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Nr. 2 / 2018
Guardini auf Rothenfels
LEBENDIG UND KONKRET

Wer denkt konkret?

«Nostre vie est composée, comme l’armonie du monde, de choses contraires.» (Montaigne, Essais III, xiii, S. 1089, Villey)

 

Im Jahre 1925, kurz nach seiner Berufung auf den eigens für ihn 1923 errichteten „Lehrstuhl für Religionsphilosophie und katholische Weltanschauung“ an der Berliner Universität, veröffentlichte Romano Guardini in Mainz seine kleine Schrift: Der Gegensatz. Auch wenn ihr bei weitem kein ähnlicher Publikumserfolg wie der Aufsatzsammlung Der Geist der Liturgie (1918), die im selben Jahr wie Rudolf Ottos Das Heilige erschien, beschieden war, hielt Guardini hartnäckig daran fest, dass dieses Büchlein beanspruchte, eine philosophische Programmschrift zu sein.

 

Unterwegs zum „Lebendig-Konkreten“

Der Untertitel des 1955 noch zu Lebzeiten des Autors wiederveröffentlichten Büchleins verdeutlicht dessen Zielsetzung: Es ist der Versuch einer Begründung einer Philosophie des Lebendig-Konkreten.

Vor dem Hintergrund der Modernismuskrise[1] und der lehramtlichen Verurteilung der vitalistischen Tendenzen der Gegenwartsphilosophie durch die Enzyklika Pascendi Dominici Gregis (1907) war es für einen katholischen Philosophen und Theologen wie Guardini alles andere als selbstverständlich, sich mit dem heißen Eisen der „Lebensphilosophie“ zu befassen, umso weniger als er selbst die Konsequenzen dieser lehramtlichen Entscheidung am Entzug der Lehrbefugnis seines Tübinger Professors Wilhelm Koch verfolgen konnte.

Dass er sich dennoch an dieses Thema heranwagte, zeugt nicht nur von seinem intellektuellen Wagemut. Es ist zugleich der Schwerpunkt und gemeinsame Nenner seiner philosophischen Interessen, die seinen zahlreichen Schriften und Vorlesungen zugrunde liegen.

Vom Sinn der Schwermut (1928), eine Stimmung, die Guardini zeitlebens überschattete, Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Søren Kierkegaards (1927), Dantes Göttliche Komödie (1931), Die religiöse Existenz in Dostojewskis großen Romanen (1933), Rilkes Duineser Elegien (1941), Hölderlins Hymnen (1939), Blaise Pascal (1935), Der Tod des Sokrates (1943), Die Bekehrung des Aurelius Augustinus (1935), Welt und Person (1939), Das Ende der Neuzeit (1950), in dem Guardini einige Thesen der „postmodernen“ Philosophie antizipierte, Die Macht (1951), Die Lebensalter (1953): Trotz ihrer Unterschiedlichkeit kann jede dieser Veröffentlichungen als ein Versuch gelesen werden, die Leitidee der Philosophie des Lebendig-Konkreten zu konkretisieren.

Guardini geht es nicht um den vieldeutigen und schillernden Begriff des Konkreten überhaupt, sondern um das „Lebendig-Konkrete“, eine Wortverbindung, die spezifische Schwierigkeiten nach sich zieht.

Wenn wir das Konkrete als das Handgreifliche oder vor Augen Liegende verstehen, dann lässt das Lebendige sich schwerlich mittels dieser Kategorien erfassen. Wie der französische Phänomenologe Michel Henry unermüdlich betont, entzieht das Lebendige sich wesensmäßig dem Bereich der Sichtbarkeit. Es ist kein Gegenstand und keine Tatsache in der Welt, sondern ein Urphänomen, das nur aufgrund seiner eigenen, immanenten Gesetzlichkeit verstanden werden kann, was schon Meister Eckhart in einer seiner Predigten andeutete: „Wer das Leben fragte tausende Jahre lang: ‚Warum lebst du?‘ – könnte es antworten, es spräche nichts anderes als: ‚Ich lebe darum, dass ich lebe.‘ Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grund lebt und aus seinem Eigenen quillt; darum lebt es ohne Warum eben darin, dass es sich für selbst lebt.“ (Meister Eckhart 2008, 71)

Guardini zufolge ist das Leben alles andere als ein friedlich dahinströmender Fluss. Es ähnelt eher einem stürmischen Gebirgsbach, der sich mühsam sein Bett im felsigen Gelände bahnen muss, und dessen Untiefen, Wirbel, Strömungen und Gegenströmungen uns ein anschauliches Bild dessen, was der Begriff „Gegensatz“ bezeichnet, vermitteln.

 

Lebendige Gegenwendigkeiten

In seinem Gedicht „Der Teppich“ evoziert Stefan George die „Gegenwendigkeit“ der verschlungenen Motive eines Webteppichs, die sich für den Betrachter erst allmählich zu einem einheitlichen „Gebilde“ zusammenfügen:

 

Und teil um teil ist wirr und gegenwendig

Und keiner ahnt das rätsel der verstrickten.

Da eines abends wird das werk lebendig.

(George 1968, 190)

 

Es ist diese „Gegenwendigkeit“, die ein Wesensmerkmal des Lebens ist, die Guardini im Rückgriff auf den Begriff „Gegensatz“ verständlich zu machen versucht.

