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Nr. 2 / 2018
Guardini auf Rothenfels
LEBENDIG UND KONKRET

Die Tiefe der Endlichkeit. Schwermut bei Guardini, Kierkegaard und Nietzsche

Die ‚radikalanthropologische‘ Dimension der Schwermut

Romano Guardinis Essay „Vom Sinn der Schwermut“(1928) beginnt mit einem Satz wie ein Paukenschlag: „Die Schwermut ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als dass wir sie den Psychiatern überlassen dürften.“ (SM, 7) Das lässt, wie gesagt, aufhorchen. Zum Ohrenspitzen ist einerseits die Behauptung, mit der Schwermut betrete man sozusagen ‚radikalanthropologisches‘ Terrain (lat. radix: die Wurzel). Indem der Satz die Schmerzhaftigkeit der Schwermut betont, lässt das aufgerufene florale Bild, dem ersten Assoziationsimpuls entgegen, nicht an eine lebensspendende Kraft denken, sondern an Verderbliches. Schwermut erscheint hier gleichsam als Fäule, die, so sie in der Wurzel steckt, auf den ganzen von der Wurzel versorgten Organismus ausstrahlt; Schwermut würde dann Verenden, Absterben und Dahinsiechen bedeuten. So gesehen, rückt der Eröffnungssatz die (anti)vitalistische Seite der Schwermut ins Bild. Das ist aber nicht die einzig mögliche Lesart des Satzes. Ebenso gut kann er nämlich auf das hermeneutische Potenzial der Schwermut abheben, auf einen Möglichkeitsraum, der ausgeschöpft sein möchte. Auch in dieser Lesart macht die florale Metapher Sinn, wenn auch den umgekehrten: Jetzt geht es um die grundsätzliche Fruchtbarkeit und die tatsächliche Fruchtbarmachung der Schwermut. Dass sie bis an „die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab[reicht]“, ist dann als Einladung zu begreifen, gleichsam wie ein Geomantiker in den Eingeweiden der Erde liest, via Schwermut im ‚Wurzelwerk des Daseins‘ zu lesen. Die Schwermut, so die in diesem Fall leitende Überzeugung, ist dazu in der Lage, uns etwas über den Grund unserer Existenz zu verraten, wenn wir sie nur richtig zu befragen wissen. Dabei könnte es sich um Entscheidendes handeln – die Betonung der veritablen Tiefe des Hinabreichens und der außerordentlichen Schmerzhaftigkeit der Schwermut legt solche Erwartung nahe.[1] Denkt man in diese Richtung weiter, schließt sich eine Verständnismöglichkeit des zweiten Teiles des Satzes, demzufolge die Schwermut zu schmerzlich sei, als dass man sie den Psychiatern überlassen dürfe, unmittelbar an. Es scheint, als befürchte Guardini, dass die Schwermut zwar bedeutende Erkenntnisse über den Menschen in Aussicht stellt, Erkenntnisse, die sozusagen freigelegt werden wollen, dass diese Erkenntnisse den Psychiatern aber aus bestimmten Gründen verborgen bleiben müssen. Demgemäß wäre es fatal, die Schwermut den Psychiatern zu überlassen bzw. es wäre zumindest ein Fehler, sie ihnen allein zu überlassen. Das hätte nämlich zur Folge, das an und für sich nicht notwendige Schweigen der Schwermut über die Gründe des menschlichen Daseins zu besiegeln. Tatsächlich benennt Guardini an späteren Stellen seines Essays auch den Grund für die (behauptete) psychiatrische Betriebsblindheit. Wer die Bedeutung der Schwermut „für den Menschen, für das Werden von Werk und Persongestalt“ ermessen wolle, komme auf „psychologisch-medizinisch[em]“ Wege nicht weiter, sondern allein „geistig-deutend“ (ebd., 23). Zwar wüssten „Mediziner und Psychologen […] viel Treffendes über die Ursachen und die innere Struktur der Schwermut zu sagen“; allein es komme dabei „oft etwas so Banales heraus, dass man es mit der Tiefe und Erlebnisgewalt gar nicht mehr zusammenbringt, die eigentlich in jenem Erfahren liegt. Was sie zu sagen wissen, ist eben die Lehre von gewissen unteren Strukturgrundlagen und nicht mehr. Der eigentliche Sinn erschließt sich nur aus dem Geistigen.“ (ebd., 48) Indem der Eröffnungssatz die hermeneutische Kompetenz der medizinischen Psychologie[2] bestreitet, und das in einer Angelegenheit von nicht zu überschätzender Relevanz, eignet ihm freilich nicht nur der Charakter eines Paukenschlags, sondern zudem der eines Fehdehandschuhs. Endlich meine ich ihn auch als adhortativ gestimmte Rüge derjenigen ‚Disziplinen‘ auffassen zu dürfen, die ‚von Hause aus‘ für geistige Deutungen zuständig sind: Gerügt werden sonach vorzüglich Philosophie und Theologie und zwar dafür, das Feld in Sachen Schwermut gegenüber der am wissenschaftlichen Paradigma der Naturwissenschaften orientierten medizinischen Psychologie allzu bereitwillig geräumt zu haben. Der Preis dieses Rückzugs ist insofern hoch, als dadurch zum einen, wie gesagt, ein möglicher Erkenntnisgewinn ausgelassen und die Schwermut zum anderen pathologisiert wird. Sie erscheint nur mehr als etwas, was nicht sein soll, als unerwünschte Negativität, als eine Störung des Positiven, als etwas, was das ‚Funktionieren‘ eines Menschen verhindert. Dahingegen begreift Guardini die Schwermut weniger als ein Problem, das (auf)gelöst werden muss, denn als ein Phänomen, d.h. als etwas, an dem sich etwas zeigt,[3] das aber einer geistigen Deutung bedarf, damit tatsächlich auch gesehen werde, was sich da an ihm zeigt.[4] Guardini will die Schwermut also verstehen, statt sie zu behandeln, wobei nicht auszuschließen ist, sondern vielleicht sogar erhofft werden darf, dass sich mit dem Verstehen zugleich eine Art (therapeutisches) Behandeln vollzieht. Gelingt es nämlich, das Phänomen in seiner (nicht nur für den schwermütigen Menschen, sondern) für den Menschen (als solchen) fundamentalen Bedeutung zu begreifen, löst sich zwar nicht, wie auf Knopfdruck, sogleich der Schmerz der Schwermut in Wohlgefallen auf, doch es eröffnet sich „die innere Fülle ihrer Potenz“ (Guardini 2017a, 23). Dann zeigt sich, dass die Schwermut einen Sinn hat; und dieser Sinn korreliert mit ihrer Schmerzhaftigkeit: Der Intensität des Schmerzes entspricht die Tiefe des Sinns. Und endlich wirkt der entdeckte bzw. begriffene Sinn wiederum als Balsam auf den Schmerz zurück.[5]

