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Nr. 2 / 2018
Guardini auf Rothenfels
LEBENDIG UND KONKRET

Was kommt nach der Neuzeit?

Von Facebook und Smartphones, dem Klimawandel und gentechnisch veränderten Lebensmitteln, der AfD und der Flüchtlingskrise wusste Romano Guardini nichts, als er 1950 seine Schrift „Das Ende der Neuzeit“ veröffentlichte. Nachdem er jedoch Zeuge geworden war, wie zwei verheerende Weltkriege Europa verwüstet hatten, glaubte er zu wissen, dass eine Epoche unwiederbringlich zu Ende gegangen war. Was damals nur eine Ahnung, ein „Versuch zur Orientierung“ war, wie er selbst schrieb, hat sich heute zur Gewissheit verdichtet: Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters. Wird dieses die Apokalypse einläuten oder werden wir es nutzen, um eine gerechtere und bessere Welt zu erschaffen? Auf der Suche nach dem Sinn der zerbrechlichen neuen Zeit war Guardini ein Visionär, wenn nicht gar ein Prophet.

 

Es ist schwer zu sagen, wann eine Epoche zu Ende geht. Historikerinnen und Historiker können sich selten darauf einigen, in welchem Jahr genau ein Zeitalter aufgehört und ein anderes angefangen hat. In der Regel wird ein Epochenwechsel mithilfe von Ereignissen datiert, in deren Folge die Welt sich grundlegend verändert hat. Die Welt, das meint Gesellschaft und Politik, das Verständnis von Mensch, Kosmos und Religion sowie von Natur und Kultur. Ein solches Ereignis war beispielsweise die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453. Der Fall der Hauptstadt bedeutete auch das Ende des christlichen Byzantinischen Reiches. Für viele Menschen war dieses Ereignis ein Symbol des Niedergangs der wohlgeordneten christlichen Welt, die sie bis dahin gekannt hatten. Etwa zur selben Zeit erfand Johannes Gutenberg den Buchdruck, 1492 landete Christoph Kolumbus in Amerika, und 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen. Der Epochenwechsel, der später als Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit betrachtet wurde, vollzog sich, je nachdem, in allgemeiner Weltuntergangs- und  Aufbruchsstimmung.

Das Ende des Mittelalters liegt inzwischen etwa 500 Jahre zurück (vgl. Havekamp u. Prinz, 2001, 43ff) und war, sofern man mit der geschichtswissenschaftlichen Einteilung der Historie in Urgeschichte, Altertum, Mittelalter und Neuzeit einverstanden ist, der letzte Epochenwechsel, den die Menschheit durchlebt hat. Bis heute. Seitdem sind viele Generationen geboren worden und gestorben, und es lässt sich nur noch schwer nachvollziehen, wie es sich damals angefühlt hat, Zeuge einer solchen Zeitenwende zu werden. Fragwürdig ist außerdem, ob im ausgehenden Mittelalter, abgesehen von der oben erwähnten Weltuntergangs- und Aufbruchsstimmung, überhaupt das Gefühl herrschte, von einer Zeit in eine andere zu wechseln. (Zur Problematik der Periodisierung der Geschichte: Vgl. Van der Pot, 1999, 52ff) Wenn Guardini also behauptet, ein erneuter Epochenwechsel vollziehe sich im Augenblick, so müssen wir uns nicht nur fragen, ob seine Diagnose zutrifft, sondern auch, ob es überhaupt möglich ist, die Zeitwende zu erkennen, während sie noch stattfindet.

Guardinis Postulat ist aber mehr als nur die Frage nach einer geschichtswissenschaftlichen Einteilung. Wenn er vom Ende der Neuzeit spricht, meint er: Das Alte funktioniert nicht mehr, und das Neue ist bisher nichts anderes als eine Möglichkeit, die von uns, die wir in dieser neuen Zeit leben, ergriffen werden kann. Dieses „Müssen“ impliziert nicht zwingend auch ein „Können“. Gerade nach der erschütternden Erfahrung zweier Weltkriege, den Vernichtungen nie gekannten Ausmaßes durch die Nationalsozialisten und den Massentötungen durch die Kommunisten stand dieses „Können“ durchaus infrage, wie wir aus den Schilderungen von Zeitgenossen wissen. Guardini verhandelt also existentielle Fragen, wenn er beschreibt, wie der Fortschritts- und Humanitätsoptimismus von Descartes, Kant und Goethe im 20. Jahrhundert auf einmal in die Erkenntnis umschlug, dass der Mensch wieder vor dem Chaos steht. „[…] und das ist umso furchtbarer, als die meisten es gar nicht sehen, weil überall wissenschaftlich gebildete Leute reden, Maschinen laufen und Behörden funktionieren.“ (Guardini, 1995, 77)