Die unterschiedlichen Übersetzungen des Terminus: „oppositione polare“ (italienisch), „contraste“ (spanisch), „opposition“ (englisch), polarité“ (französisch) sind ein Indiz für die Interpretationsprobleme, die er aufwirft. Wie bei jeder Übersetzung eines philosophischen Textes in eine andere Sprache muss der Übersetzer die rechte Balance zwischen den Zwängen der Umgangssprache und den Gegebenheiten der Begriffsgeschichte finden.

Schon auf den ersten Seiten macht Guardini deutlich, dass der Begriff „Gegensatz“ den Rahmen eines logisch-dialektischen Denkens sprengt. „Gegensatz“, „Kontrast“ und „Komplementarität“[2] sind sprachliche Hilfsmittel, derer wir bedürfen, um uns dem Lebendig-Konkreten zu nähern.

In begriffsgeschichtlicher Hinsicht ist Guardini bei weitem nicht der erste Autor, der sich mit dem Begriff des Gegensatzes beschäftigt. Abgesehen von Heraklit, den Marcel Conche als den „ersten Lebensphilosophen des Abendlands“ bezeichnet, widmet Aristoteles ihm eine ausführliche Betrachtung in seiner Kategorienschrift. Ihm verdankt Guardini vermutlich das Adjektiv „enantiologisch“, das er häufig mit anderen Substantiven verbindet, ohne freilich dessen Bedeutung zu präzisieren.

Enantios“ („gegensätzlich“) ist ein Schlüsselterminus des aristotelischen Traktates[3], den Aristoteles, wie immer bemüht, die mehrfachen Bedeutungen eines Terminus zu klären, im zehnten Kapitel auf vier Typen verteilt: das Entgegengesetzte (antikeimena) im Sinne der Relation („doppelt-halb“), die Kontrarietät (enantia) („schlecht-gut“), Besitz und Entbehrung (etwa: „sehend-blind“), sowie Bejahung und Verneinung („sitzend-nichtsitzend“) (11b 17). Es ist die zweite Wortbedeutung, der Guardini seine Aufmerksamkeit zuwendet.

Was den Unterschied der privativen Kontraste und den der eigentlichen Gegensätze betrifft, unterstreicht Aristoteles, dass der Umschlag des Besitzes in die Entbehrung unumkehrbar ist[4], während der Übergang von einem Pol zum anderen eines Gegensatzes graduell ist.[5] In dieser These spiegelt sich der Primat der Kosmologie im Denken des Aristoteles wider. Wir haben gute Gründe, uns zu fragen, ob sie sich genauso gut auf die ökonomischen und sozialen Phänomene applizieren lässt, die Guardini im Rückgriff auf die Idee des Gegensatzes verständlich zu machen versucht.

Eine Bemerkung des Aristoteles bezüglich der Kontrarietät des Quantitativen im räumlichen Bereich ist hilfreich, um eine der argumentativen Strategien zu verstehen, derer Guardini sich häufig bedient: Sei es direkt oder indirekt, „bestimmt man als konträr, was in derselben Gattung am weitesten voneinander absteht“[6]. Verständlich werden die Gegensätze erst, wenn man sie bis zu ihrer äußersten Grenze durchlaufen hat.

Genau dies tut Guardini, der sich in seiner Schrift immer wieder als Grenzgänger betätigt. Seines Erachtens zeigt sich, dass, sobald man auf eine unübersteigbare Grenze stößt, einer der beiden gegensätzlichen Pole auf den anderen zurückbezogen werden muss, um zu verhindern, dass der Gegensatz in einen Widerspruch umschlägt, was nicht nur eine Denkunmöglichkeit wäre, sondern auch das Leben unerträglich machen würde.

Von der altgriechischen Tragödie bis zu Kafkas Prozess liefert die Literatur uns unzählige Beispiele hierfür.

Um die Art und Weise zu verstehen, wie Guardini die elementaren Gegensätzlichkeiten in mehrfacher Weise miteinander verknüpft, wie die zusammenfassenden Diagramme andeuten, ist ferner die These des Aristoteles hilfreich, derzufolge alles Konträre notwendig „entweder in derselben Gattung oder in konträren Gattungen“ „oder selbst Gattung“ ist.

Ausgehend vom Adjektiv „enantios“ („konträr“) prägte Aristoteles das Substantiv „enantiotês“ („Kontrarietät“) (6b 15), das ins Lateinische mit „contrarietas“ übersetzt wurde und dem das Französische „contrariété“ entspricht.

Der Dictionnaire de la Langue et de la Culture Française unterscheidet drei Hauptbedeutungen des Terminus „contrariété“. Die erste geht direkt auf das lateinische „contrarietas“ zurück und entspricht genau dem Gebrauch, den Guardini vom Terminus „Gegensatz“ macht. Auch für ihn handelt es sich primär um die Unterscheidung von polaren Gegensätzen, die auf keine Widersprüche hinauslaufen.

Im heutigen Gebrauch des Wortes gewinnen dagegen zwei andere Bedeutungen die Oberhand. Einmal die des objektiven Widerstandes, der Schwierigkeit und des Hindernisses. Manchmal ähnelt das Leben einem Hindernislauf und stürmische Winde blasen uns ins Gesicht wie in Descartes’ Berufungstraum in der Nacht des Martinsfestes 1619.

Aus einer existentiellen und psychologischen Perspektive betrachtet, spiegelt sich die Erfahrung der Gegensätzlichkeit in den subjektiven Erfahrungen der Verärgerung, des Unmuts und der Enttäuschung und der Unlust wider.

