Bild der Startseite
Nr. 1 / 2021
Buchempfehlung

Jan P. Beckmann: Autonomie. Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft

Autonomie ist einer der Schlüsselbegriffe der Ethik. Gerade in medizinethischen Diskursen zu Fragen der Reproduktionsmedizin, Entscheidungen zum Lebensende oder zum Umgang mit schwerer Krankheit stellt sich die Frage nach der Wahrung der Autonomie. Ähnliches gilt für den mit der Autonomie verwandten Begriff der Selbstbestimmung – so spricht der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zu Therapien am Lebensende (2006) beispielsweise von „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“. Jan P. Beckmann greift in seinem 2020 erschienenen Buch „Autonomie. Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft“ eben diesen Diskurs auf, um das Konzept der Autonomie begrifflich zu schärfen und ausgehend von konkreten Fragestellungen zu entwickeln. Damit möchte er eine neue Klarheit in die Debatten der Zeit bringen. Mit der Autonomie verwandte Begriffe der Selbstbestimmung, der Menschenwürde und der Menschenrechte möchte er dabei vom Begriff der Autonomie abgrenzen und aufzeigen, wie diese aber trotzdem im Verhältnis zueinanderstehen. Davon ausgehend formuliert er anhand aktueller individual- und kollektivethischer Fragestellungen eine Ethik der Autonomie und Menschenwürde. Beispiele der Bioethik, der Beihilfe zum Suizid, des Hirntodkriteriums, der Reproduktionsmedizin, der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, der Tendenzen im Wissenschaftsbetrieb und die Frage nach einer gemeinsamen Ethik für Mensch und Tier leiten dabei durch das Buch.

Zunächst schafft Beckmann für die genannten Sachbeispiele einen theoretischen Unterbau, indem er Begriffe und Konzepte klärt und differenziert. Er beginnt hierfür mit der allgemeinsprachlichen Verwendung der häufig synonym gebrauchten Begriffe Autonomie und Selbstbestimmung. Dieser Verwendung steht er kritisch gegenüber: Autonomie werde, so Beckmann, als uneingeschränkte Emanzipation des Individuums von Gesellschaft gelesen und als Funktion von Selbstbestimmung verstanden. Dabei, und hier liest man Beckmanns kantianische Prägung deutlich heraus, sei Autonomie aber keine Fähigkeit, die der Manifestierung bedarf, sondern eine Selbstgesetzlichkeit, die dem Menschen durch das Menschsein zukomme. Sie besteht somit von Anfang bis Ende des Lebens und ist unabhängig davon, ob sie in Anspruch genommen wird oder nicht.

Somit stellt er sich gegen ein Verständnis einer sich in Stufen ausprägenden Autonomie, die sich in der allgemeinsprachlichen Verwendung des Begriffs häufig wiederfinde: Je stärker, selbstbewusster und unabhängiger ein Mensch sei, desto autonomer sei dieser. In diesem Verständnis gebe es autonome Menschen, die stark und unabhängig sind und weniger autonome Menschen, die schwachen, kranken und auf Hilfe angewiesenen Menschen. Für Beckmanns Autonomieverständnis ist aber jeder Mensch immer schon als Mensch autonom. Autonomie beschreibt für ihn somit die menschliche Verfasstheit und nicht eine Fähigkeit: Der Mensch sei autonom, er besitze Autonomie nicht.

Von dieser autonomen menschlichen Verfasstheit grenzt Beckmann Selbstbestimmung ab: Selbstbestimmung sei die Manifestation der Autonomie, durch die der Mensch über sich selbst bestimmt – der Mensch ist hierbei sowohl Subjekt als auch Objekt. Für diese Fähigkeit der Selbstbestimmung sei die Autonomie jedoch ursächlich und logisch vorrangig: „Nicht weil und wenn der Mensch über sich selbst zu bestimmen vermag, ist er autonom, sondern weil er autonom ist, besitzt er das Recht über sich selbst zu bestimmen“ (26 f.). Anders als es die allgemeinsprachliche Verwendung des Wortes nahelegt, heißt autonom für Beckmann in diesem Sinne auch keine Unabhängigkeit von anderen, sondern immer schon eine Autonomie innerhalb einer menschlichen Mitwelt. Sodann behandelt Beckmann die Menschenwürde: Auch diese sei wie die Autonomie ein Zweck an sich, sie müsse also aus ihrer intrinsischen Geltung heraus verstanden werden. Autonomie und Menschenwürde seien zwei Seiten derselben Medaille: in ihrer anthropologischen Bestimmung und ihrer Gegebenheit als Fundamentalnorm ähnlich, aber nicht identisch. Die Autonomie sei nämlich immer schon durch die Autonomie der anderen Menschen begrenzt, die Menschenwürde nicht. Letztere schließe vielmehr die Würde der Mitmenschen ein.

Mit dieser theoretischen Grundlage wendet sich Beckmann verschiedenen Sachbeispielen aus aktuellen Diskursen der Ethik zu und blickt von verschiedenen Perspektiven auf die Fragestellungen: Die normativen Analysen beinhalten sowohl die juristische Perspektive und die aktuelle Gesetzgebung als auch begriffliche Differenzierungen sowie die politischen und ethischen Diskussionen, die zum Thema stattgefunden haben. Bemerkenswert ist dabei, dass er eine praxisnahe, angewandte Ethik mit Handlungsempfehlungen entwirft und nicht bei einer kantianischen Kritik am Utilitarismus stehen bleibt.

