. ‚Übung‘ – in Betracht zieht und wörtlich nimmt, scheint diese Gleichstellung nicht mehr so selbstverständlich zu sein. Ganz im Gegenteil: Wenn die Askese als Übung verstanden wird, dann muss sie nicht unbedingt mit Konzepten wie Entbehrung, Kasteiung des Fleisches und – vor allem – Selbstaufopferung bzw. Selbstüberwindung zusammenfallen.

Ausgehend von dieser ersten etymologischen Beobachtung zu der ursprünglichen Bedeutung der Askese kann man die Frage „Muss der zukünftige Mensch durch Askese sein Selbst überwinden?“ in zwei verschiedene Fragen aufteilen und neu formulieren.

Die erste Frage würde dann wie folgt lauten: „Muss der zukünftige Mensch sein Selbst überwinden?“ und man müsste dieses verneinen. In erster Linie ist bereits das Konzept von ‚Selbst‘ umstritten. Von einem ‚Selbst‘ zu reden, bringt mit sich die Gefahr, essentialistische Positionen einzunehmen, wie z. B. diejenige, die eine ‚menschliche Natur‘ als gegeben voraussetzen. Wenn aber der Mensch etwas wie ein „festgestelltes Tier“ (contra Nietzsche) ist, d.h. ein Tier mit einem stabilen ‚Selbst‘, scheint es schwer vorstellbar zu sein, wie dieses ‚Selbst‘ überwunden werden könnte, ohne den Menschen selbst verschwinden zu lassen. Oder, anders formuliert, das würde voraussetzen, dass ein Mensch ohne ‚Selbst‘ möglich sein könnte. Darüber hinaus sind die konkreten Modi dieser Überwindung zumindest fraglich. Wie soll eine Überwindung des ‚Selbst‘ stattfinden? Wie sieht sie konkret aus? Ein gefährlicher trans- und posthumanistischer Geist spukt um die Art und Weise der möglichen Überwindung des menschlichen Selbst, der schnell zur Idee der human enhancement (mit den verbundenen dystopischen Szenarien) führen kann.

Die zweite Frage, die aus der ursprünglichen hergeleitet werden kann, lautet: „Muss der zukünftige Mensch die Askese ausüben bzw. asketisch leben?“ Anders als die erste könnte man diese bejahen, unter der Bedingung, dass mit ‚Askese‘ eine Form von Übung verstanden wird. Dieses Konzept der Askese bietet folglich eine unterschiedliche Bedeutung des Begriffs des ‚Selbst‘ an. Wenn das ‚Selbst‘ nicht als Substratum, sondern als Ergebnis einer Reihe von Praktiken, kreativen Handlungen und Übungen konzipiert wird, dann ist die Askese nicht eine Form der Selbstüberwindung, sondern eine Praxis der Konstitution des Selbst. Diese ‚asketische Subjektskonstruktion‘ kann variieren, je nachdem welche Übung man ausführt. Das Selbst ist demzufolge nicht mehr statisch zu verstehen, sondern befindet sich im ständigen und wechselnden Dialog mit den sozialen, politischen und intersubjektiven Impulsen.

Eine solche Form der Askese als (intersubjektiv offene) Selbstkonstitution wäre demzufolge mehr ein produktiver und dynamischer Prozess im Vergleich zu einer Askese, die als abstrakte Subjektüberwindung gedacht wird. (al)