Dass die Gegensätzlichkeit für Guardini nicht nur ein intellektuelles, sondern auch ein existentielles Thema war, bekundet seine Biographie.[7] Zeitlebens rang er, das einzige Mitglied seiner Familie, das nicht in sein Geburtsland Italien zurückkehrte, mit Konflikten und Spannungen, denen er sich mutig stellte, aber um den Preis der Schwermut. Die Frage, mit der das Aristoteles zugeschriebene Problem XXX, 1 anhebt: „Aus welchem Grunde sind alle außergewöhnlichen Menschen, im Bereich Philosophie, der Wissenschaft, des Staates, der Dichtung oder der Künste offensichtlich Melancholiker“? (Aristote, 1988, 953a 10), trifft auch auf Guardini zu.

In einer aufschlussreichen Fußnote betont er, dass der Gebrauch, den er vom Terminus „Gegensatz“ macht, sich mit dem deckt, was die Romantiker als „Polarität“ bezeichneten. Der überschwängliche Gebrauch, den romantische Schriftsteller und Denker von diesem Terminus machten, hat ihn Guardini zufolge freilich mit allzu vielen Nebenbedeutungen überfrachtet, weshalb er selbst den neutraleren, wenn auch abstrakteren Begriff der „Gegensätzlichkeit“ bevorzugte.

Ein gutes Beispiel für den „romantischen“ Begriff der Polarität liefert uns Schleiermachers Brief an Friedrich Jacobi vom 30. März 1818.[8] Seinen Freund, der sich darüber beklagte, dass er seinen Glauben nicht mit den Ansprüchen der kritischen Vernunft vereinbaren konnte, so dass er zwischen zwei Wassern hin und her gerissen war, die sich nicht vereinigen wollten, tröstete Schleiermacher mit dem Hinweis, dass die Oszillation die allgemeine Form jedes endlichen Daseins sei, dass aber die beiden Pole der Ellipse, zwischen denen sein Leben und sein Denken sich hin- und her bewegte, ein „schwebendes Gleichgewicht“ erzeugten, das den Reichtum seines Lebens ausmachte.

Schleiermacher weist den Verdacht, dass seine religiösen Überzeugungen ihn dazu verdammen, „mit dem Gefühl ein Christ“ und mit dem Verstand ein Ungläubiger zu sein, von sich, unter Verweis auf die Tatsache, dass sein christliches Gefühl sich sehr wohl in die Sprache der Vernunft „verdolmetschen“ lässt, so dass der Gegensatz von Verstand und Gefühl nicht in einen tödlichen Widerspruch mündet. Weil es aber keine prästabilisierte Harmonie zwischen den beiden Ebenen gibt, besteht die Aufgabe des Denkers darin, dieses „schwebende Gleichgewicht“ herzustellen.

Dieselbe schwierige Suche nach einem schwebenden Gleichgewicht der beiden Pole des Gegensatzes, ein Gleichgewicht, das auf keinen Fall mit einer „goldenen Mitte“ verwechselt werden darf, kennzeichnet auch Guardinis Denkstil, der vielleicht „romantischer“ war, als er selbst es zugeben wollte. Auch er schwamm mehr als einmal „zwischen zwei Wassern“, die sich nicht leicht miteinander vereinigen wollten, und er musste seine ganze Kraft einsetzen, um nicht von den stürmischen Fluten des Zeitgeistes verschlungen zu werden.

Schleiermachers Bild der „galvanischen Säule“, in der Verstand und Gefühl einander berühren und eine fruchtbare Spannung erzeugen, ohne sich gegenseitig zu neutralisieren, passt gut zu Guardinis Begriff des Gegensatzes, den man anhand vieler Gemälde Vassily Kandinskys illustrieren könnte[9], denen Michel Henry eine schöne phänomenologische Untersuchung gewidmet hat.[10]

Nicht von ungefähr verdient der Name dieses französischen Phänomenologen, dessen ganzes Lebenswerk um das Phänomen des Lebens kreist, in diesem Zusammenhang eine besondere Erwähnung. Auch wenn Guardinis Gegensatz-Denken die Aristotelische Kategorienlehre voraussetzt, übersteigt die Art und Weise, wie er seine „Enantiologie“ entwickelt, den formallogischen Rahmen des Aristotelischen Traktates, der eine Kritik an Platons Begriff der Teilnahme impliziert.

Um das Wagnis zu würdigen, das Guardini in seinem Entwurf einer Philosophie des Lebendig-Konkreten einging, muss man die damalige zeitgenössische und ideologische Konjunktur berücksichtigen, was früher oder später die Frage nach sich zieht, inwiefern sein Ansatz noch eine Verbindlichkeit für das heutige Denken hat.

Die wenigen Fußnoten des Buches lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass seine wichtigsten Gesprächspartner dem Lager der Lebensphilosophie und der spekulativen Biologie angehören, wie die Namen Georg Simmel, Hans Driesch und Jakob von Uexküll bezeugen, denen man ferner Henri Bergson, Georg Misch, Edmund Husserl und den frühen Martin Heidegger anfügen könnte.

In einer der ersten Fußnoten weist Guardini auf die Vieldeutigkeit des Begriffs „Leben“ hin, die Anlass zu zahlreichen Missverständnissen gibt. Ähnlich wie Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen, in denen er die Grundlinien seiner Hermeneutik des faktischen Lebens ausarbeitete[11], geht auch Guardini davon aus, dass sich die Mehrdeutigkeit des Lebens nicht mittels eines begrifflichen coup de force auflösen lässt, sondern ernstgenommen werden muss.