„Das Ende der Neuzeit“ tritt trotzdem nicht mit dem üblichen Pathos jener Schriften auf, die Weltuntergänge und Apokalypsen prophezeien – übrigens ein beliebtes Genre in jeder Epoche der Menschheitsgeschichte. Sich am Beginn der neuen, noch namenlosen Zeit verortend, ist das Werk zunächst eine Bestandsaufnahme dessen, was gewesen ist, und dessen, was sich ankündigt. Das kommende Zeitalter nimmt Guardini dabei durchaus hoffnungsvoll in den Blick. Er verzichtet auf jede Anklage angesichts der begangenen Weltkriegsverbrechen. Er verzichtet auf eine Verteufelung der neuen Gesellschaft und einen Abgesang auf die Kultur, die sich in ihr etabliert hat. Mit großer Nachdenklichkeit und Feingefühl spürt er dem Epochenwechsel nach, den er postuliert. Es geht ihm um einen Versuch, „sich in der verwickelten und noch nicht ganz fließenden Situation unserer Zeit zurechtzufinden“ (Guardini, 1995, 10). Und dieses Zurechtfinden ist heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, notwendiger denn je.

Um gemeinsam mit Guardini diese Haltung der feinfühligen Sachlichkeit einzunehmen, die es ihm erlaubt, das Ende einer Epoche zu proklamieren, lohnt es sich, von jener Pathetik der Krise, die von Autoren wie Slavoj Žižek („Living in the end times“) gegenwärtig zur reichlich kruden Kunstform erhoben wird, einen Augenblick zurückzutreten und sich stattdessen der eigentlichen Methodik und Grundhaltung des Philosophen zu bedienen: der der Nachdenklichkeit. Nachdenklichkeit schafft Freiraum, weil sie die Notwendigkeit aufhebt, auf im Raum stehende Fragen umgehend Antworten zu finden. Sie erlaubt es, zu zögern und abzuschweifen, um schließlich wieder zum Ausgangspunkt, nämlich dem Problem, das einmal nachdenklich gemacht hatte, zurückzukehren (vgl. Blumenberg, 1980). Guardini, der sehr wohl ein Denker der Krise war, aber eben keiner, der vorschnelle Antworten geben mochte, führt dieses produktive Zögern in seiner Betrachtung über die Zeitenwende meisterlich vor.

Dem Ungeduldigen mag es dennoch etwas befremdlich erscheinen, angesichts einer so drängenden Problematik – der Überwindung des Alten und der Etablierung des Neuen – zunächst einmal darüber nachzudenken, was eine Epoche überhaupt ausmacht. Seine Ausführungen eröffnet Guardini mit einem kurzen Abriss über das antike Weltbild, das sich, wie er schreibt, vor allem durch große Freiheit und Freizügigkeit auszeichnet. Der antike Begriff vom Göttlichen verortet dieses nicht, wie wir es gemeinhin tun, außerhalb der Welt, sondern innerhalb der Weltordnung selbst. So kommt es, dass auch kein Ort außerhalb der Welt existiert, von dem aus man diese distanziert betrachten könnte. Dementsprechend ist Wahrheit den Antiken gemäß niemals objektiv und allgültig, sondern immer in Bewegung wie die Welt selbst (vgl. Guardini, 1995, 11ff): „Nichts steht fest, alles bleibt offen.“ (ebd., 14)

