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Nr. 2 / 2018
Interview

Warum heute Guardini lesen? Ein Gespräch mit Ugo Perone

weiter denken: Warum sollten Philosoph*innen sich mit Romano Guardini befassen?

Perone: Ein Wort ist aus unserem aktiven Wortschatz verschwunden: Weltanschauung. Man hat sich über das Ende der Ideologien gefreut und das allmähliche Verschwinden der sogenannten großen Erzählungen wenig bereut. Die Kraft einer dekonstruktiven Kritik sollte uns von zu engen kulturellen Rahmenbedingungen, die uns nicht mehr angemessen erschienen, befreien. Und in der Tat hatte ein solches Unterfangen im ersten Moment eine erhellende Wirkung. Man glaubte, neu anfangen zu können und alles wieder in eigener Hand zu haben.

Nachdem nun aber einige Zeit vergangen ist, sind die Probleme und die Fragen, die uns die Wirklichkeit stellt – wie die Politik uns am deutlichsten vorführt –, jedoch so gravierend geworden, dass wir zugeben müssen, dass sie ohne eine globale und gemeinsam vertretbare Anschauung der Welt (eben eine Weltanschauung!) nicht wirklich zu bewältigen sind.

Romano Guardini vertritt eine philosophische Weltanschauung, die sich ideologisch nicht in eine Schublade stecken lässt. Er versucht, die Welt immer anhand einer Gesamtperspektive zu betrachten und behauptet, dass sich gerade dadurch eine bessere Möglichkeit eröffnet, ihr zu begegnen. Die Philosophie ist bei ihm kein rein technisches Wissen, sondern Suche nach einem Sinn, der die Welt verständlich und bewohnbar machen soll. In dieser Suche ist ihm das Christentum wertvoll. Es ist sogar die Quelle, aus der er am meisten schöpft. Er tut das aber nicht dogmatisch-apodiktisch, sondern mit Hilfe einer strengen und gleichzeitig dialogischen Logik. So sucht er oft Inspiration bei den großen Autoren der Literatur (Dante, Hölderlin, Dostojewski, Rilke) und entwirft eine christliche Weltanschauung, die sich mit gutem Recht katholisch, universal, d.h. fähig, das Ganze aufzunehmen, nennen kann. Es ist eine Philosophie für unsere Zeit, eine Philosophie, die diejenigen begeistern kann, die auf der Suche nach der Wahrheit sind.

 

weiter denken: Wie wurden Sie mit der Philosophie von Guardini bekannt?

Perone: Erstaunlicherweise ist das Interesse für die Philosophie der Religion und für die Theologie als eine Folge der studentischen Revolution 1968 zu betrachten. In diesem Jahr wurde die Universität tiefgreifend verändert und neben den traditionellen akademischen Autoren bekamen zwei Themen eine herausragende Bedeutung: Politik und Religion. Wie Sie wissen, existieren in Italien keine staatlichen theologischen Fakultäten und der ganze theologische Bereich war sogar bei den Philosophen terra incognita. Mein erstes Interesse, über die Grenzen der Philosophie hinaus zu schauen und in Richtung Theologie, ist in dieser Zeit entstanden. In Zusammenarbeit mit meiner Frau, Annamaria Pastore, und meinen Freunden Franco Ardusso und Giovanni Ferretti habe ich dann ein Buch [Introduzione alla teologia contemporanea, Torino 1972, 1980, Anm. d. Redaktion] herausgegeben, das sich mit diesen Themen beschäftigte. Bei dieser Gelegenheit bin ich zum ersten Mal auf den Namen Romano Guardini aufmerksam geworden.

 

weiter denken: Welche Schrift oder welchen Essay von Guardini würden Sie Studierenden zur Lektüre empfehlen?

Perone: Rein philosophisch betrachtet, ist Der Gegensatz der wichtigste Beitrag Guardinis. Dort entfaltet er seine Theorie der Polarität, die es ihm ermöglicht, das Ganze als den Ort einer produktiven Spannung zu charakterisieren, ohne der Hegelschen Dialektik folgen zu müssen. Man kann die Welt nur angemessen beschreiben, wenn man ihre Einheit nicht durch Vereinfachung und Reduktion erreicht, sondern sie als ein Gleichgewicht von in Gegensatz wirkenden Kräften deutet. Der Herr scheint mir theologisch und historisch bedeutsam, weil dieses Werk, das während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur erschien, eine theologisch scharfsinnige Demaskierung des Führerprinzips enthält. Das Ende der Neuzeit, nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht, bietet eine kluge und nuancierte Auseinandersetzung mit der Moderne. Darüber hinaus sind zum Schluss auch alle Werke, die er den großen Autoren der Philosophie und der Literatur widmet, in diesem Kontext erwähnenswert. Man lernt Dante, Augustinus, Sokrates, Hölderlin, Rilke, Kierkegaard und viele andere kennen mittels einer Deutung, die gleichzeitig begleitet und führt – einer Deutung, die zu Recht den Namen „Interpretation“ verdient.

 

weiter denken: Guardini hat die Universität als den Ort definiert, „wo die wachsende Verantwortung für die Allgemeinheit leben muß“. Worin würden Sie, ausgehend von diesem Satz, angesichts gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen die Aufgabe der Philosophie an der Universität sehen?

Perone: Wenn man Verantwortung für die Allgemeinheit lernen und lehren soll, so muss der universelle Charakter der Universität beibehalten bleiben und sogar geschützt werden. Eine zunehmende Spezialisierung im Dienst einer Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt verschleiert die Wahrnehmung des Ganzen als Thema und erzeugt sogar die Unfähigkeit, sich in bewusster und reflektierter Form zu fragen, was Allgemeinheit überhaupt heißt. Ironischerweise verfehlt sie sogar ihr eigenes Ziel: In der Zeit eines beschleunigten technischen Fortschritts sind die technologischen Entwicklungen solcher Art, dass ein Update, eine ständige Erneuerung, immer wieder notwendig wird. Die erlernte Spezialisierung ist dabei wenig behilflich. Man kann heute nicht mehr etwas ein für alle Mal lernen, sondern nur immer wieder neu erlernen. Die angeeigneten methodischen Voraussetzungen zählen dabei mehr als die erlernten Inhalte.

Deswegen bleiben die humanistischen Fächer immer noch von entscheidender Bedeutung. Wir sehnen uns nach einer Orientierung und wir können sie nicht aus der Unmittelbarkeit des Alltags holen. Daher aber auch die große Verantwortung dieser Fächer, die sich nicht auf das rein Akademische beschränken dürfen.

Ugo Perone

Prof. Dr. Ugo Perone ist seit dem Wintersemester 2012/2013 Inhaber der Guardini-Professur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2009 bis  2013 war er Stadtrat für Kultur der Provinz Turin. Ugo Perone ist Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Gremien im Bereich Philosophie, Theologie und Bildung sowie Mitherausgeber mehrerer Fachzeitschriften. Er ist Präsident der Associazione Italiana per gli Studi di Filosofia e Teologia und Fellow des Collegium Budapest.

Das Gespräch führte Jürgen Manemann.