 

Hinab in die Schwermut: eine düstere Seelenreise mit Sören Kierkegaard

Für Guardini ist die Schwermut nicht bloß irgendeine Stimmung aus dem bunten Repertoire möglichen menschlichen Gestimmtseins. Er sieht in ihr vielmehr einen Kristallisationspunkt menschlicher Existenz: „Und zwar glaube ich, dass wir […] die Schwermut als etwas verstehen müssen, in welchem der kritische Punkt unserer menschlichen Situation überhaupt deutlich wird.“ (SM, 23) Wenn Guardini mit dieser Einschätzung richtig liegt, ja wenn er damit auch nur nicht völlig neben der Spur liegt, ist die geistige Ergründung der Schwermut obligatorisch. Allerdings verlangt die Untersuchung eines existenziell so einschneidenden Phänomens eine besondere Herangehensweise. Zuerst muss die Schwermut, soweit das vermittels eines Textes überhaupt möglich ist, durchmessen bzw. muss ihr reicher phänomenaler Gehalt ermessen werden – denn alle Theorie der Schwermut bleibt unweigerlich grau, solange nicht zuvor „empfunden werde, worum es sich handelt“ (ebd., 7). Zwar benötigt Guardini selbst keine Einführung in die infrage stehende ‚dunkle‘ Materie, trug er doch „von Kind auf ein Erbe der Schwermut von der Mutter her“ in sich, weswegen er immer wieder gezwungen war, durch das mal allmählich, mal jäh in ihm aufsteigende „Grundwasser der Schwermut“ zu waten. Mitunter geriet er dabei auch ins Schwimmen, wenn in ihm nämlich die Schwermut derart aufbrandete, dass ihm das Wasser schließlich bis zum Hals stand, sodass er „zu versinken glaubte, und der Gedanke, mit dem Leben Schluss zu machen, [ihm] sehr nahe war“ (Guardini 1985, 77). In „Vom Sinn der Schwermut“ spricht also ein Eingeweihter.[6] Den Löwenanteil der Schwermutspropädeutik überlässt er mit Sören Kierkegaard gleichwohl einem anderen Leidgeprüften und unfreiwilligem Sachkundigen.[7] Vermittels sorgfältig ausgewählter autobiographischer Passagen aus Kierkegaards Feder eröffnet Guardinis Essay vor den Augen der Leserinnen und Leser ein regelrechtes Panorama der Schwermut; mit jeder gelesenen Seite taucht man tiefer ein in ihr trübes Wasser, ohne jedoch – und das ist ein wichtiger Punkt – darin zu ertrinken. Mir scheint, es ist die morbide Schönheit der Kierkegaard’schen Sätze, die uns davor bewahrt, beim Lesen selbst mit Gemütsverfinsterung geschlagen zu werden. Deutlicher noch als bei Guardinis Textauswahl wird das in Kierkegaards „Diapsalmata“ aus dem ersten (einem A genannten Ästhetiker zugeschriebenen) Teil von Entweder Oder. Die „Diapsalmata ad se ipsum“ sind formvollendet geschliffene Aphorismen, in denen die Schwermut beredt wird. Dabei thematisiert gleich der erste Aphorismus das eigentümliche Verhältnis von Schönheit und Schmerz am Beispiel (nicht eines, sondern) des Dichters: „Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen birgt in seinem Herzen, aber seine Lippen sind so gebildet, dass, derweilen Seufzen und Schreien über sie hinströmt, es tönt gleich einer schönen Musik.“ (EO I, 19) Dieser schöne Klang umhüllt nun wie ein antiseptischer Film die ‚Sendung‘ der niedergeschriebenen Worte und schützt infolgedessen die lesend empfangende Seele vor einer ‚Infektion‘ mit Schwermut. Zwar kann eine Schwermutsübertragung selbst unter diesen Umständen nicht zu einhundert Prozent ausgeschlossen werden – in der Regel erfüllt die Schönheit aber ihre apothekarische Funktion. Statt also die Schwermut des Dichters zu fürchten oder mit ihm zu leiden, wünscht man ihm lieber weitere Qualen an den Hals, solange er dadurch nur fortfährt, so schön zu singen (vgl. ebd.). Wie dem aber auch sei, die schmerzgesättigte Schönheit vermittelt schon jetzt eine Ahnung vom theoretisch erst noch zu ermittelnden Sinn der Schwermut. Der Schlüssel zu diesem Sinn ist die paradoxe Erfahrung, zugleich vor ein alle Vitalität absorbierendes Nichts und eine beinahe schon überreiche Fülle gestellt zu sein. Bei Kierkegaard eskortieren die schmerzhafte Erfahrung der inneren Leere zahllose schöne Worte wie (Schutz-)Engel, die ihre Fittiche über dem Abgrund der Schwermut ausbreiten, um das melancholische Selbst vor einem Absturz zu bewahren.[8]