Dabei nimmt der Text an manchen Stellen unerwartete Wendungen, wenn sich Beckmann beispielsweise beim Thema der Reproduktionsmedizin oder des Hirntodkriteriums entgegen seiner zuvor getroffenen begrifflichen Fixierungen darum bemüht, ohne harte Setzungen für die Fragen nach Beginn oder Ende des Lebens vorzugehen. Stattdessen stellt er die Prozesshaftigkeit des menschlichen Lebens in den Vordergrund. Anstelle der Frage, was ein Embryo ist, gelte es zu untersuchen, wie mit den unterschiedlichen Phasen des Prozesses der Entwicklung umzugehen ist: „Was folgt für die Frage nach dem Lebensanfang des Menschen, wenn man nicht das Sein des Embryos in den Vordergrund stellt, sondern denselben als Prozess versteht?“ (135). Diesen Wechsel in der Methodik begründet er mit der Aussicht auf ein höheres Konsenspotenzial und eine höhere Differenzierungsmöglichkeit für konkrete Fälle. Ähnlich verfährt er auch bei der Frage nach dem Lebensende: Hier schlägt er eine Verschiebung von der ontologischen und anthropologischen Sichtweise hin zu einer Umgangsanalyse vor. Das heißt, statt danach zu fragen, wann der Mensch tot ist, sollte gefragt werden, wie wir uns als Menschen verstehen, wenn wir jeglicher Hirnfunktion beraubt sind. Auch hier betont Beckmann das Konsenspotenzial einer auf Umgangsanalysen bestehenden Entscheidungsfindung statt einer Wesensbestimmung. Diese Methodik führt aus dem Dilemma heraus, dass je nach Welt- und Menschenbild Lebensanfang und Lebensende verschiedentlich gesetzt werden. In dieser pragmatischen Suche nach Konsens liegt die große Stärke von Beckmanns Abhandlung.

Auch in anderen Kapiteln bleibt er dieser mit logisch-systematischen Analysen verbundenen pragmatischen Herangehensweise treu, indem er beispielsweise nicht fragt, ob es richtig oder falsch ist, seinen Willen mithilfe einer Patientenverfügung für die Zukunft zu bestimmen, sondern, wie sich das Patientenverfügungsgesetz ethisch vor dem Hintergrund der Autonomie verwirklichen lässt. Interessant sind hierbei die analytischen Differenzierungen, die er eröffnet: Es gehe im Fall einer Patientenverfügung nicht darum zu wissen, was man in Zukunft wollen wird, sondern dass man möchte, dass der jetzige Wille auch in Zukunft Geltung habe. Auch bei dem vieldiskutierten Thema der Tierrechte nimmt er eine vermittelnde Stellung ein, indem er die Diskussion um Selbstbewusstsein, Wille und Kognition von Tieren hintanstellt und stattdessen wieder auf eine konsenswahrscheinliche Annahme verweist: Der Mensch ist durchaus in der Lage zu begreifen, dass man Tieren keine Schmerzen bereiten sollte. Er entkoppelt somit den Diskurs von der Frage darum, wie ähnlich Tiere Menschen sind, und lenkt den Fokus auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: dass man sich darauf einigen könne, dass Tiere zumindest einen für den Menschen wahrnehmbaren Schmerz empfinden. Dem Menschen falle somit die Aufgabe zu, „Tiere als Mitlebewesen zu behandeln“ (380). Von dieser Grundlage aus müsse Leidvermeidung auf Seiten der Tiere und Leidvermeidung auf Seiten der Menschen je nach Fall abgewogen werden.

Beckmanns Werk ist eine klar formulierte, gut strukturierte Abhandlung zum Thema Autonomie und zu Fragestellungen der aktuellen Angewandten Ethik. Es besticht vor allem durch die intrinsische Schlüssigkeit und die pragmatische Herangehensweise und die damit verbundene praktische Anwendbarkeit. Allerdings liegt darin zugleich die Schwäche: Wie auch in anderen Texten der Angewandten Ethik finden nach der Klärung des eigenen theoretischen Rahmens selten weitere Kontextualisierungen der eigenen Begründungen statt. So vermisst man in Beckmanns Buch zuweilen ein selbstreflexives Moment. Seine Schlüsse klingen an diesen Stellen vermeintlich alternativlos – was sie auch sind, aber nur innerhalb des im Buch ausgelegten Systems. Dasssie aber historisch-kulturell einen westlichen Subjektivitäts- und Autonomiebegriff voraussetzen und sich vornehmlich in einem deontologischen Bezugssystem bewegen, könnte deutlicher offengelegt werden.

Allerdings ist es nicht Anspruch des Autors, die behandelten Diskurse und Begriffe von dieser Seite zu beleuchten und die Vielzahl an Meinungen und verschiedenen Herangehensweisen darzulegen. Sein Vorhaben ist vielmehr, von einer Fundamentalnorm ausgehend einen klaren Beitrag zu den Diskussionen zu leisten und diese Perspektive logisch zu Ende zu denken. Die Darstellung weiterer möglicher Meinungen und Positionen zu den Themen hätte von seinem Unterfangen abgelenkt. Wer das Interesse hat, vom Standpunkt der Autonomie verschiedene aktuelle Fragestellungen zu analysieren, wird in Beckmanns Buch „Autonomie. Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft“ eine schlüssig argumentierte Darstellung mit konkreten Antworten und Positionierungen finden.

Jan P. Beckmann: Autonomie. Aktuelle ethische Herausforderungen der Gesellschaft, Karl Alber Verlag, Freiburg/München 2020