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Nr. 2 / 2018
Buchempfehlung

Die Technik und der Mensch. Briefe vom Comer See

Der Priester Romano Guardini gilt als einer der bedeutendsten Religionsphilosophen katholischer Prägung des letzten Jahrhunderts. Er bezieht seine geistesgeschichtliche Bedeutung aus seiner christlich-existenziellen Interpretation kirchlicher und weltlicher philosophischer Perspektiven, sowie aus der Widerlegung der nationalsozialistischen Ideologie in seinen Schriften. Einen wichtigen Fokuspunkt in seinen Arbeiten stellt das Verhältnis von Natur, Kultur und Technik dar, dem er sich seit den 1920er Jahren regelmäßig widmete. In der Publikation „Die Technik und der Mensch“ wurden Guardinis bereits 1925/26 veröffentlichte literarische Briefe erstmalig als Buch herausgegeben. In diesen ‚Briefen vom Comer See‘ finden sich seine durch die Unterschiede des lombardischen und des deutschen Naturverhältnisses inspirierten Betrachtungen zur modernen Technik und ihrer Folgen für die Lebenswelt des Menschen.

Romano Guardinis an einen ‚lieben Freund‘ gerichtete Briefe entfalten ihre Kritik der Technik zunächst aus einer literarisch-philosophischen Naturbetrachtung, die den grundlegenden Antrieb des Menschen, auf Natur einzuwirken, als organisches Verhältnis mit einschließt. Dieses grundlegende Naturverhältnis des Menschen, der die Natur in einfacher Weise in Jahrtausende zurückgehender Bearbeitung in eine „menschlich durchwohnte Natur“ umgeformt und in einer natürlichen Menschlichkeit bewohnt habe, sieht Guardini in zunehmendem Maße durch die moderne Bau- und Lebensweise bedroht und zerstört: er „sieht die Maschine in ein Land einbrechen, dass bisher nur Kultur gehabt“ (Brief 1, 14). In Guardinis Kritik am technischen Fortschritt, den er vom Norden her sich über das südliche Europa ausbreiten sieht, unterscheidet er zunächst die Sphäre der Kultur von jener der ersten (tierischen) Natur: In jener könne der Mensch nicht sein, da menschliches Sein geistdurchwirkt sei und so notwendigerweise die Sphäre des Naturhaft-Wirklichen durch jene des Unwirklich-Ideellen (des Bewusstseins) „verdünnt“ und in Frage gestellt werde. In dieser „Entwirklichung der Natur“ entsteht Kultur als ein von der Natur entfremdetes, künstliches Produkt des Geistes, das mit dieser und ihren Phänomenen jedoch nahe und elastisch verbunden bleibt. So trennt der Autor die Naturbearbeitung, in welcher der Mensch in enger Verbundenheit mit den Gewalten der Natur und damit in lebendigem Verhältnis mit ihnen bleibt, von jener, in der der Mensch sich unempfindlich und taub für ihre Erscheinungen macht. Mit dieser Entfernung von der Sphäre des Urmenschlichen, in der die prometheische Größe und Unfassbarkeit vorgeistlicher Natur noch erfahrbar war, nimmt sich der Mensch das Phänomen einer lebendigen Kultur selbst wieder: So lindert der Fortschritt zwar die Armut der Bevölkerung, präsentiert sich jedoch gleichermaßen als unausweichliche Notwendigkeit, die jede Facette der Lebensweise durchdringt und die das Menschsein vom Fluss der natürlichen Phänomene abtrennt.

Nach Guardinis Lesart kommt also das menschliche Dasein ohne Kultur und Bewusstheit nicht aus. Diese kann jedoch nur mit einem Opfer an lebendiger, nächster Wirklichkeit erkauft werden und bannt den Menschen in die „Sphäre der Stellvertretungen“ der zweiten, abstrakt-unwirklichen Ordnung (Brief 3, 29). Dieses Abstrakte, Begriffliche der Kultur setzt der Autor aber nun nicht gleich mit „Geist“. Geist wird vielmehr in seiner konkreten, wie auch in seiner lebendig-allgemeinen Dimension verstanden: als etwas grundlegend Lebendiges und Konkretes, das immer eingewoben bleibt und gleichzeitig aufgeht in einem Gesamtzusammenhang der Wirkung und Werdung. Guardini trennt damit das abstrakt-begriffliche und technische Denken von einem unbewusst-lebendigen, die Seele schützenden Zugang zur Welt. Er schreibt: „alles Leben muss sich in einem Unbewußten gründen, und von dort her ins Bewusst-Helle hinaufsteigen“ (Brief 4, 38) – denn unser Tun, das fortlaufend unterbrochen wird von Selbstreflexion, benötigt eine zuversichtliche, tragende Bewegung als ihr Fundament.