Nachdem wir nun mit Kierkegaard die Galerie der Schwermut durchquert haben, lässt sich eine erste Bilanz ziehen: Die Schwermut ist zutiefst ambigue; sie ist zudem ein dialektisches Phänomen, in dem sich auf eigentümliche Art und Weise die Fülle und die Leere, das Nichts und nicht etwa nur irgendein Etwas, sondern das Alles berühren.[9] Man sieht leicht ein: Bei der Schwermut handelt es sich um etwas schwer Verdauliches. Sie fordert radikal heraus und überfordert allzu leicht.

 

Im Tal der Schwermut

Zwar lässt sich an Kierkegaards Beispiel zeigen, wie die Schwermut zur Schönheit reizen kann. Allerdings ist der dialektische Umschlag des Trübsinns in den streckenweise beinahe vergnüglichen Tiefsinn, wie er sich in Kierkegaards Schreiben vollzieht, keine Selbstverständlichkeit. Dass Schwermut in Kreativität und Produktivität mündet, ist eine Möglichkeit, deren Realisierung davon abhängt, ob es der betroffenen Person gelingt, das emotionale Tal zu durchschreiten, das sich in der Schwermut vor ihr ausbreitet. Schwierig ist diese Aufgabe vor allem aufgrund der besonderen Atmosphäre, die – um im Bild zu bleiben – im Tal der Schwermut herrscht. Hier regiert die Gravitation mit bleierner Hand, sodass jeder einzelne Schritt wie ein Marathonlauf anmutet. In der Schwermut versiegt die (schöpferische) Kraft des Menschen. Lust- und Antriebslosigkeit beherrschen das psychische Geschehen. Die Entschlusskraft des Menschen schwindet. So werden ihm die Tage zur Qual, während die Schlafenszeit als jener Zeitraum, in dem man von allem Entscheiden- und Leistenmüssen dispensiert ist, sein Refugium bildet: „Wenn ich morgens aufstehe“, vermerkt Kierkegaards Ästhetiker, „gehe ich gleich wieder ins Bett. Am wohlsten befinde ich mich des Abends, in dem Augenblick, da ich das Licht lösche, die Decke über den Kopf ziehe.“ An anderer Stelle bekennt A seine fundamentale Unlust: „Ich mag schlechterdings nichts. Ich mag nicht reiten, das ist eine zu starke Bewegung; ich mag nicht gehen, das ist zu anstrengend; ich mag mich nicht hinlegen, denn entweder müsste ich liegenbleiben, und das mag ich nicht, oder ich müsste wieder aufstehen und das mag ich auch nicht. Summa summarum: ich mag schlechterdings nichts.“ (Kierkegaard EO I, 27, 20) Insofern von nichts bekanntlich nichts kommt, erlebt ein derart schwermütiger Mensch sein Leben als Stillstand. Auch verliert er zusehends den Zugriff darauf. Es entgleitet ihm. Zudem schwindet im grauen Einerlei des gleichsam ungelebten Lebens die Intensität jeglichen Erlebens. Nur das Empfinden des Daseins als Last und das damit verschwisterte Gefühl existenzieller Ohnmacht blühen im Klima der Schwermut auf.

