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Nr. 2 / 2018
Guardini auf Rothenfels
LEBENDIG UND KONKRET

Gnade im Gedicht

Das erste Buch, das ich von Romano Guardini kannte, war Ende der Neuzeit. Ich kannte es viele Jahre, ohne es zu lesen, denn es stand im Bücherschrank meiner Eltern, gehörte zu ihrer Bibliothek wie andere nach dem Krieg, vor allem in den fünfziger Jahren erworbene Bände u. a. von Reinhold Schneider, Felix Timmermans, Edzard Schaper, Werner Bergengruen. Mit diesen Namen, in dieser Atmosphäre wuchs ich auf, und erst viele Jahre später fing ich an, diese Bücher für mich zu entdecken, vielleicht auch, um ein imaginäres Gespräch mit meinem verstorbenen Vater zu führen. Ende der Neuzeit weckte meine Neugier, ich mochte den Stil dieses Autors, die Klarheit und Sicherheit seiner Gedankenführung, bis hin zu Eigenheiten des Wortschatzes wie „einfachhin“. Vor etwa zehn Jahren las ich mehr von ihm, nachdem ich entdeckt hatte, dass er auch Interpretationen zu Gedichten verfasst hatte. Mit Bewunderung las ich sein Hölderlin-Buch Weltbild und Frömmigkeit, ebenso die wunderbar genaue Deutung von Rilkes Duineser Elegien, die Aufsätze über Mörike und Freiheit Gnade Schicksal. Denn in Guardinis Büchern – und eigentlich nur dort – fand ich eine Brücke zwischen der katholischen Welt meiner Herkunft und der Welt der Literatur, in die es mich verschlagen hatte und in der man den Namen Gottes seit 1968, dem Todesjahr Guardinis, kaum mehr hört. Umgekehrt bleibt freilich auch die Dichtung draußen, sobald man eine Kirche betritt, dazu genügt ein Blick in die neuen Liedtexte, die nach dem Konzil Eingang in die Gesangbücher gefunden haben. Bei Guardini aber sind die großen geistigen Welten noch nicht getrennt. Die Götter Hölderlins, der Engel Rilkes: diese gar nicht christlichen Anrufungen interessieren ihn, und er antwortet auf Augenhöhe. Guardinis Exegesen zeigen ihn als begnadeten Leser, der sich von anderen Interpreten unterscheidet, weil er den religiösen Gehalt dieser Dichtungen genau beim Wort nimmt und ihn vor dem Hintergrund der christlichen Offenbarung bedenkt, freilich ganz ohne geistigen Übergriff, sondern aus einer respektvollen tiefen Einsicht heraus. Diese Bücher kann man nicht genug empfehlen. Versucht habe ich mich auch an Guardinis Christus-Buch Der Herr, in dem ich bisher – vielleicht aus fehlender innerer Ruhe – nicht weit gekommen bin. Sehr mag ich bis heute einige seiner kleinen Bücher wie Von heiligen Zeichen, Vom Geist der Liturgie und das ganz zum intimen Gebrauch des Gläubigen bestimmte Brevier Der Rosenkranz unserer lieben Frau.