Das verlangt insbesondere einen vorsichtigen Umgang mit den Begriffen „Intuition“ und „Anschauung“, die Guardini häufig benutzt. „Intuition“ war bekanntlich auch ein Schlüsselterminus der Lebensphilosophie Bergsons, eine Philosophie des „élan vital“, den Stefan George emphatisch mit „Lebensschwungkraft“ übersetzte. Konkretes Denken, im Sinne Bergsons, ist nur vollziehbar, wenn man die Intuition gegen den analytischen, zerstückelnden Verstand ausspielt.

Bei Guardini dagegen ist dieser Terminus immer negativ besetzt. Eine Philosophie des Lebendig-Konkreten muss sich vor den Fallstricken eines schwärmerischen Intuitionismus hüten. Diese Vorsicht gilt nicht für den Terminus „Anschauung“, in dessen Bedeutung Max Scheler Guardini eingeweiht hatte.

Ein guter Beweis hierfür ist der Gebrauch, den Guardini in seinen Berliner Vorlesungen vom Begriff „Weltanschauung“ machte. Die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, in denen Guardini sein polares Verständnis des Lebens konzipierte, waren zugleich das goldene Zeitalter der auf Dilthey zurückgehenden Weltanschauungsphilosophie. Obwohl der Titel seines Berliner Lehrstuhls Guardini zwang, sich ausführlich mit den hieraus resultierenden Problemen und möglichen Aporien zu befassen, hütete er sich ebenso wie Husserl und der frühe Heidegger vor den Auswüchsen einer Typologie der Weltanschauungen, die Gefahr lief, die Singularität des Lebendig-Konkreten aus den Augen zu verlieren.

Anstatt sich in den goldenen Käfig einer besonderen Weltanschauung – sei diese auch mit dem Prädikat „katholisch“ ausgezeichnet – zu versperren, wie die extremen Kommunitarier das heute tun (auf die Gefahr hin, ihre Weltanschauung auf eine simplifizierende Ideologie zu reduzieren, die der Komplexität des wirklichen Lebens nicht gerecht wird), legt er den Akzent auf die aktiven, schöpferischen und erfinderischen Aspekte des „Weltanschauungsblicks“. Eine Weltanschauung ist kein Konglomerat beliebig aufgeraffter Vorstellungen, sondern eine bestimmte Art und Weise, die Welt in den Blick zu nehmen und zu interpretieren.

Was die „katholische Weltanschauung“ anbelangt, bedeutet das nichts anderes als den Versuch, die Welt mit den Augen Christi zu betrachten! Niemand kann sich damit brüsten, dass er dieser Blickweise gewachsen ist.

Wie andere katholische Intellektuelle seiner Generation, etwa Erich Przywara S.J., der Autor der Analogia entis (1932), verhielt Guardini sich wie ein Seiltänzer, der die Balance zwischen den von ihm herausgearbeiteten Gegensatzpolen zu finden trachtet. Im Gegensatz zu Przywara, was dieser ihm virulent ankreidete, weigert er sich indessen, die Analogia entis zum theologischen und metaphysischen Eckstein jeder katholischen Weltanschauung zu machen.

Sein ausgeprägtes Harmonie- und Symmetrie-Bedürfnis erklärt, warum sein Gegensatz-Denken wenig Platz für die Begriffe des „Konfliktes“ und des „Paradoxes“ im Sinne von Kierkegaard und von Karl Jaspers übrighat, weshalb auch in moralphilosophischer und gesellschaftstheoretischer Hinsicht der Begriff des Kompromisses in seinem Denken kaum eine Rolle spielt. In bibelhermeneutischer und theologischer Hinsicht ist ferner auffällig, dass in der Gegensatzschrift das Kreuz, das große Zeichen des Widerspruchs, ein Stein des Anstoßes für das „jüdische“ Verlangen nach Zeichen und Wundern, und ein Ärgernis für die „griechischen“ Weisheitssucher, nicht erwähnt wird.

Umso deutlicher hat Guardini die gewaltige Herausforderung erfasst, die der Begriff des „Lebendig-Konkreten“ an eine Erkenntnistheorie richtet, die der Frage: „Was kann ich wissen?“ den ersten Platz einräumt. Die neukantianischen Philosophen reagierten besonders allergisch auf die Lebensphilosophie, deren „Erlebnistrunkenboldigkeit“ in ihren Augen den kritischen Ansprüchen der Vernunft ausweicht. Von einer „Erlebnistrunkenboldigkeit“ ist in Guardinis Gegensatzschrift nichts spürbar, vermutlich weil die Papstenzyklika Pascendi Dominici Gregis ihn gegen die Auswüchse des Vitalismus, des Pragmatismus, des Intuitionismus und des Irrationalismus geimpft hatte.

Kann man aber Bergson und Kant, das anschauliche und das verstandesmäßige Denken miteinander versöhnen? Guardini zufolge kann eine solche Versöhnung nur im Zeichen des Gegensatz-Denkens stattfinden. Dass man sich dafür nicht mit einer bloßen, notgedrungen ins Unendliche fortführbaren Auflistung der verschiedenartigsten Gegensätze begnügen kann, steht fest. Aber auch der idealistische Systemgedanke ist den Ansprüchen des Lebendig-Konkreten nicht gewachsen. Guardini zufolge fügen die Gegensätze sich nur zu einem offenen und nicht zu einem geschlossenen System zusammen, ähnlich wie die mehrfachen Bedeutungen des Seienden bei Aristoteles.