Das alles gehört zur destruktiven Seite der Schwermut. In einer vielzitierten Passage seines Schwermut-Essays hat Guardini sie empathisch beschrieben: „Sein Name sagt Schwer-Mut. Schwere des Gemüts. Eine Last liegt auf dem Menschen, die ihn niederdrückt, dass er in sich zusammensinkt; dass die Spannung der Glieder und Organe nachlässt; dass Sinne, Triebe, Vorstellungen, Gedanken erlahmen; der Wille schlaff, Drang und Lust zu Werk und Kampf matt werden. Eine innere Fessel legt sich vom Gemüt her auf alles, was sonst frei entspringt, sich rührt und wirkt. Die Spannfrische des Entschlusses, die Kraft der klaren und scharfen Umreißung, der mutige Griff der Formung – das alles wird müde, gleichgültig. Der Mensch meistert das Leben nicht mehr. Er kommt im drängenden Voran nicht mehr mit. Die Ereignisse knäueln sich um ihn; er sieht nicht mehr durch. Mit einem Erlebnis wird er nicht mehr fertig. Die Aufgabe türmt sich vor ihm wie ein Berg, unübersteiglich.“ (SM, 24) Das Zerstörerische der Schwermut ist mit dem Verweis auf die lebensfeindliche Niedergeschlagenheit noch nicht zureichend beschrieben. Aus Guardinis Worten geht hervor, dass die Schwermut darüber hinaus als eine besondere Art von Gefangenschaft verstanden werden muss, darin sich der Mensch als in sich selbst eingesperrt erfährt; es erscheint ihm unmöglich, sich frei zu entfalten. Noch besser trifft die Sache ein anderes Bild, das Nietzsche gezeichnet hat und dessen präzise Phänomengerechtigkeit Guardini nicht entgangen ist: „Aus solchem Erleben heraus hat Nietzsche den Geist der Schwere als den Dämon schlechthin bezeichnet.“ (Ebd.) Dieser schlechthinnige Dämon ist Nietzsches Version des Descart’schen Genius malignus; es ist der teuflische[10] „genius gravitationis“, jener Geist, „durch den alle Wesen und Dinge — fallen“ (N 1882-1884, KSA 10, 3 [1], 58). In einem besonders düsteren Kapitel von Also sprach Zarathustra sitzt er in Gestalt eines unheimlichen Zwerges auf der Schulter des eigenwilligen Weisen und träufelt ihm fortwährend „Bleichtropfen-Gedanken“ ins „Hirn“, während Zarathustra sich entsprechend mühsam („düster und hart, mit gepressten Lippen“) durch eine betont karge Landschaft schleppt (vgl. Z III, KSA 4, 198). Im Übrigen gibt es einen feinen Unterschied zwischen Descartes’ Genius malignus und Nietzsches Genius gravitationis. Letzterer ist nämlich keine äußerliche Macht, sondern steigt vielmehr aus dem eigenen Inneren auf. Demnach mag der schwermütige Mensch zwar klaustrophobisch empfinden, wenn er sich wünscht, aus dem Tal der Schwermut zu entfliehen; insgeheim leidet er aber an einer besonders raffinierten Variante von Klaustrophilie, indem er seinem inneren Dämon die Schlüssel zum eigenen Selbst überreicht, woraufhin dieser die Tür von innen verschließt. Es ist dies ein Punkt, auf den auch Kierkegaard den Finger legt, wenn er betont, dass der verzweifelte Mensch sich im Trotz in sich selbst einschließt; und ebenso wie Nietzsche beschwört auch Kierkegaard angesichts dieses psychologischen Phänomens Dämonen herauf, wenn auch nur in Gestalt und Funktion deskriptiver Metaphern.[11]

 

Nietzsche: eingeklemmt zwischen Schwermut und Hochmut

Nietzsches Zarathustra ist derweil mehr als eine antichristliche Bibel der Schwermut. Es handelt sich auch um ein – freilich immer noch antichristliches – Buch der Hochstimmung.[12] Für Guardini ist diese Polarität der Stimmungen im Zarathustra weder ein Bruch noch eine Überraschung, sondern, vor dem Hintergrund bestimmter psychologischer Voraussetzungen, durchaus folgerichtig: „Daraus [aus dem Erleben der Schwermut – EB] ist das Sehnsuchtsbild jenes Menschen entstanden, ‚der tanzen kann‘. Das Gefühl der Leichtigkeit; Kraft zu schweben, zu steigen sei letzter Wert.“ (SM, 24f.) Guardini konstatiert bei Nietzsche also eine Psycho-Logik, der eine psychische Bewegung von unten nach oben korrespondiert: Aus tiefer Depression entspringt hohe Aspiration. Dabei zieht es Nietzsche gar in übermenschliche Höhen, er hyperaspiriert also gleichsam, was für Guardini Ausdruck einer Hybris ist, auf die nichts anderes folgen kann als existenzieller Katzenjammer. So wäre Zarathustra nicht der Fürsprecher jenes Kreises der ewigen Wiederkehr, durch welche idealerweise die Endlichkeit in eine emphatisch bejahte Ewigkeit transformiert würde, sondern der versehentliche Inaugurator eines ganz anderen Kreises, nämlich desjenigen des Nihilismus, der sich im fatalen Dreiklang aus Schwermut, Hochmut und erneuter Schwermut immer wieder neu konstituiert.

