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Nr. 2 / 2018
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DEKALOG – Ein Projekt zur Aktualität der Zehn Gebote heute

„Warum aber tut er etwas anderes, wenn der Mensch doch weiß, was er tun soll?“ Dies könnte die Leitfrage eines Projekts von zwei Berliner Kulturstiftungen sein, in dem sie über mehrere Jahre hinweg die Aktualität und die ungebrochene Bedeutung der biblischen Zehn Gebote für das Zusammenleben heutiger Gesellschaften künstlerisch und reflexiv auszuloten versuchten.

Getragen von der Guardini Stiftung (benannt nach dem katholischen Religionsphilosophen Romano Guardini) und der Stiftung St. Matthäus (Kulturstiftung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) bestand das zentrale Anliegen des Vorhabens darin, das Spannungsverhältnis von normativen, überzeitlichen Geboten und aktuellen Wertvorstellungen in den verschiedenen Künsten zu erforschen. Neben literarischen Erkundungen zu jedem der Zehn Gebote gestaltete das Projekt Ausstellungen („Assoziationsräume“), organisierte einen Filmwettbewerb und vergab Aufträge für zeitgenössische Sakralkompositionen.

Als Modell und Inspiration für das gesamte Unternehmen diente derDekalog“-Zyklus des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski. Kieślowski erlangte mit seinem zehnteiligen Zyklus, den er in den Jahren 1988/89 für das polnische Fernsehen drehte, weltweite Berühmtheit. Neben der herausragenden filmischen Qualität dieses Meisterwerks, die Kieślowski als einen der großen Autorenfilmer ausweist, bleibt insbesondere sein Versuch einer zeitgemäßen Auseinandersetzung mit den Zehn Geboten beispielhaft. In diesem Sinne ging es auch dem DEKALOG-Projekt nicht um eine wortwörtliche Behandlung des Textkorpus, sondern um eine Auseinandersetzung mit dem Geist der einzelnen Gebote – mit der philosophisch-ethischen Strahlkraft, die sie ungebrochen in sich tragen, mit den Werten, für die sie stehen, oder auch mit den Zumutungen, die sie für uns bereithalten. Intendiert war eine freie und originelle, gleichwohl nicht ins Unverbindlich-Beliebige abdriftende Beschäftigung mit dem Dekalog.

Nicht lebensfern und moralisierend, sondern als Reflexionshilfe für die unabschließbare Bildung eigener Wertvorstellungen sollten die „Zehn Worte“ (so die Bedeutung des griechischen deka-logos) verstanden werden. Auch hierfür konnte Kieślowskis Zyklus als eine Art Leitbild stehen, denn die Zehn Gebote waren für die filmische Adaption, wie sein Drehbuchschreiber Krzysztof Piesiewicz einmal in einem Interview sagte, „eine Sammlung von Wegweisern, keine Aufstellung von Sünden“.

Für die literarischen Erkundungen zum Dekalog wurden zu jedem Gebot zwei namhafte Schriftstellerinnen oder Schriftsteller eingeladen, ihre Reflektionen zur fraglich gewordenen Gültigkeit der überlieferten Gesetze zu verfassen. Unterschiedlich fielen dabei nicht nur die Herangehensweisen und literarischen Sujets aus. Unterschiedlich waren auch die religiösen und ethischen Grundierungen: So wie die biblischen Zehn Gebote ausdrücklich zu einem Individuum sprechen, so waren auch die Antworten der Schriftstellerinnen und Schriftsteller angesiedelt in jenem weiten Echoraum, den der menschheitsbegleitende Gesetzeskanon ebenso wie zeittypische Wertsetzungen bilden.