Als ich jetzt Freiheit Gnade Schicksal wieder las, waren die Eindrücke zwiespältig. Dass hier Fragen menschlichen Daseins untersucht werden, die so grundlegend sind, dass sie nicht veralten können, steht außer Zweifel. Doch nicht allen Passagen konnte ich in gleicher Weise folgen; auf dem langen Weg von der existenziellen Fragestellung zur theologischen Deutung erschienen mir die ganz aus Begriffen gebauten Brücken mitunter so luftig, dass sie die tiefen Gründe des Zweifels und der Glaubensunsicherheit nicht immer sicher überwinden halfen. Der erstmals in Hofmannsthals Lord Chandos-Brief auftauchende Gedanke, dass die großen, hehren Begriffe plötzlich unbrauchbar werden, ins Nichts fallen könnten, beschlich mich. Auch ist das Begriffliche meinem eigenen Stil fremd, es liegt mir nicht, das Gedicht will vom Bild, von der Anschauung her verstanden werden, auch das Nachdenken im Essay muss durch Erfahrung gedeckt sein. Benns Devise ging mir durch den Kopf: „Bleiben wir empirisch.“ Ein Kapitel muss ich jedoch aus diesem Eindruck des Luftigen ganz ausnehmen, weil es mich ganz unmittelbar ansprach, und von diesem will ich im Folgenden sprechen: „Das Gnadenhafte als Element des unmittelbaren Daseins“, darin besonders die Passagen zum Schöpferischen, aber auch die Abschnitte „Begegnung und Fügung“ und „Die Euphorie und das Vollkommene“. Beschränken muss ich mich hier jedoch auf einige knappe Andeutungen zum Problem der künstlerischen Eingebung. Ich gebe zuerst die zentralen Gedanken Guardinis wieder:

– Das Gnadenhafte ist jenes Tun, das weder erzwungen noch gefordert werden kann, sondern aus der freien Initiative hervorgeht.

– Dieser Charakter des Gnadenhaften findet sich in der schöpferischen Tätigkeit wieder.

– Das Produktive entspringt der Eingebung und bedarf der guten Stunde.

– „Daß der Einfall kommt, die Idee aufleuchtet, die Gestalt geboren wird, die Bedingungen des Gelingens sich zusammenfügen, und die inneren Kräfte richtig ineinanderspielen, kann weder berechnet noch erzwungen werden, sondern es geschieht ‚wann es will‘ und verlangt die Haltung der Absichtslosigkeit. Damit ist nicht gesagt, die großen Werke und Taten gerieten von selbst; sie setzen vielmehr unablässige Arbeit, große Konzentration und viel Entsagung voraus. Doch kann das alles den grundlegenden produktiven Vorgang, nämlich die Eingebung, nur vorbereiten, sichern und entfalten; ihn selbst aber kann es nicht erzwingen.“

– Nicht nur die Eingebung, auch das Gelingen des Kunstwerks kann nicht erzwungen werden, Rechnung, Nötigung und Beeinflussung behindern eher dieses Gelingen; wenngleich es künstliche Mittel gibt, die den produktiven Vorgang unterstützen, wie etwa Reiz- und Rauschmittel. Hier, so Guardini, wird eine absichtsvolle „Technik des Hervorbringens“ eingesetzt, die sich aber – so muss es wohl verstanden werden – vom gnadenhaften Charakter des eigentlich Schöpferischen wesenhaft unterscheidet.

– Woher die Eingebung kommt, kann man nicht sagen. Sie geht aus einem Ursprung hervor, den man nicht bestimmen kann.

– Im Schaffen erfährt der Mensch ein intensives Gefühl des Selbst-Seins, das sich bis zur Überhebung, ja zur Hybris, steigern kann. Die Eingebung kann, weil sie sich nicht dem Eigenwillen fügt, auch zerstörerisch sein und Lebenspläne durchkreuzen.

– Letztlich, und das wird uns besonders beschäftigen: „In einer nur nach mechanischen Kausalitäten sich bewegenden Welt gibt es ein Schaffen ebenso wenig wie eine Freiheit, vielmehr nur den zwangsweisen Ablauf von Prozessen.“