Guardini sieht in Nietzsches philosophischer Konzeption des Übermenschen einen Eros am Werk, der sozusagen übers Ziel hinaus geflogen ist. Den psychologischen Horizont, vor dem Nietzsches daimon[13]seine Flügel ausbreitet, um zum Höhenflug anzusetzen, formuliert Zarathustra selbst: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein. Also gibt es keine Götter.“ (Z II, KSA 4, 110) Götter – Zarathustra scheint hier einerseits an den griechischen Götterkosmos zu denken und andererseits eine polemische Gelegenheitsbreitseite auf den Monotheismus abzufeuern – werden hier offenbar als Konkurrenz des Menschen gefasst oder auch als eine Projektionsfläche, vor der die ontologische Konstitution des Menschen defizitär erscheinen muss. Zarathustras Worte legen folgendes Szenario nahe: Der Mensch vergleicht sich mit den Göttern und muss im Zuge dessen erschüttert feststellen, dass es da eine differentia specifica von schneidender Schärfe gibt. Es öffnet sich vor seinen Augen ein ontologischer Konstitutionsabgrund, auf dessen einer Seite mit den Göttern die athánatoi im strahlenden Glanz der Ewigkeit stehen, während von der anderen Seite die Menschen, die thánatoi, in ihren irdischen Lumpenhüllen neidisch herüberblicken. Im Licht dieser Differenz erscheint Endlichkeit als (schlechthinniger) Makel. Kein Gott zu sein, ist daher unerträglich, es sei denn, dass es in Wirklichkeit gar keine Götter gibt. Was im ersten Augenblick klingt wie eine – formallogisch zu beanstandende – Konklusion: „Also gibt es keine Götter“, erweist sich bei genauerer Betrachtung eher als eine Art exorzistischer Bannspruch, mit dem Zarathustra versucht, sich alle Götter vom Hals zu halten. Der Satz besagt, dass es angesichts akut drohender Existenzunerträglichkeit keine Götter geben dürfe und dass, was nicht sein dürfe, eben auch nicht sei, und damit basta: Also sprach Zarathustra! Da sich jedoch die Realität nur wenig um menschliche Befindlichkeiten schert und die Götter mindestens in der menschlichen Imagination existieren, mündet Nietzsches ‚Götterbannsatz‘ nicht in eine Philosophie der Bescheidung, sondern in den vehementen Versuch, die als sehnsuchtsweckender Phantomschmerz überaus reale Transzendenz via Übermensch in die Immanenz hineinzuholen. Weil die göttliche Transzendenz in Nietzsches Philosophie ausgedient hat, appelliert er an das Transzendenzverhalten des Menschen, d.h. an dessen Kraft, sich immer wieder selbst zu überwinden bzw. sich ständig neu zu entwerfen.[14] Das aber setzt die Bejahung des eigenen Untergangs als Voraussetzung eines neuen Aufgangs voraus, eine Bewegung, in der sich der Mensch bereitwillig selbst aufs Spiel setzt. Als ein derart riskanter Spieler und Selbstexperimentator findet der Mensch Zarathustras Beifall: „Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. Ich liebe die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.“ (Z I, KSA 4, 16f.) Im Bestreben, den Gottesverlust zu verwinden, operiert Nietzsches Philosophie der Endlichkeit an der gefährlichen Schwelle zur Verausgabung. In Guardinis Augen oszilliert sie beständig zwischen Schwermut und Hochmut. Zwar würde Guardini Nietzsche ohne zu zögern zubilligen, tiefer in das Dunkel der Schwermut zu blicken als die in „Vom Sinn der Schwermut“ kritisierten Psychiater, doch ist er überzeugt, dass Nietzsches Blick, wenn man so will, auf einem Auge trübe ist, sodass ihm gerade das Wesentliche entgeht: die Verwiesenheit des Endlichen auf das Unendliche in einem positiven Sinne.

 

