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Nr. 1 / 2021
Philosophie am Kröpcke

Sind Sie solidarisch?

Philosophie – eine Wissenschaft im Elfenbeinturm? Weit gefehlt! Das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover macht es sich für jede neue Ausgabe des Journals zur Aufgabe, herauszufinden, was die Menschen auf der Straße von den philosophischen Fragen halten, die im Institut erforscht werden. Pünktlich vor Redaktionsschluss führen wir dementsprechend eine streng wissenschaftlich kontrollierte Studie durch: Wir schreiten zum Kröpcke, der Agora Hannovers, und stellen allen Passant*innen, die uns über den Weg laufen, dieselbe Frage – jedenfalls normalerweise. In Zeiten der Pandemie haben wir den Marktplatz kurzerhand virtualisiert und Menschen im digitalen Raum auf ein kurzes Gespräch angehalten. Auf den Spuren des Sokrates, aber bar jeder Ironie.

In Zeiten der Krise ist Solidarität kein unwichtiges Stichwort. Im Rahmen der politischen Maßnahmen sind wir gesetzlich dazu verpflichtet, unsere persönliche Freiheit zum Wohl des Kollektivs einzuschränken. Aber wie steht es um die Solidarität außerhalb der Krise? Wie zeigt sie sich im Alltag und welche Rolle spielt die eigene Betroffenheit dabei? Also: Sind Sie solidarisch? Auszüge der geführten Gespräche lesen Sie hier.*

*  Alle Namen sind frei erfunden.

 

weiter denken: Sind Sie solidarisch?

Luis: Ja, schon, aber mir ist dabei auch bewusst, dass ich nicht jedes Problem lösen kann. Aber bei den Dingen, die mir in meinem Leben begegnen, bei denen ich solidarisch sein muss, bin ich es dann auch.

weiter denken: Und was machen Sie dann?

Luis: Also es äußert sich schon in kleinen Dingen, wenn mich jemand nach Hilfe fragt oder ich sehe, dass jemand gerade Hilfe benötigt. Aber ich finde, dass sich Solidarität auch passiv zeigen kann. Ich arbeite zum Beispiel in einer Gewerkschaft und die steht per Definition schon für Solidarität. Ich trage durch meine Arbeit nämlich einen Teil zur insgesamt solidarischen Arbeit der Gewerkschaft bei und helfe damit indirekt. Aber wichtiger ist, trotzdem aktiv zu handeln.

Maya: Ich finde schon, dass ich solidarisch bin, weil ich oft, teilweise sogar zu oft, also in selbstschädigendem Maße, die Probleme anderer zu meinen mache (lacht). Ich weiß auch, dass ich damit nicht immer erfolgreich bin, aber ich möchte dennoch zumindest unterstützend wirken, wenn ich merke, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.

weiter denken: Was sollte denn dann getan werden?

Maya: Ich finde, die Gewissheit zu haben, dass jemand, der eigentlich nichts mit meinem Problem zu tun hat, gerade für mich einsteht und es für genauso wichtig empfindet wie ich, reicht erst einmal. Mit welchen Mitteln dann darüber hinaus gehandelt wird, hängt dann noch einmal vom Fall ab. Emotionaler Beistand ist wichtig, aber natürlich funktionieren einige Dinge in der Welt auch nicht ohne Geld. Also Geld zu spenden könnte auf jeden Fall auch ein Ausdruck von Solidarität sein. Aber unabhängig davon: Klar, jeder Mensch verdient Solidarität, aber insbesondere, finde ich, spielt sie bei Minderheiten und bei Menschen, die ohne eigenes Verschulden in einem Zustand der Ungerechtigkeit leben, eine Rolle.

Eduardo: Ich weiß nicht. Ich würde sagen, dass ich solidarisch bin, aber in Grenzen. Solidarität heißt für mich „Für die Probleme anderer eintreten“ und das würde ich bei meinen Freunden und meiner Familie auch machen.

weiter denken: Und was ist mit allen übrigen Menschen?

Eduardo: Also eine Regel gibt es da nicht, aber ich würde es in erster Linie für die Menschen tun, die ich liebe. Menschen sind nun einmal egoistisch. In Situationen, in denen man solidarisch sein könnte, sind es die meisten Menschen einfach aus Bequemlichkeit nicht. Das würde ich auch zweifelsfrei auf mich übertragen. Bewusst ist mir aber trotzdem, welche Handlungen falsch sind.