Zunächst einmal muss ich feststellen, dass sich meine eigenen Erfahrungen mit dem Charakter des Schöpferischen, vor allem das seit über zwanzig Jahren fortdauernde Schreiben von Gedichten, mit den von Guardini gemachten Feststellungen vollkommen decken, und alle meine Überlegungen zum Problem der Inspiration finde ich in den Gedanken Guardinis aufgehoben. Es ist wirklich so: Das Gedicht bedarf der guten Stunde, des geduldigen Wartens und des Verzichts, bei mir sogar des Verzichts auf Notizen; es kommt, wann es will; wenn es gezwungen werden soll, oder wenn einem zu schwachen Impuls zu bereitwillig nachgegangen wird, gelingt es nie. Dass es sich mit dem Schöpferischen so verhält, steht für mich außer Zweifel. Dass es aber so ist, das ist für den Künstler durchaus unbehaglich. Es verurteilt ihn zur Passivität, es hält zum Beispiel den Lyriker in einer ständigen Haltung der Ungewissheit, wann das nächste Gedicht kommt, wie es aussehen wird, wovon es spricht, ob es mit anderen, schon geschriebenen auf einer Höhe stehen, sie vielleicht sogar übertreffen kann; diese Not der dauernden Ungewissheit wird mit den Jahren des Schreibens und trotz aller Erfahrungen des Gelingens niemals aufgehoben, zumal die durchbruchhaften, glückhaften Phasen des Schaffens zwar in ihrer Intensität nicht schwächer werden mögen, dafür aber seltener und kürzer, und die geleistete Entsagung ist zugleich der Grund für Melancholie und Depression, Missstimmung im Alltag, von Existenznot ganz zu schweigen. Trotzdem hat der Künstler keine Wahl; er muss warten, und er kennt nicht den Tag noch die Stunde. Wer sich die Kunst zum Beruf wählt, frönt nicht der Selbstverwirklichung, er gibt sich vielmehr selbst aus der Hand. Das ist nirgendwo ergreifender ausgedrückt als in Hölderlins Ode An die Parzen:

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!

Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,

Daß williger mein Herz, vom süßen

Spiele gesättigt, dann mir sterbe.

 

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht

Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;

Doch ist mir einst das Heilge, das am

Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

 

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!

Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel

Mich nicht hinab geleitet; Einmal

Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

 

So schwer die Frage zu beantworten ist, wie Hölderlin die Parzen verstand, als Symbol oder als wirkliche Macht, so wird doch deutlich, dass der Dichter ganz auf ihre Gnade angewiesen ist. Wer sind die Parzen, die den einen Sommer oder die gute Stunde schenken? Gibt es sie? Oder sind es berechenbare psychosomatische Abläufe, die wir nur noch nicht durchschauen, ist das Schöpferische einfach hormonell gesteuert? Wahrscheinlich ist das nicht ganz falsch, aber eine hinreichende Erklärung kann darin doch nicht liegen, sonst gäbe es längst die Pille fürs Gedicht. Ist also die Eingebung eine Gabe Gottes? Auch heute? Guardini bleibt in dieser Frage zurückhaltend, erklärt knapp: „Woher die Eingebung kommt, kann man nicht sagen.“

Ob das Bild des Dichters als Wartender, der ohne Inspiration, ohne Anhauch des Geistes zur Untätigkeit verurteilt ist, von der Mehrzahl der heute schreibenden Lyriker allerdings geteilt wird, vermag ich nicht zu sagen. Ich habe Gründe, in dieser Frage skeptisch zu sein. 2007 nahm ich an einer Diskussionsrunde teil, in der deutschsprachige Lyriker über ihre Poetik sprachen. Es ergab sich, dass ich in dieser Runde das Problem der Inspiration ansprach; weil ich unter den Kollegen einige wusste, die sich serieller Verfahren bedienen, langfristig ein bestimmtes Konzept verfolgen, das in der Beschränkung auf ein ausgewähltes Vokabular oder in einem verfremdenden Zugriff auf ältere Formen, etwa das Sonett, bestehen kann – Formen des Machbaren, meist längere Zyklen, auf der Basis literarischer Theorie erarbeitet; und nun wollte ich wissen, welche Rolle die Inspiration in einem solchen Rahmen spielt. Eine Antwort erhielt ich nicht, vielmehr hatte ich den deutlichen Eindruck, etwas Peinliches angesprochen, vielleicht sogar ein Tabu verletzt zu haben, von dessen Existenz ich nichts gewusst hatte. Man schwieg gereizt, und ein Kollege erklärte sogar, es sei „gefährlich“, nach der Inspiration zu fragen, denn man wisse, das führe zu nichts.