Guardinis Verständnis eines Ganzen, das aus vielfältig miteinander verbundenen Teilen hervorgeht, ohne in ihnen aufzugehen, kehrt in seiner Diagnose über die politischen und sozialen Herausforderungen seiner Zeit wieder. Diese bestünden darin, die „Kräfte, Wirklichkeiten und Ordnungen“ (Brief 5, 42) sowie ihre Verhältnisse zueinander zu überschauen, um in den Gesellschaften wesensgerechtere Verhältnisse und ein neues Bewusstsein von Verbundenheit zu schaffen. Daran anschließend setzt der Autor zwei Arten des Erkennens. Ein ordnendes, in Besitz nehmendes, ehrfurchtsloses Erkennen trennt er von jenem Zugang, der einen milderen, kontemplativen Zugriff auf seinen Gegenstand im Sinne einer Versenkung sucht, ohne dessen Wesen zu zergliedern. Die erstere erscheint Guardini wie Willkür, die sich keinen Bindungen und keiner lebendig-wirklichen Kraft mehr bewusst ist, und nach deren Logik die zweckgerichtete Rationalität, die fortschreitende Technisierung und Massenproduktion, sowie die Beherrschung des lebendigen Menschen seiner Zeit funktionieren: „Maschine ist Formel aus Eisen, auf einen bestimmten Zweck gerichtet“; „was wird, wenn es [das Leben] in die grelle Bewußtheit rationaler Formeln; in die Gewalt technischen Zwanges gerät?“ (Brief 6, 50, 52).

Guardini erkennt den Ausgangspunkt der spezifischen Schaffensweise und Erkenntnisschöpfung seiner Zeit als die „isolierte, rational erfaßte und durch die Maschine […] wirksam gewordene Naturkraft“, die nun nicht mehr vom lebendig-organischen Bestand des Menschen bestimmt wird, sondern aus der rationalen, mechanisch gewendeten Eigengesetzlichkeit bestimmter Naturkräfte heraus neue „un-menschliche“ Maßstäbe und Ordnungen setzt (Brief 8, 71-72). Er thematisiert diese neuen Denkweisen und Ordnungen ebenfalls als Geschehen, das von subjektiven, individuellen Vorgängen nicht abzutrennen ist, und das vor allem durch die Heimatlosigkeit und das Chaos gekennzeichnet bleibt, welche im Zerfall der alten Ordnungen entstehen und durch die nachkommende aufgrund ihres Mangels an menschlicher Kultur nicht aufgefangen werden können . Und doch, oder gerade deswegen formuliert er ein entschiedenes Ja zum Werdenden als geschichtlichem Geschehen, das es mit Bewusstsein für seine zerstörerischen und unmenschlichen Momente umzuformen gelte: „Was wir brauchen ist nicht weniger Technik, sondern mehr. […] Eine stärkere, besonnenere, ‚menschlichere‘ Technik“ (Brief 9, 80), die an tieferen Sinn- und Bezugspunkten menschlichen Seins anzusetzen vermag.

Die Comer Briefe erscheinen aus der heutigen Sicht wie eine romantisch-literarische Betrachtung, die in ihrer Kulturkritik ihrer eigenen Zeit notwendig verpflichtet bleibt. Doch veranschaulichen die Briefe, die das literarische Gegenstück zu Guardinis ebenfalls in der Publikation abgedrucktem Vortrag „Die Maschine und der Mensch“ bilden, nachdrücklich den Bruch mit einem sich unmittelbarer eröffnenden Weltzugang im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hin zur großen Industrie. Durch die Linse ihrer technischen Kultur wird Natur vor allem in ihrer (Un-)Beherrschbarkeit und (Un-)Gestaltbarkeit thematisierbar. In dieser Kultur identifiziert Guardini neue Gefahren des Vernichtungskrieges und der massenkulturellen Beeinflussung des Menschen und plädiert für ein Ethos, das die Wirkung der Maschine nach menschlichem Maßstab begrenzt anstatt den Maßstab der Maschine als etwas Gegebenes zu betrachten. Aus dieser Betrachtung speist sich die Relevanz seiner Diagnosen für unser Zeitalter, die Zeit der Datenmassen, der nicht aufhaltbaren Umweltzerstörung und der anhaltenden Ausbeutung im Rahmen unmenschlicher Verwertungsprozesse.

Die Technik und der Mensch Guardini

 

Romano Guardini: Die Technik und der Mensch. Briefe vom Comer See; Mainz: Matthias Grünewald Verlag; 1990 (1981).