Er selbst weist mehrfach darauf hin, dass sein eigenes Inventar der Gegensätze ergänzungsbedürftig ist. Worauf es ihm hauptsächlich ankommt, ist, dass man der Versuchung einer rein äußerlichen Verkopplung der Gegensatzpaare widersteht. Das verlangt, dass man mehrere Kombinationen der Gegensatzpaare ins Auge fasst, wie die nicht besonders einleuchtenden Diagramme am Ende des Buches andeuten.

Indem er die polare Grundstruktur des Lebendig-Konkreten hervorhebt, greift Guardini in gewisser Hinsicht auf eine alte Idee der Philosophie zurück, die bis auf Heraklit und Empedokles zurückreicht.

Auch wenn Heraklit das Adjektiv enantios nicht verwendet, liefert uns seine Auffassung der Einheit der Gegensätze einen vorzüglichen Vergleichspunkt für das Verständnis des Guardinischen Gegensatz-Denkens.

„Alle Dinge sind eins, selbst die gegensätzlichsten“, schreibt Hippolyt von Rom in seiner Widerlegung aller Häresien, unter Berufung auf Heraklits Fragment 50: „Habt ihr nicht mich, sondern meinen Logos vernommen, ist es weise zuzugestehen, dass alles eins ist“. Derselbe Kirchenvater zitiert ein anderes Fragment des Dunkeln aus Ephesus, der einen guten Vorspann für Guardinis „Enantologie“ abgeben könnte: „Sie verstehen nicht, wie es [das Eine] auseinanderstrebend ineinander geht: gegenstrebige Vereinigung wie beim Bogen und der Leier.“ (Fragment 51)

Es ist diese unterschwellige, unter dem Spiel der Gegensätze verborgene Harmonie des Lebens, die Guardini vor Augen schwebte, als er den seines Erachtens missverständlich gewordenen und abgenutzten Terminus „Polarität“ durch den weniger gebräuchlichen und neutralen Terminus „Gegensatz“ ersetzte.

Wäre das Leben nicht einfacher und verständlicher, wenn alle Verhältnisse sich auf eine Schwarz-Weiß-Alternative wie im klassischen Wildwestfilm zurückführen ließen, oder wenn es einförmig in der „Niederspannung“ verliefe, anstatt in der „Hochspannung“, bei der die Gefahr von Kurzschlüssen sich erhöht? Weil das Leben seine eigene Gesetzlichkeit befolgt, lässt es uns sehr selten die Wahl!

Von Guardini wie von Bergson kann man sagen, dass sie die uns am nächsten stehenden Fremden sind. Deshalb verdienen sie mehr als eine vage und unverbindliche Ehrbezeugung. Man leistet ihnen einen Bärendienst, wenn man die kritischen Fragen unterschlägt, die ihr Denken aufwirft.

Was Guardini anbelangt, handelt es sich um zwei Gruppen von Fragen.

Die erste entstammt dem Bereich der Phänomenologie: Können wir uns mit Guardinis verhältnismäßig vager Kennzeichnung des Phänomens „Leben“ begnügen, oder bedürfen wir einer weitaus präziseren Beschreibung, unter anderem in Auseinandersetzung mit der heutigen Biologie, von der man sich fragen kann, ob sie ihrem ursprünglichen Namen noch gerecht wird?

Eine zweite Gruppe von Fragen verweist auf das Gebiet der Metaphysik und der Ontologie: Ist der Begriff des Gegensatzes das „Sesam, öffne Dich“ einer Untersuchung über die mehrfachen Bedeutungen des Seienden?

Abgesehen von diesen Fragen, die über die Aktualität und die Inaktualität der Philosophie Guardinis entscheiden, kann man sich auch fragen, welche Vorstellung des philosophischen Lebens seinem Versuch zugrunde lag.

Die beste Antwort hierauf findet sich in der Einleitung von Guardinis Tod des Sokrates: Sokrates hat seinem Schüler Platon, und damit allen zukünftigen Philosophen, eine doppelte Aufgabe hinterlassen: die Wahrheitsfindung, aber auch die Notwendigkeit sich zu fragen, welche Art von Mensch die besten Chancen hat, die Wahrheit zu finden (Guardini 2013, 14).

Auch wenn kurz nach Guardinis Tod der Tsunami des Strukturalismus vom spiritualistischen Humanismus, den er verkörperte, nur Schutt übrig zu lassen schien, behält diese doppelte Herausforderung ihre Gültigkeit.

Rückblick: Abstraktionsverdacht und Metaphysikverdacht

Seit es die Philosophie gibt, ist sie abstraktionsverdächtig, ein Verdacht, der sich in unzähligen Vergleichen und anzüglichen Bildern niederschlägt.

1. Schon Aristophanes karikierte Sokrates in seiner Komödie Die Wolken als einen Wolkenwandler.[12] Der Bauer Strepsiades, der Sokrates in seiner Denkstube (Phrontisterion) aufsucht, erblickt ihn in einer in der Luft schwebenden Hängematte. Von dort aus belehrt Sokrates den Ratsuchenden darüber, dass die Wolken die Götter einer neuen Zeit sind, weil sie „die Gedanken, Ideen, Begriffe, die uns Dialektik verleihen und Logik und den Zauber des Wortes und den blauen Dunst, Übertölpelung, Floskeln und Blendwerk“, verkörpern.