Der mittelalterliche Mensch dagegen vollbringt innerhalb seines erweiterten ptolemäischen Weltbildes wahre Kunstwerke der symbolischen und (theo-)logischen Konstruktion. Die Menschenwelt selbst bildet darin den unverrückbaren Mittelpunkt. Über ihr kreisen die Gestirne in ihren Sphären; außerhalb des kugelförmigen Kosmos wohnt Gott im lichten Empyreum. Gott „bedarf der Welt unter keinen Umständen“ (ebd., 16), er ist ihren Bewegungen und Wandlungen gegenüber autark. Unterhalb der Erdoberfläche befindet sich jedoch noch ein anderes „Außen“, nämlich eine Art Trichter, der in die Erdentiefe hinabführt, hinein in ein dantesches Inferno oder aber, auch diese Bedeutung schwingt mit, in den tiefsten Seelengrund des Menschen. Gott ist als absconditus auch dort; er bewohnt die tiefsten Tiefen so wie die höchsten Höhen, ist Quelle und Mündung zugleich. Die Jenseitigkeit Gottes erlaubt es auch dem Menschen, sich gedanklich ein Stück weit von der Welt zu distanzieren; er betrachtet diese als reales und symbolisches Gefüge, in dem alles auf die geschaffene, „außen“ erdachte Ordnung verweist. Der religiöse Kult aktualisiert die mythischen Einsichten der Offenbarung; die Hierarchien von Kirche und Staat verweisen auf die göttliche Hierarchie. Der mittelalterliche Wissenschaftler forscht nicht, er errichtet aus dem Material, das ihm die christliche Offenbarung und die antike Weisheit zur Verfügung stellen, phantastische Welterklärungskonstrukte, so wie die mittelalterlichen Baumeister Kathedralen errichten. Die objektive und göttliche Ordnung nimmt in diesen Gebilden weltliche Gestalt an (vgl. ebd., 15ff).

Die Neuzeit schließlich bricht mit der klaren Hierarchisierung der Welt, der Aufteilung in Jenseits und Diesseits, in Innen und Außen, ja sogar mit der Unterscheidung von Gott und Mensch. Der Mensch verortet sich mehr denn je im Mittelpunkt seines inzwischen als unendlich deklarierten Kosmos, nun aber nicht mehr gemäß der göttlichen Weisung zwischen Seelengrund und Empyreum, sondern er formt sich aus eigener Kraft die beste aller möglichen Welten.Gott oder das Göttliche – das Christentum spielt auch während der Neuzeit noch eine entscheidende Rolle – offenbart sich vornehmlich in der Natur. Natur, das ist, wie Goethe es ausdrückt, „das unmittelbar Gegebene, die Gesamtheit der Dinge“, bevor der Mensch daran etwas ändern kann. Das Natürliche ist allgemeingültige Norm und Erkenntnisobjekt der sich etablierenden positiven Wissenschaften; es ist der Inbegriff des Guten. Die Kultur wiederum ist der Machtbereich des Menschen; sie steht der Natur und der in ihr sich offenbarenden Göttlichkeit als durchaus positives Pendant gegenüber, denn ihr Urheber ist dem Ursprung gemäß Teil des natürlichen Guten. Dementsprechend wird die Formung der Welt durch Kulturtechniken mit großem Optimismus betrieben (Vgl. Friedell, 2012, 57ff u. Guardini, 1995, 25ff).

Der Glaube an die christliche Offenbarung aber verliert seine „ruhige Selbstverständlichkeit“ (ebd., 42), so diagnostiziert es Guardini. Der Schöpfergott hat mit der Abkehr vom Symbolismus des Mittelalters seinen Ort verloren; und mit diesem Verlust geht auch die zunehmende Ortlosigkeit des Menschen einher. Der der Natur entstammende Mensch ist mehr als nur ein lebendiger Teil der natürlichen Ordnung. Als reflektierendes und sich selbst erkennendes Wesen verspürt er den Drang, sich zu verwirklichen und seine Welt zu gestalten, sich also über die Natur zu erheben. Das Urbild dieser Verwirklichung wird von seiner genialischen, individuellen, einzigartigen und nur von ihm verantworteten Persönlichkeit hervorgebracht. Inbegriff dessen ist der Ausruf des Descartes „Cogito ergo sum!“, der Ausruf des sich selbst setzenden Subjekts, das, ohne die göttliche Offenbarung zur Hilfe zu nehmen, Gewissheit über die eigene Existenz erlangt hat. Mit dieser Erhebung, die dem Menschen zugleich ein unüberschaubares Maß an Verantwortung aufbürdet, ändert sich auf beunruhigende Weise auch seine Selbsterfahrung: „Die Widersprüche im menschlichen Inneren, zwischen dem Willen zur Wahrheit und dem Widerstand gegen sie, zwischen dem Guten und dem Bösen, werden drängender erfahren. Die ganze Fragwürdigkeit des Menschen kommt ins Gefühl.“ (Ebd., 46)