Selin: Ja, ich bin grundsätzlich solidarisch, würde ich sagen. Vor allem, wenn es um Spenden und finanzielle Hilfen geht. Ich denke, dass bei so viel Geld, das wir für unnötigen Kram ausgeben, das Spenden des Geldes für etwas Sinnvolles einfach angemessener ist. Natürlich gibt es aber einen Punkt, an dem meine finanzielle Solidarität einfach ausgeschöpft ist. Genauso wenig würde ich mein Geld blind an eine beliebige Spendenaktion geben.

weiter denken: Muss denn Geld gespendet werden, um solidarisch zu sein?

Selin: Nein, natürlich nicht. Solidarität äußert sich nicht bloß in Spenden. Schließlich gibt es auch gesellschaftliche Probleme, die nicht mit Geld gelöst werden können. Dann muss man eher emotional solidarisch bzw. emphatisch sein.

weiter denken: Muss man oder sollte man?

Selin: Ich finde schon, dass man teilweise muss. Es gibt ja sogar gesetzliche Vorschriften, dass man zum Beispiel bei einem Autounfall helfen muss, und in diesem Fall wäre dann unterlassene Hilfeleistung bzw. fehlende Solidarität strafbar. Gerade auch seit Corona ist Solidarität von staatlicher Ebene mehr geworden, denn es gibt jetzt zum Beispiel finanzielle Überbrückungshilfen. Darüber hinaus gilt auch auf Bürgerebene, dass man sich an die Maßnahmen hält, seine Maske trägt usw. Das stellt einerseits eine gesetzliche, aber auch eine moralische Verpflichtung dar.

Malek: Ich muss ehrlich zugeben, dass ich meistens zweimal überlege, wie ich handeln soll, wenn ich die Menschen nicht kenne. Wenn eine alte Dame in den Bus kommt und ich sitze, dann stehe ich auf und biete ihr meinen Platz an, keine Frage. Wenn es dann aber um körperliche Übergriffe geht oder einen Menschen, der stark alkoholisiert durch die Fußgängerzone läuft und andere verbal belästigt, dann würde ich, denke ich, nicht den ersten Schritt machen. Man ist dann etwas vorsichtiger, weil es dann auch um das eigene Wohl geht und sich Angst entwickelt. Aber an sich stellt Solidarität auf jeden Fall eine Tugend dar.

Isabell: Also wenn jemand diskriminiert wird oder benachteiligt, bin ich meist die Erste, die dazwischen geht, und halte da auch selten meinen Mund. Das ist auch unabhängig davon, was für Folgen das für mich hätte. Wenn etwas falsch ist, ist es falsch, und das kommuniziere ich auch. Wenn ich mir aber von Politiker*innen anhören muss, wie schwer es doch sei, der ganzen Arbeit nachzukommen, die die Pandemie in Deutschland verursacht, dann erwische ich mich dabei, wie ich meine Augen verdrehe, weil dies Klage in Relation zum Leid anderer Menschen lächerlich ist. Diese Person hat eine ganz andere Stellung in der Gesellschaft. Vor allem finde ich auch, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen aktuell überhaupt nicht mitgedacht werden, und das ist alles andere als solidarisch. Ich fühle mich als Studentin aktuell total ignoriert von der Regierung. Wir existieren in der gegenwärtigen Politik gar nicht. Auch unabhängig von uns Studenten ist die gesamte Struktur der Gesellschaft darauf ausgelegt, dass eine Hierarchie zwischen den Menschen herrscht, und da muss, zum Beispiel mit Solidarität, entgegengewirkt werden. Das heißt aber auch Handeln, weil, so blöd es auch klingen mag, Klatschen bringt mir auch nichts. Genauso werden auch Themen, die nichts mit Corona zu tun haben, aktuell total ausgeblendet.

weiter denken: Meinen Sie, dass das damit zusammenhängen könnte, dass wir als deutsche Bevölkerung einfach mehr von Corona betroffen sind als von anderen Problemen?

Isabell: Ja, aber die Frage, ob und wie stark man selbst von einem Problem betroffen ist, sollte bei Solidarität keine Rolle spielen. Nur leider ist meistens das Gegenteil der Fall, weil ich auch genug Menschen kenne, die dann sagen: „Da habe ich nichts mit zu tun und deshalb interessiert es mich erstmal auch nicht.“

 

Die Fragen stellte Elisa Lara Yildirim.