Inklusive eines einleitenden Essays zum Gesamtkanon des Dekalogs ergab sich eine Sammlung von 21 höchst bemerkenswerten Autorentexten. Entstanden sind auf diese Weise: 21 Anstöße für die Aktualität der Zehn Gebote im 21. Jahrhundert, teils persönlich, teils polemisch, in ganz verschiedenen Genres, anspruchsvoll und überraschend; 21 Rückfragen an wenige biblische Verse, die mit zu den bedeutsamsten Zeilen der Weltgeschichte gehören; 21 Versuche, sich im je eigenen Erfahrungshorizont zu vergegenwärtigen, was doch zeitlos gültig zu sein beansprucht.

Zu jedem Gebot fand eine öffentliche Lesung in den Räumen der Berliner Guardini Galerie statt, bei der die eingeladenen Autorinnen und Autoren ihre literarischen Texte vorstellten, ihre Überlegungen zum Leitmotiv „DEKALOG heute“ erläuterten und sich Nachfragen stellten. Die literarischen Texte wurden sodann ein zweites Mal „aufgeführt“ anlässlich einer Lesung in der St. Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum. Begleitet wurden diese Lesungen von Aufführungen der aktuellen Auftragskomposition zum jeweiligen Gebot. Auch dieses Zusammenspiel von Schauspielern, Autorentexten und Musik setzte einen besonderen Akzent für das von den Initiatoren gewünschte Zusammenspiel der verschiedenen Künste.

Die entstandene Sammlung von Autorentexten zu den Zehn Geboten schreibt sich ein in die Tradition zweier berühmter Vorgänger- Anthologien: Vor mehr als 50 Jahren (1967) publizierte der Rowohlt-Verlag unter dem Titel die zehn gebote eine Sammlung von Erzählungen, die auf eine Lesereihe des RIAS Berlin zurückging, u.a. mit Beiträgen von Wolfgang Weyrauch, Heinrich Böll und Siegfried Lenz. Wiederum fast ein Viertel Jahrhundert früher (1943) erschien, in der schwierigen Zeit des Zweiten Weltkriegs, eine amerikanische Anthologie mit dem Titel The Ten Commandments, die Exklusivbeiträge großer Schriftstellerpersönlichkeiten aus der „Alten Welt“ versammeln konnte, darunter Franz Werfel, André Maurois und Thomas Mann (letzterer mit seiner nachmals berühmt gewordenen Erzählung „Das Gesetz“). Angesichts des großen zeitlichen Abstands zu diesen Vorgängern ist es sicher nicht übertrieben zu behaupten, dass eine literarische Neuauslegung der „Zehn Worte“ für die Gegenwart fällig war.

Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass die schriftstellerischen Reflexionen begleitet werden von Bildern des Künstlers Martin Assig, der mit den Herausgebern eine Auswahl von zehn Bildern aus seiner Serie St. Paul für den Band traf. Sie bilden neben und mit den Texten eine ganz eigenständige Auseinandersetzung zu „DEKALOG heute“ und verleihen dem Band im wahrsten Sinne des Wortes sein Gesicht.

Die Erfahrung, die sich beim Lesen der Texte einstellt, die Erfahrung auch, die dieses großangelegte Projekte einer künstlerischen und reflexiven „Vergegenwärtigung“ der Zehn Gebote maßgeblich gestaltete, hat am eindrücklichsten Norbert Hummelt, einer der beteiligten Autoren, beschrieben: „Das ist der Zustand beim Schreiben eines Gedichts, das die Dinge aus ihrer Ferne ruft und neu heranholt und an ihnen eine Wandlung vornimmt, die nur geschieht, wenn ich an ihr unwahrscheinliches Gelingen glaube.“ Der Satz ist nicht nur eine gelungene Charakterisierung dieses literarischen Bandes, sondern es spiegelt sich darin auch auf wunderbare Weise das Anliegen oder, wenn man so will, sogar die „Methode“ Romano Guardinis, nämlich sich hinauszuwagen ins Offene, den Dingen und Worten unvoreingenommen zu begegnen und sich ihnen – im echten Sinne – auszusetzen.

 

Zum Nachlesen:

Ludger Hagedorn/ Mariola Lewandowska (Hg.), Dekalog heute. 21 literarische Texte zu 10 Geboten, Freiburg: Herder 2017.