Von der Tiefe der Endlichkeit

In bester nietzsche’anischer Tradition begreift Guardini die Schwermut als „Zusammenhang mit den dunklen Gründen des Seins“, wobei er ‚dunkel‘ streng von ‚finster‘ unterschieden wissen will: „‚Dunkel‘ bedeutet hier keine Abwertung. Nicht den Gegensatz zum guten und schönen Licht […], sondern den lebendigen Gegenwert zum Lichte. Finsternis ist böse; etwas Negatives. Das Dunkel aber gehört zum Licht, und beide zusammen bilden das Geheimnis des Eigentlichen. Nach diesem Dunkel hin verlangt die Schwermut; wissend, dass aus ihm die hellen gegenwärtigen Gestalten auftauchen.“ (SM, 42) So ist die Schwermut nicht bloß jene Gemütsverfassung, unter deren Einfluss dem Menschen die Welt wie tot erscheint, sondern „die selbe Schwermut ist es, aus der das Dionysische bricht“. Darum auch unterhalte (ausgerechnet) der schwermütige Mensch die wohl „tiefste Beziehung zur Fülle des Daseins. Ihm leuchtet heller die Farbigkeit der Welt; ihm tönt inniger die Süße des inneren Klanges.“ (Ebd., 43) Wer aber so empfindet, kann der Endlichkeit kaum mit Gelassenheit begegnen. Gerade dem Schwermütigen wird sie zu einem dringlichen Problem.[15] Sein innerer Dionysos empfindet sie als persönlichen Affront, ja geradezu als ein Sakrileg. „Eins! Oh Mensch! Gieb Acht! Zwei! Was spricht die tiefe Mitternacht? Drei! ‚Ich schlief, ich schlief –, Vier! ‚Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – Fünf! ‚Die Welt ist tief, Sechs! ‚Und tiefer als der Tag gedacht. Sieben! ‚Tief ist ihr Weh –, Acht! ‚Lust – tiefer noch als Herzeleid: Neun! ‚Weh spricht: Vergeh! Zehn!‚Doch alle Lust will Ewigkeit –, Elf! ‚– will tiefe, tiefe Ewigkeit! Zwölf!“ (Z III, KSA 4, 285f.) In Zarathustras anderem Tanzlied ergreift die tiefe Mitternacht das Wort. Es spricht also jenes Dunkel, das nicht Finsternis ist, und es bespricht das Dilemma der Schwermut. Angesprochen wird der Mensch: Er soll Acht geben, denn in der Mitternachtslektion geht es eigentlich um ihn. Es geht um das Drama, das sich in seinem Inneren abspielt, auf einer Bühne, auf der Vergänglichkeit und Ewigkeit unweigerlich zusammenstoßen. Darin ist sich Guardini mit Nietzsche einig: Es ist dies, wie gesagt, „der kritische Punkt unserer menschlichen Situation überhaupt“ (SM, 23), weil es sich um den Schmerzpunkt unseres menschlichen Daseins handelt, um jenen Punkt, an dem der Mensch besonders verletzlich ist, jener Punkt, der chronisch wund ist, an dem der Mensch innerlich auseinanderzudriften droht. Das haben nicht nur Nietzsche und Guardini, sondern hat auch Kierkegaard erkannt, der den Menschen als Synthese auseinanderstrebender Momente begreift, die (immer wieder) zusammengeführt werden müssen: „Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthesis. Eine Synthesis ist ein Verhältnis zwischen Zweien. Auf diese Art betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst.“ (KT, 8) Ein Selbst ist der Mensch erst dann, wenn er „konkret“ (ebd., 26) wird; und konkret zu werden heißt, mit sich selbst zusammenzuwachsen (von lat. concrescere), bedeutet also das (immer nur temporär mögliche) Verheilen der Wunde, die in der eigenen ontologischen Struktur klafft. In der Schwermut meldet sich diese Wunde. Sie wird lokalisierbar und damit auch interpretierbar. Durch ihre geistige Deutung wird verständlich, was in der Schwermut vor sich geht, was Schwermut wesentlich ist: „Das aber bringt uns an das Wertzentrum der Schwermut heran: in ihrem letzten Wesen ist sie Sehnsucht nach Liebe. […] Die Herzkraft der Schwermut ist der Eros; das Verlangen nach Liebe und Schönheit.“ (SM, 44) Dabei geht der schwermütige Eros aufs Ganze, er „verlangt danach, dem Absoluten zu begegnen, aber als Liebe und Schönheit“ (ebd., 46). Das alles spielt sich indes vor dem Hintergrund schmerzhaft erfahrener Endlichkeit ab, sodass sich schließlich folgendes Bild der Schwermut ergibt: „[D]as Verlangen nach der Fülle des Wertes und des Lebens, nach der unendlichen Schönheit, im Tiefsten verbunden mit dem Gefühl der Vergänglichkeit, der Versäumnis, des Verlorenhabens, mit der unstillbaren Wehmut und Trauer und Ruhelosigkeit, die da kommt – das ist Schwermut.“ (Ebd., 47) Während für Nietzsche „der Glaube an Gott […] nicht mehr zu halten ist“ (N 1886-1887 5[71], 212) und darüber hinaus verhindert, dass wir Menschen endlich wieder „gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken“ (MA II, KSA 2, 551), liegt der Sinn der Schwermut für Guardini darin, auf eine Nachbarschaft hinzuweisen, bei der unendliche Ferne und unüberbietbare Nähe konvergieren: „Ich glaube, über alle medizinische und pädagogische Betrachtung hinaus hat sie [die Schwermut, E.B.] einen […] Sinn: sie ist Anzeichen, dass es das Absolute gibt. Die Unendlichkeit bezeugt sich im Herzen. Die Schwermut ist Ausdruck dafür, dass wir begrenzte Wesen sind, […] dass wir Wand an Wand mit Gott leben. Dass wir angerufen sind durch Gott; aufgerufen, ihn in unser Dasein aufzunehmen.“ (SM, 50) Der Schmerz der Schwermut verweist auf ein freudiges Ereignis, das freilich erst noch vollbracht werden will: „Die Schwermut ist die Not der Geburt des Ewigen im Menschen.“ (Ebd.)

Sowohl für Nietzsche als auch für Kierkegaard und Guardini ist die Annahme unserer selbst die Lösung der Aufgabe, vor die uns die Schwermut stellt – und zwar die Annahme unserer selbst als endliche Wesen. Auch darin sind sie sich einig: Bei dieser Aufgabe handelt es sich nicht bloß um irgendeine Aufgabe neben anderen, sondern um die Aufgabe par excellence. Wie diese Aufgabe zu lösen sei, das ist der kritische Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Gleichviel, für welche Seite man nun selbst votiert, eines scheint sich nach alledem jedenfalls nicht mehr von der Hand weisen zu lassen: Die Schwermut ist ein zu schmerzhaftes und zu tief an die Wurzeln des menschlichen Daseins hinab reichendes Phänomen, als dass sie die Philosophie und die Theologie nicht weiter in Atem halten sollte.

 

 

Literatur

Eike Brock, Nietzsche und der Nihilismus, Berlin/München/Boston 2015.

Romano Guardini, Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen, Düsseldorf, 3. Aufl.,  1985 (=1985a).

Romano Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, Mainz, 3. Aufl., 1985 (=1985b).

Romano Guardini, Engel. Theologische Betrachtungen, Kevelaer 1995.

Romano Guardini, Die religiöse Offenheit der Gegenwart, Paderborn 2008.

Romano Guardini, Vom Sinn der Schwermut, Kevelaer, 12. Aufl., 2017 (= SM).

Romano Guardini, Theologische Briefe an einen Freund. Einsichten an der Grenze des Lebens, Ostfildern/Paderborn, 2. Aufl., 2017 (= 2017a).

Romano Guardini, Die Annahme seines selbst. Den Menschen erkennt nur, wer von Gott weiß, Kevelaer, 11. Aufl., 2017 (= 2017b).

Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 19. Aufl., 2006.

Sören Kierkegaard, Entweder Oder. Erster Teil. Band 1, Gesammelte Werke, hrsg. v. E. Hirsch und H. Gerdes, 1. Abt., Gütersloh, 3. Aufl., 1993 (= EO I).

Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Gesammelte Werke, hrsg. v. E. Hirsch und H. Gerdes, 24./25. Abt., Gütersloh, 3. Aufl., 1985 (= KT), 1-134.

Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (= KSA), hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/New York, 2. Aufl., 1988 (= GM, MA, N, Z).

Platon, Das Gastmahl, Stuttgart 1979 (= Symp.)

Hans Saner, „Melancholie und Leichtsinn. Grenzstimmungen der Vernunft“, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 149/5 (1998), 229-235.



[1] Nebenbei bemerkt, unterstreicht gerade die Hervorhebung der Schmerzhaftigkeit die Plausibilität der hermeneutischen Lesart, sind Erkenntnisse, allzumal Selbsterkenntnisse doch, wie man aus Erfahrung weiß, leider oft schmerzlich. Mit Hans Saner (1998, 229) kann man gar davon ausgehen, dass jeder Erkenntnis ein gewisses Quantum Schmerz beigemischt ist – dies sei die Wurzel der „eher kognitiven“ Melancholie, die Saner von einer „eher sentimentalen“ Melancholie unterscheidet –, und zwar aus strukturellen Gründen. Über die strukturelle Verquickung von Schmerz und Erkenntnis erklärt sich Saner auch die ins Auge fallende Häufung melancholischer Fälle innerhalb der Philosophenzunft: „Auffällig ist übrigens in diesem Zusammenhang wie viele Philosophen in der Geschichte des Denkens zur Melancholie neigten. Vielleicht liegt der Grund darin, dass alles Erkennen, unabhängig davon, ob es in eine letzte Negation führt, in sich einen negativen Charakter hat.Es beruht immer auf Bestimmung und Unterscheidung. Ein alter Satz der Logik heißt: ‚Omnis determinatio est negatio‘ (‚Alle Bestimmung ist Negation‘.).“ (Ebd., 230) Die hermeneutische und die (anti-)vitalistische Lesart widersprechen sich derweil keineswegs. Dementsprechend plädiere ich statt eines Entweder-Oders der vorgeschlagenen Lesarten für ein Sowohl-als-auch.

[2] Guardinis Bemerkungen über die Psychiatrie, medizinische Psychologie und die Psychoanalyse wirken mitunter etwas sorglos, insofern sie mangels begrifflicher Trennschärfe riskieren, nicht Gleiches über einen Kamm zu scheren. Im Übrigen übt er bspw. an der Psychoanalyse nicht bloß Kritik (zur Kritik vgl. ebd., 33f.), sondern greift teilweise auch einige ihrer Überlegungen auf: etwa Sigmund Freuds – innerhalb der psychoanalytischen Zunft wiederum heftig umstrittene – Vorstellung, dass das Leben „von einem Paar widerspruchsvoll gestellter Grundwerte beherrscht [werde]: dem, da zu sein; sich zu behaupten; sich zu entfalten; aufzusteigen – und dem anderen, sich aufzuheben, unterzugehen“ (ebd., 29), mithin die Freud’sche Lehre von Eros und Thanatos (vgl. Freuds späte Schrift Jenseits des Lustprinzips). Ebenso stimmt er mit Freud (vgl. dessen Aufsatz „Trauer und Melancholie“) darin überein, dass zur „schwermütigen Seele“ der Trieb gehöre, „sich selbst zu quälen“ (ebd., 30). Und endlich spricht Guardini affirmativ von einer „Psychologie des Schwermütigen“ (ebd., 34), wobei er eben eine Seelenlehre meint, deren Basis eine geistige Deutung ist.

[3] Vgl. Heidegger (2006), § 7, darin er im Ausgang einer etymologischen Untersuchung zu dem Ergebnis kommt: „Als Bedeutung des Ausdrucks ‚Phänomen‘ ist daher festzuhalten: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare.“ (Ebd., 28)

[4] Im Rahmen von Guardinis Zeitdiagnose könnte man auch sagen, es werden überall nur noch zu lösende Probleme gesehen anstatt „Geheimnisse“ (vgl. Guardini 2017a, 42f.), die allerdings nicht zwangsläufig preisgegeben, sondern mitunter auch gewahrt werden wollen. Bei der Schwermut verhält es sich, wie wir noch sehen werden, aber so: Sie ist ein Phänomen, das, sofern verstanden, auf ein Geheimnis hinweist.

[5] Gemäß Nietzsches Einsicht, „[w]as eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens“ (GM III, KSA 5, 409), stellt sich mit dem Auffinden des Sinns eine Linderung des Leids ein.

[6] Ich vermute, nebenbei bemerkt, dass das ‚wir‘ in Guardinis Mahnung, die Schwermut sei zu schmerzlich und in anthropologischer Hinsicht zu bedeutsam, als dass „wir [Hervorh., E.B.] sie den Psychiatern überlassen dürften“ (SM, 7), nicht nur rhetorischer Natur ist (eine einschließende Anrede) oder uns Theologen und Philosophen bzw. geistigen Deuter meint, sondern dass sich Guardini im Wir nicht zuletzt an seine Leidensgenossen und -genossinnen richtet. Gemeint sind also: wir Schwermütigen.