2. Im Theaitetos illustriert Platon denselben Verdacht anhand einer Anekdote, die die Missgeschicke der philosophischen Spekulation an einem philosophischen Arbeitsunfall erläutert. Es ist die Geschichte des Naturphilosophen Thales von Milet, der, um die Sterne am Himmelszelt zu studieren, einen Brunnen übersah und in diesen stürzte. Angeblich soll „eine artige und witzige thrakische Magd“ ihn deshalb verspottet haben, weil sein himmelwärts gekehrter Blick ihn daran hinderte, das, was vor seinen Füßen lag, zu erkennen(Theaitetos, 174 a-f). In seiner Untersuchung: Das Lachen der Thrakerin ist Hans Blumenberg der Rezeptionsgeschichte derselben Anekdote von Aristoteles bis zu Heidegger nachgegangen (Blumenberg 1987).

Platons ausführlicher und hintergründiger Kommentar dieser Urszene unterstreicht deren grundsätzliche Tragweite: „Mit diesem nämlichen Spotte nun reichte man noch immer aus gegen Alle, welche in der Philosophie leben.“ Diejenigen, die sich mit ihrer ellenlangen Ahnenreihe brüsten, ohne sich je Gedanken darüber zu machen, wer sie sind, verdienen denselben Spott.

3. Auf den oftmals unter Berufung auf die Evidenzen des sogenannten „gesunden Menschenverstandes“ formulierten Verdacht, dass die Philosophie die „verkehrte Welt“ ist, und dass die Metaphysiker nur „Luftbaumeister“ sind, die die Grenzen des Erfahrbaren überschreiten, reagierte Hegel 1807 in einem in der Berliner Morgenpost veröffentlichten satirischen Aufsatz: „Wer denkt abstrakt?“[13], der Heidegger zufolge die beste Einführung in den deutschen Idealismus ist.

Von vorneherein notiert Hegel, dass „abstrakt“, „Metaphysik“ und „beinahe auch Denken“ Worte sind, vor denen „jeder mehr oder minder wie vor einem mit der Pest Behafteten davonläuft“. In Wirklichkeit versteckt die Abstraktion sich mehr als einmal unter der Maske des Konkreten.

Abstrakt denken etwa diejenigen, die in einem „Mörder nichts als dies Abstrakte, dass er ein Mörder ist (...) sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm vertilgen“. Abstrakt denkt und redet auch die Marktfrau, die auf den Einwand einer Käuferin, dass ihre Eier faul seien, damit reagiert, dass sie das Prädikat „faul“ gegen diese selbst wendet, und ihre ganze Person, einschließlich ihrer Sippschaft, als „faul“ beschimpft. Abstrakt verhält sich der Herr, der seinen Diener auf seine Dienstbotenfunktion reduziert, oder der preußische Offizier, der im gemeinen Soldaten nichts als „das Abstraktum eines prügelbaren Subjekts“ erblickt. Im Endeffekt läuft das sture Pochen auf Konkretheit auf völlige Gedankenlosigkeit hinaus.

Hegels satirische Bemerkungen dürfen uns nicht daran hindern, uns zu fragen, ob bestimmte Abstraktionen nicht in ein Trauerspiel münden. Denken wir etwa an die Migrantenkrise und die Unfähigkeit der europäischen Politiker, sich diesem Problem zu stellen. Die populistischen Politiker, die heute in Europa Wind in den Segeln haben, denken „abstrakt“ (vorausgesetzt, dass sie überhaupt denken!), weil für sie das Wort „Abstraktion“ nur eine einzige Bedeutung haben kann, nämlich „Schließung der Grenzen“. Dass diese „Ausgrenzung“ selbst ein Akt des Abstrahierens ist, ignorieren sie geflissentlich.

4. Hegels eindringliche Warnung vor einer künstlichen Entgegensetzung von „konkretem“ und „abstraktem“ Denken behält ihre Gültigkeit, auch wenn Verstehen und Begreifen nicht immer so nahtlos ineinander übergehen, wie das Hegels Theorie des Begriffs und des absoluten Wissens voraussetzt.

Nicht alle Wege des Denkens, das Walter Benjamin zufolge „durch die Eiswüste der Abstraktion hindurch“ muss, „um zu konkretem Philosophieren bündig zu gelangen“[14], führen über Hegels Theorie des absoluten Geistes.

Einen guten Beleg hierfür liefert uns Franz Rosenzweigs Aufsatz: „Das neue Denken“, in dem er die Grundgedanken seines Sterns der Erlösung, ein Buch, das „nicht für den Tagesgebrauch eines Mitglieds jeder Familie bestimmt ist“ (Rosenzweig 1984, 140), erläutert. Dieser 1925, also im selben Jahr wie Guardinis Gegensatz erschienene Aufsatz ist ein eindringliches Plädoyer für eine „erfahrende Philosophie“ (423), die einzige, die bündig zu konkretem Philosophieren gelangt, weil sie Gott, Mensch und Welt als ungegenständliche und nicht auf einander rückführbare Urgegebenheiten berücksichtigt. Der empiristische Erfahrungsbegriff ist abstrakt, weil er die Tatsache übersieht, dass die Erfahrung nichts von Gegenständen weiß: „sie erinnert sich, sie erlebt, sie hofft und fürchtet.“ (435).