Für wen genau die Frage nach der Inspiration gefährlich ist und warum, das wurde mir nicht klar. Eines aber wurde deutlich, dass es andere Wege zum Gedicht gibt, die mir nicht offen stehen, anderen dagegen schon. Warum auch auf die gute Stunde warten, wenn das Gedicht planbar geworden ist und nicht mehr eigentlich eine Schöpfung aus empfangener Gnade ist, sondern der Welt des Machbaren angehört? Hatte nicht schon Gottfried Benn vor mehr als 50 Jahren geäußert: „Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten; ein Gedicht wird gemacht“? Doch sagt Benn fast im selben Atemzug: „Schwer erklärbare Macht des Wortes, das löst und fügt. Fremdartige Macht der Stunde, aus der Gebilde drängen unter der formfordernden Gewalt des Nichts.“ Benn ist in der Frage der Inspiration hin- und hergeworfen, den von ihm selbst in die Lyrikdiskussion eingebrachten Begriff des Machens demontiert er gleich, nachdem er ihn aufgestellt hat. Auch der moderne Dichter, den Benn sich als Montage-Künstler denkt, mit „Roboter-Stil“, auch er bleibt einer Stunde ausgeliefert, die er nicht bestimmen kann, die ihm fremd bleibt, und die eine Macht besitzt, die ihn überwältigt. So beschreibt Benn die „Stunde“, in der im Jahre 1912 die Gedichte des Morgue-Zyklus „heraufstiegen“, als eine Grenzerfahrung, die ihn maßlos erschöpft zurückließ, aber mit einer Reihe von sechs formidablen Gedichten beschenkt. Woher sie kamen? War ihm rätselhaft. Am Beispiel Benns lässt sich gut zeigen, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ältere Vorstellungen vom Gedicht als Gnadengabe mit modernistischen Machbarkeitsutopien in Widerstreit stehen, der sich im Werk eines einzelnen Dichters abspielen kann. So sind etwa die berühmten Verse „O Nacht! Ich nahm schon Kokain, und Blutverteilung ist im Gange … Ich muß, ich muß im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn“ zwar ein Beleg für das Experimentieren mit Rauschmitteln, um die Not des Wartens auszuhebeln, die immer eine Angst vor dem Verstummen ist; sie ebneten aber keiner neuen Praxis der Gedichterzeugung den Weg, auf die sich bauen ließe, sondern bleiben vereinzeltes Erlebnis und verweisen den Dichter zurück auf den Gnadenstand eines Schaffens, das er selbst nicht in der Hand hält.

Ich persönlich glaube, dass es heute immer noch so ist; dass jenes Angewiesensein auf den Anhauch, die grundlegende Passivität des Schöpferischen, zur Disposition des Menschen gehört, so lange der Gedanke an Gott – in allen Bildern, die wir von ihm haben können – noch gedacht werden kann. So lange auch werden Gedichte entstehen, die dieser Lage Ausdruck verleihen. Ein anderes Menschenbild, das alles, auch die Formen künstlerischen Ausdrucks, in der Verfügbarkeit des Menschen sieht, wird andere Gebilde hervorbringen, allerdings wohl solche ohne beseligenden Anhauch, berechnete Konstrukte, die nicht mehr sein können, als was der Mensch in sie hineinlegt. Diese Situation hat Guardini mit großer Schärfe erkannt, gerade in seinem Rilke-Buch zeigt er sie auf. Der Geist jedoch weht, wo er will.



* Wiederabdruck: Norbert Hummelt, Gnade im Gedicht, in: TRIGON 8. Kunst, Wissenschaft und Glaube im Dialog. Schriftenreihe der Guardini Stiftung, BWV Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2009, 93-96.