Wenn Guardini schreibt, die Neuzeit sei an ihr Ende gekommen, so meint er das Ende des sich selbst setzenden Subjekts zwischen göttlicher Natur und menschlicher Kultur. Das Ende der Neuzeit im 20. Jahrhundert ist zugleich das Ende eines Optimismus, der die Vermögen des Menschen und damit seinen Personenkern betrifft. Die Verunsicherung, die damit einhergeht, ist umfassend: Die Natur wird nicht mehr als göttliche Norm, sondern als endliches, zerbrechliches und schützenswertes Gut erfahren, aus dem der ebenso zerbrechliche Mensch hervorgegangen ist (vgl. ebd., 49ff). Wir fürchten das Schmelzen der Pole und das Sterben der Insekten. Wir bedrohen unsere eigene Existenz mit der Herstellung von Bomben, die ganze Landstriche vernichten können. Wir sorgen uns um die gesundheitsschädigende Wirkung von Nahrungszusätzen, die einst, zur Zeit ihrer Erfindung, als große Innovationen gehandelt wurden. Dabei schwingt ein fürchterliches Erschrecken über unsere eigene Mächtigkeit gegenüber dieser beschädigten Natur, die wir einmal für göttlich gehalten haben, mit: Der Müllstrudel im Pazifik – in etwa so groß wie Mitteleuropa – ist ein reales Symbol des menschengemachten Übels (vgl. Greenpeace, 2016, 1). Ein allgemeiner Kulturpessimismus macht sich breit, der von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Möglichkeit der Verbesserung der Welt geprägt ist. Die anbrechende Epoche ist durchdrungen vom Zurückweichen des Menschen vor der eigenen Abgründigkeit: „Die Wildnis in ihrer ersten Form ist bezwungen: die unmittelbare Natur gehorcht. Sie kehrt aber innerhalb der Kultur selbst wieder, und ihr Element ist eben das, was die erste Wildnis bezwungen hat: die Macht selbst.“ (Guardini, 1995, 77) Religion schließlich kann nur noch aus einem Gefühl tiefer Einsamkeit im zerbrechlichen Dasein heraus als sehnsüchtiger Eskapismus erfahren werden.

Wenn man bedenkt, dass behauptet wurde, Guardini betrachte die anbrechende Epoche mit möglichst großer Neutralität, ja sogar hoffnungsvoll, mag man dies für eine ziemlich düstere Diagnose halten. Und umso düsterer wird einem zumute, wenn man bedenkt, wie sehr sich das Beschriebene seit 1950 bewahrheitet hat. Wir stehen heute vor der Herausforderung, die Natur, die wir in weniger als zwei Jahrhunderten durch Technisierung, Ausbeutung und Missbrauch sukzessive zerstört haben, vor dem endgültigen Kollaps bewahren zu müssen. Wir stehen mit leeren Händen vor der Erkenntnis, dass die Macht, die der Mensch erlangt, wenn er seine Möglichkeiten ausschöpft, sich nicht nur destruktiv, sondern geradezu dämonisch auswirken kann. Eine erschreckende Mitleid- und Lieblosigkeit bringt gegenwärtig Hass und Gewalt gegenüber jenen hervor, die Hilfe bitter nötig haben. Auch dies hat Guardini in eschatologischer Manier prophezeit: „Die Liebe wird aus der allgemeinen Welthaltung verschwinden. Sie wird nicht mehr verstanden, noch gekonnt sein.“ (Ebd., 94)

Lässt sich aus so viel Hoffnungslosigkeit und Pessimismus überhaupt noch eine philosophische Haltung entwickeln? Würde Kant heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch einmal seine vier berühmten Fragen aufschreiben, würden diese vermutlich lauten: Wem soll ich glauben? Was bleibt mir noch zu tun? Gibt es noch Hoffnung? Und: Was bleibt vom Menschen übrig? Guardini nennt den Menschen des 20. Jahrhunderts nicht umsonst den „nicht-humanen Menschen“ (ebd., 61) und meint damit ein Wesen, das unfähig ist, für das Weltgeschehen, das es selbst verursacht hat, Verantwortung zu übernehmen. Technik und Wissenschaft, Verwaltung und Politik sind zu derart monströsen Gebilden angewachsen, dass dem Menschen, ihrem Hervorbringer, sein Subjekt-Sein durch sie abgenommen wird. Er wird von einer Persönlichkeit im humanistischen Sinne zur behördlich erfassten, nummerierten und im System verorteten Person herabgewürdigt: zum Menschen der Masse. Das weckt zunächst grauenerregende Auschwitz-Assoziationen. Heute aber degradieren die Gewinner der Digitalisierung, Konzerne wie Amazon, Google und Facebook, Menschen zu „Nutzern“, deren Daten erfasst und verwaltet werden. Jeder Klick füttert die Maschine.