Konkret ist das neue Denken auch, insofern es sich nicht scheut, sich im Dienst eines besseren Verstehens des Hilfsmittels des Erzählens zu bedienen.

Konkret ist es ferner, weil es die Zeitlichkeit ernstnimmt und uns auf diese Weise das „Verstehen zur rechten Zeit“ lehrt. Konkret ist es schließlich, weil es die „Methode des Denkens“ durch die „Methode des Sprechens“ ersetzt und sich auf diese Weise in ein „Sprachdenken“ verwandelt: „[N]atürlich ist auch das neue, das sprechende Denken ein Denken, so gut wie das alte, das denkende Denken nicht ohne inneres Sprechen geschah; der Unterschied zwischen altem und neuem, logischem und grammatischem Denken liegt nicht in laut und leise, sondern im Bedürfen des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit“ (440).

Letzten Endes ist der Prüfstein der Konkretheit eines solchen Denkens die Fähigkeit, die theologischen Probleme ins Menschliche zu übersetzen, und die menschlichen bis ins Theologische vorzutreiben, ein Anspruch, der mühelos auf die Kennzeichnung von Guardinis Denkstil übertragen werden kann.

 

Ausblick: heutige Landschaften des Lebendig-Konkreten

„Heute geht es um folgendes: Die Wirklichkeit wird uns wieder sichtbar, nachdem wir lange in Formeln gelebt. Die Welt der Qualitäten, Gestalten und Geschehnisse. Die Welt des Dinges. Und alles kommt darauf an, dass wir den Dingen ganz offen stehen; sie sehen, spüren, ergreifen. Alles kommt darauf an, dass wir wirklich der Welt begegnen im Erkennen, im Werten und Entscheiden, im Handeln und Schaffen [...] Mir scheint, die ganz tief begriffene Gegensatzidee könnte das wirken. Sie bedeutet kein geschlossenes System, sondern ein Aufgetansein der Augen und eine innere Richtung im lebendigen Sein. Sie macht, dass die Wirklichkeit uns Raum wird und Fülle von Gestalten, in die wir hinausschreiten können, ohne uns zu verlieren.“ (Guardini 1998, 182)

Behält dieses philosophische Glaubensbekenntnis, mit dem Guardinis Gegensatz endigt, noch eine Gültigkeit für unser eigenes Heute? Anfang der dreißiger Jahre publizierte der französische Philosoph Jean Wahl seine Studien über die zeitgenössische Philosophie unter dem Titel: Vers le concret („Unterwegs zum Konkreten“)[15], der Jean-Paul Sartre zufolge der Wahlspruch einer neuen Generation von Philosophen war. Der Weg zum Lebendig-Konkreten ist bei weitem keine Einbahnstraße! Diesbezüglich verdienen mindestens drei Entwicklungslinien eine besondere Aufmerksamkeit.

Die erste ist die der Existenzphilosophie, die einem Philosophieverständnis entspricht, dessen Leitworte Karl Jaspers zufolge „Weltorientierung“, „Existenzerhellung“ und „Entzifferung der Chiffren der Transzendenz“ sind.

Die zweite ist die der Heideggerschen Daseinsanalytik. „Lebendig-konkret“ ist das Dasein, insofern es ihm in all seinen authentischen (Befindlichkeit, Verstehen, Rede, Sorge, Angst, Sein-zum-Tode, Gewissensruf, Geschichtlichkeit, usw.), bzw. inauthentischen Existenzvollzügen (Gerede, Neugier, Zweideutigkeit, Verfallen) um sein Sein selbst geht. Der Einwand, dass diese „Existentialien“ ihrerseits abstrakte Strukturen sind, die durch eine konkretere Anthropologie ergänzt werden müssen, wird dem Ansatz der Daseinsanalytik nicht gerecht. Weitaus stichhaltiger ist die Frage, ob eine Analytik der Sorge der einzig mögliche Schlüssel für die Interpretation des menschlichen In-der-Welt-seins ist.

Die dritte, besonders vielsprechende Linie ist die der Husserlschen Phänomenologie, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts insbesondere in Frankreich eine neue, bis heute andauernde Renaissance erlebte. Das Lebendig-Konkrete ist das umfassende Erfahrungsfeld des Bewusstseins, das es uns ermöglicht, ohne Rückgriff auf einen abstrakten, den empirischen Wissenschaften entlehnten und deshalb verkürzten Erfahrungsbegriff uns den „Sachen selbst“, nämlich den ursprünglichen Gegebenheiten des Bewusstseins, zuzuwenden.

Diesbezüglich stellt sich eine erste, fundamentale Frage: Bedeutet „Bewusstsein“ letzten Endes soviel wie „Intentionalität“, wie Husserl und viele seiner Schüler voraussetzen, oder ist der letzte Grund aller Bewusstseinserfahrungen die Selbstaffektion des Lebens, wie Michel Henrys „materiale Phänomenologie“ postuliert?

Im ersten Fall lautet das entscheidende Stichwort Husserls, Heideggers und Merleau-Pontys: „Lebenswelt“[16]. Weil das Leben immer „weltlich gesäumt“ (Heidegger 1993, 157) bzw. „weltlich gestimmt“ (250) ist und deshalb „lebensweltwärts verläuft“ (66), lässt sich der Begriff „Lebenswelt“ nicht zweiteilen: das „Leben“ einerseits, die „Welt“ anderseits.