[7] Für die Wahl Kierkegaards als ‚Medium‘ der Schwermut spricht, dass „er tief in der Schwermut gestanden hat“, dass sie in ihm „nicht nur eine Macht war, die in sein Denken und Handeln hineinwirkte; ein innerer Ton der durch seine ganze Existenz hindurchschwang – sondern der sie über all das hinaus mit Bewusstsein auf sich genommen hat, als Ausgangspunkt für seine sittliche Aufgabe, als Ebene für sein religiöses Ringen […]“ (ebd., 7).

[8] ‚Engelhaft‘ sind diese Worte insofern, als das schwermütige Selbst mit ihrer Hilfe gegen den in der Schwermut drohenden Stimmverlust anzukämpfen weiß. Wenn nämlich im schwermütigen Stimmungstief jede Differenzierung lästig wird, weil alles gleich-gültig und daher gleichgültig zu sein scheint („Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides. […] Hänge dich auf, du wirst es bereuen, hänge dich nicht auf, du wirst es gleichfalls bereuen; hänge dich auf oder hänge dich nicht auf, du wirst beides bereuen; entweder du hängst dich auf oder du hängst dich nicht auf, du wirst beides bereuen. Dies […] ist aller Lebensweisheit Inbegriff.“ [EO I, 41f.]), macht es am Ende auch keinen Unterschied mehr, was man sagt, oder ob man überhaupt noch etwas sagt. Alle Begriffe werden austauschbar, belanglos: „Mein Leben ist völlig sinnlos. Wenn ich seine verschiedenen Epochen betrachte, so geht es mit meinem Leben wie mit dem deutschen Wort ‚Schnur‘ im Lexikon, welches einmal eine Kordel und sodann eine Schwiegertochter bedeutet. Es fehlt bloß, dass das Wort Schnur drittens ein Kamel bedeutete und viertens einen Staubbesen.“ (Ebd., 38) Engelhaft ist an den Worten nun, dass sie kraft der Differenzierung vor der Diffusion des Selbst in die schwermütige Unterscheidungslosigkeit bewahren (sogar im zitierten Aphorismus, der die Differenzierung noch hochhält, indem er sie infrage stellt). Ebendarin erfüllt sich aber die wesentliche Aufgabe eines Engels, die laut Guardini darin besteht, „Hüter“ eines jeweils individuellen Selbst zu sein (vgl. Guardini 1995, 61).

[9] Die Eigentümlichkeit der Begegnung lässt sich meines Erachtens als Gegensatz im Sinne von Guardinis Gegensatz-Lehre beschreiben: „Die Tatsache wechselseitiger Ausschließung und Einschließung zugleich ist der Gegensatz. […] Das ist der Gegensatz: dass zwei Momente, deren jedes unableitbar, unüberführbar, unvermischbar in sich steht, doch unablöslich miteinander verbunden sind; ja gedacht nur werden können an und durch einander.“ (Guardini 1985b, 45f.)

[10] Vgl. Z I, KSA 4, 49: „Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere, — durch ihn fallen alle Dinge.“

[11] Als dämonisch bezeichnet Kierkegaard alias Anti-Climacus in Die Krankheit zum Tode jenen Zustand, in dem ein Selbst sich in seinen eigenen Schmerz einschließt, indem es auf diesem Schmerz beharrt, so als handelte es sich um den Kern seiner Identität. Schmerz und Leid werden hier als Auszeichnungen genommen: „O, dämonischer Wahnsinn, am allermeisten rast er bei dem Gedanken, dass es der Ewigkeit in den Sinn kommen möchte, sein Elend von ihm zu nehmen.“ (KT, 73) Freilich kann man sich derart dämonisch auch in seine Schwermut verlieben. Darauf weist, nicht ohne Spott, einmal mehr A hin: „ Ich sage von meinem Kummer, was der Engländer von seinem Hause sagt: mein Kummer ist meine Burg (is my castle). Viele Menschen sehen es für eine der Schicklichkeiten des Lebens an, Kummer zu haben.“ (EO I, 22)

[12] Dieser Zusammenhang lädt natürlich dazu ein, es als manisches Buch zu betrachten, wobei dieser Befund meines Erachtens nicht unbedingt gegen das Buch sprechen muss.

[13] Vgl. Platon, Symp. 202e: „Was also wäre der Eros? […] Ein großer Dämon […].“

[14] Vgl. dazu ausführlicher Brock 2015, 341-351, v.a. 346.

[15] Das gilt umso mehr, wenn der Glaube an eine das Endliche tragende höhere Macht schwindet. Guardini 2008, 55, hat das klar gesehen: „In der Philosophie Nietzsches ist etwas offenbar geworden und durchgebrochen, das für die neuzeitliche Situation nicht nur des Denkens, sondern des ganzen Menschen von größter Bedeutung ist: die Endlichkeit als solche wird dringlich.“ Eine weitere Folge dieser Entwicklung ist die Ausbreitung der Angst als „das Selbsterlebnis des endlichen Seins als solchen, das sich durch das Nichts bedrängt fühlt“, wobei dies laut Guardini (2017b, 23) weniger bei Nietzsche als in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts (v.a. bei Heidegger) offenbar wird (vgl. ebd.).