Auch wenn Guardini Baracken und Güterwaggons, Gasduschen und Stacheldrähte vor Augen gehabt haben mag, als er „Das Ende der Neuzeit“ schrieb, gelingt es ihm, ein wenig Hoffnung und Vorfreude auf das Neue zu wecken. Er möchte nicht als Weltuntergangsprophet auftreten, sondern hat Trost für uns Trostunfähige und Weltuntergangshungrige im Gepäck. Jeder Epochenwechsel ist eine nie dagewesene Krise, die alles bisher Gekannte erschüttert. Das Neue ist während der Zeit des Übergangs noch dysfunktional. Das 20. und 21. Jahrhundert haben Gewalt, Machtmissbrauch und unvorstellbares Grauen hervorgebracht (vgl. Guardini, 1988, passim). Aber es liegt an uns, die wir in dieser Gegenwart leben, die Möglichkeiten des Anfanges zu ergreifen und zu nutzen, ein neues Denken, eine neue Philosophie und Ethik, eine neue Wissenschaft und Kultur hervorzubringen. Die anbrechende Zeit verlangt uns neue Tugenden ab, die Guardini benennt: Ernst, Tapferkeit und Askese (vgl. Guardini, 1995, 77f).

Darunter kann sich der durchschnittliche Smartphone-Nutzer, der Inbegriff des Menschen der Masse, erst einmal wenig vorstellen. Spätestens als sich der erste Angehörige der Generation Y ein ironisches Tattoo quer über den Nacken stechen ließ, so könnte man meinen, sei der Ernst für immer aus der westlichen Welt verschwunden. Ernst kann angesichts der um sich greifenden Ironisierung gar nicht mehr ausgehalten werden. Tapferkeit begegnet uns höchstens noch, wenn es darum geht, ohne Budget zu einer Rucksacktour nach Indien aufzubrechen und Askese verbirgt sich vielleicht in regulativen Lebensstilen wie dem Veganismus. Mit der mittelalterlichen Gestalt des bleichen Asketen, die dieses schöne alte Wort bezeichnet, hat der Berlin-Mitte-Veganer allerdings wenig gemein. Es steht demnach infrage, ob sich jene Kategorien, mit denen Guardini 1950 andeuten wollte, dass noch nicht alles verloren sei, überhaupt auf das 21. Jahrhundert anwenden lassen.

Aber Guardini liegt es fern, seinem Leser schlicht einen regulativen Lebensstil zur Lösung der Krise vorzuschlagen. Seine Haltung ist die der nachdenklichen Feinfühligkeit. So sind Ernst, Tapferkeit und Askese in seinem Denken keine reaktionären Begriffe, die mit den Mitteln der Nostalgie eine gute alte Zeit heraufbeschwören, sondern Anleihen am Vergangenen, die als Wegweiser des Zukünftigen neue Bedeutung erlangen. Er tastet sich an eine wünschenswerte Geisteshaltung heran, durch die der Mensch in die Lage versetzt werden soll, die Möglichkeiten der neuen Zeit zu ergreifen. Der Ernsthafte „will wissen, worum es wirklich geht“; er „übernimmt die Verantwortung, welche die neue Situation ihm auferlegt“ (ebd., 78). Ernsthaftigkeit bedeutet, die Fragen und diejenigen, die sie stellen, die Krisen und diejenigen, die von ihnen betroffen sind, wichtig zu nehmen und nicht mithilfe der Floskeln des allgemeinen Geredes buchstäblich wegzuerklären. Zu diesem Gerede zählen durchaus auch die erwähnte Pathetik der Krise und die Ironisierung des Abendlandes; dazu gehören das Sprechen vom Weltuntergang, der Utopismus und die Ideologisierung von Problemen, die vielmehr durch Nachdenklichkeit angegangen werden müssten. Ernsthaftigkeit hieße, wollte man eine politische Position daraus ableiten, sich nicht von verhärteten, sich inzwischen auch parteilich abbildenden Fronten die eigene Meinungsbildung abnehmen zu lassen. Ernsthaftigkeit ist nichts anderes als die neue Aufklärung.