Angenommen, dass „Lebenswelt“ in der Tat ein Grundwort der Phänomenologie ist, dann eröffnet es einen großen Spielraum für die nähere Interpretation des „Lebendig-Konkreten“, je nach dem Urphänomen, an dem man die Interpretation festmacht: das vom Anderen Angeblicktwerden als konkreter Ausgangspunkt einer philosophischen Ethik, die sich als „Erste Philosophie“ versteht, die Leiblichkeit (Merleau-Ponty), Gegebenheit und Ereignishaftigkeit (Jean-Luc Marion und Claude Romano) usw.

Wie unterschiedlich sich auch die von diesen Autoren vertretenen Auffassungen des Lebendig-Konkreten darstellen, kann man doch auf alle die von Guardini als Beleg für die phänomenologische Einstellung zitierten Verse aus Goethes Xenien anwenden:

 

Was ist das Schwerste von allem?

Was Dir das Leichteste dünket:

Mit den Augen zu sehn,

was vor den Augen dir lieget.“

 

 

Literatur

Aristote, L’homme de génie et la Mélancolie (Problèmes XXXI, 1), trad. Jackie Pigeaud, Paris, Rivages poche, 1988.

H. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt/M., Suhrkamp, 1987.

Meister Eckhart, Predigt 5 B, in: Meister Eckhart, Predigten, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/M., 2008.

Stefan George, Werke. Ausgabe in 2 Bänden, Düsseldorf/München, Küpper, 1968.

M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe, Bd. 58, Frankfurt a.M., Vittorio Klostermann,1993.

R. Guardini, Der Tod des Sokrates. Eine Interpretation der platonischen Schriften Euthyphorn, Apologie, Kriton und Phaidon, Kevelaer 8 topos taschenbücher 2013.

R. Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, Mainz, Grünewald-Verlag, 1998.

F. Rosenzweig, „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung“, in: Zweistromland, G.W. Bd. 3, Dordrecht, Martinus Nijhoff Publishers, 1984, 139-161.



[1] Zu den philosophischen Auswirkungen der Modernismuskrise siehe: Pierre Colin, L’audace et le soupçon. La crise du modernisme français 1893-1914, Paris, DDB, 1997.

[2] In Guardinis erkenntnistheoretischen Überlegungen spielt Werner Heisenbergs Bestimmung des Begriffs der Komplementarität noch keine Rolle, im Gegensatz zu Oskar Beckers Untersuchung über Größe und Grenze der Mathematik, Freiburg/München, 1959.

[3] Das Glossar der von Fréderique Ildefonse und Jean Lallot herausgegebenen zweisprachigen Edition: Aristote, Catégories, Paris, Ed. du Seuil, 2002, 179-184, verzeichnet 96 Vorkommnisse des Terminus.

[4] „Wer erblindet ist, sieht nicht wieder, wer kahlköpfig ist, wird nicht wieder behaart, und wer zahnlos ist, bekommt keine Zähne mehr.“ (Ebd., 13a)

[5] Ebd., 13a 17.

[6] ta pleiston allèlôn diestêkota (Ebd., 6a 17).

[7] Einschlägig dazu: Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Romano Guardini 1885-1968. Leben und Werk, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 1995.

[8] Schleiermacher an Jacobi, 30. März 1818, hg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Quellenband, hg. v. Werner Jaeschke, Hamburg, 1994, 395.

[9] Jede Erscheinung kann auf zwei Arten erlebt werden. Diese zwei Arten sind nicht willkürlich, sondern mit den Erscheinungen verbunden – sie werden aus der Natur der Erscheinungen herausgeleitet, aus zwei Eigenschaften derselben: Äußeres-Inneres.“ (Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zur Fläche, Leipzig, Hesse und Becker, 1926, 11.)

[10] Michel Henry, Voir l’invisible. Sur Kandinsky, Paris, PUF, 2005.

[11] Vgl. dazu: Jean Greisch, L’arbre de vie et l’arbre du savoir. Les racines phénoménologiques de l’herméneutique heideggérienne, Paris, Ed. du Cerf, 2000.

[12] Die Wolken, übers. von Otto Seel, Ditzingen, Reclam, 1981; Platon, Apologie 19c. Vgl. hierzu: Martha Nussbaum, „Socrates and Aristophanes on learning practical wisdom“, in: Yale Classical Studies, 26 (1982), 43-97.

[13] Georg Friedrich Wilhelm Hegel, „Wer denkt abstrakt?“, in: Theorie Werkausgabe, Bd. 2, Frankfurt/M., 575-581. Vgl. hierzu: Andreas Arndt, „Wer denkt abstrakt? Konkrete Allgemeinheit bei Hegel“ in: Konkrete Psychologie. Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt. Hg. v. Gerd Jüttemann und Wolfgang Mack, Lengerich u.a., Pabst Science Publishers 2010, 127–137.

[14] Zitiert von Theodor Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M., 1966, 7.

[15] Jean Wahl, Vers le concret. Etudes d’histoire de la philosophie contemporaine, Paris, Ed. Vrin, 1932.

[16] Zu diesem Themenkomplex siehe u.a.: Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Frankfurt, Suhrkamp, 2010; Claude Romano, Au cœur de la raison, la phénoménologie, Paris, Gallimard, 2010, Kapitel 23, 907-946; Carl-Friedrich Gethmann (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft. Deutsches Jahrbuch für Philosophie 2, Hamburg, F. Meiner, 2010.