Tapferkeit, die zweite Tugend, ist jene Haltung, die die Ernsthaftigkeit überhaupt erst ermöglicht. Der Tapfere hat nämlich „die Vielen gegen sich, die Öffentlichkeit, die in Parolen und Organisationen verdichtete Unwahrheit“ (ebd.). Um genau zu sein, handelt es sich hierbei nicht nur um eine einzige Unwahrheit, sondern um ein ganzes sich bildendes Chaos von falschen Einsichten und Behauptungen, die überall, heute nicht zuletzt im Internet, lautstark und mit Überzeugung verbreitet werden. Hier kommt schließlich die Askese ins Spiel. „Der Mensch muss lernen, durch Überwindung und Entsagung Herr über sich selbst zu werden – und dadurch auch Herr zu werden über seine eigene Macht.“ (Ebd.) Was Guardini beschreibt, ist keine obszöne Lust am Verzicht und nicht einmal die Abwendung von beispielsweise digitalen Kulturtechniken, sondern das Einüben von Zurückhaltung, das Kultivieren von Zögerlichkeit, gerade in Situationen und Kontexten, die dazu verführen, in die Kakophonie der Unwahrheit miteinzustimmen. Denn dies gilt es zu verstehen: Der Fortschrittsoptimismus der Neuzeit war ein Irrtum. „Der Menschengeist ist frei, Gutes wie Böses zu tun, zu bauen wie zu zerstören. Und dieses Negative ist […] negativ im sauberen Sinn des Wortes: es wird getan, obwohl es nicht getan zu werden brauchte, obwohl anderes, Richtiges, getan werden könnte.“ (Ebd., 67)

Der Asket in seiner Ernsthaftigkeit und Tapferkeit ist der Held der neuen Zeit. Er mag kein strahlender Held, kein Idol, kein glorreicher Retter sein. Er steht gerade nicht im Mittelpunkt des Geschehens, sondern vielmehr am Rand und betrachtet von dort aus das Chaos, das sich ihm darbietet. Seine Heldenhaftigkeit besteht darin, dann Fragen zu stellen, wenn andere längst Antworten geben, Zurückhaltung zu üben, wo andere sich tatendurstig ins Geschehen stürzen, und tapfer zu bleiben, auch wenn sich alles gegen ihn und seine scheinbare Nutzlosigkeit zu wenden scheint. Können wir heute, 68 Jahre nach dem Erscheinen des „Endes der Neuzeit“, mit einem solchen Helden etwas anfangen? Gerade weil wir allseits hören, das Weltende zeichne sich ab, sollten wir einen Augenblick von der symbolischen und realen Gewalt, die an allen Orten aus Tatendrang verübt wird, zurücktreten und es schlichtweg versuchen. Wir könnten lernen, das Neue, mit dem wir im Augenblick verzweifelt ringen, zu verstehen und in ihm zu leben. Und könnte dies nicht vielleicht doch die beste aller möglichen Welten sein: eine Welt, in der wir uns und die anderen, die Natur und vielleicht sogar Gott, so es ihn gibt, als zerbrechlich erfahren? Könnten wir in einer solchen Welt nicht auch das Lieben neu lernen, ernsthafter, tiefer, inniger und freier als zuvor? Ein solches Lieben jedenfalls, „das vom Einsamen zum Einsamen geht“ (ebd., 94) und seine Zuneigung gerade auf das Zerbrechliche richtet, würde uns lehren, unsere Macht, deren Unermesslichkeit wir in den letzten 100 Jahren erfahren mussten, als Verantwortung zu begreifen.

 

Literatur

H. Blumenberg, Nachdenklichkeit. Dankrede anlässlich der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises. 1980, unter: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/dankrede (abgerufen am 24.08.2018). E. Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit. Paderborn 2012.

Greenpeace, Plastik im Meer, 2016, unter: https://www.greenpeace.de/files/publications/20160405_greenpeace_factsheet_plastik.pdf (abgerufen am 24.08.2018).

R. Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung. Mainz/Paderborn 31995.

R. Guardini, Europa, Wirklichkeit und Aufgabe: Rede Romano Guardinis nach der Verleihung des „Praemium Erasmianum“ zu Brüssel am 28. April 1962, München 1988.

A. Havekamp u. F. Prinz, Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1. Stuttgart 2001.

J. H. J. Van der Pot, Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte. Eine systematische Übersicht der Theorien und Auffassungen, Leiden/Boston/Köln 1999.

S. Žižek, Living in the End Times. London/New York 2010.