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Nr. 1 / 2021
Ein Wand besprayt mit bunten Formen
Interview

Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive. Ein Gespräch mit Anke Graneß

Im April 2019 startete an der Universität Hildesheim das Reinhart Koselleck-Projekt „Geschichten der Philosophie in globaler Perspektive“. Im Rahmen des Projekts soll unter anderem untersucht werden, wie sich ab dem 18. Jahrhundert ein Kanon der Philosophie durch die systematische Exklusion außereuropäischer Philosophien herausbildete. Frau Graneß, was sind die ersten Ergebnisse des Forschungsprojektes? Haben wir uns seit 300 Jahren eine falsche Geschichte der Philosophie erzählt?

Mit Begriffen wie ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ würde ich im Zusammenhang mit Narrativen zur Geschichte der Philosophie nicht operieren wollen. Der Punkt ist vielmehr zu verstehen, dass es sehr verschiedene Möglichkeiten gibt, die Geschichte dessen, was wir als Philosophie bezeichnen, zu erzählen. Diese Erzählungen gehen immer mit Ein- und Ausschließungen einher, abhängig von dem, was jeweils unter Philosophie verstanden wird. Charakteristisch für die heute dominante Erzählung der Philosophiegeschichte, wie wir sie aus dem Unterricht oder aus Büchern kennen, ist, dass sie mit einem zunehmend verengten Blick einhergeht. Denn ausgeschlossen oder abgewertet wurden und werden ja nicht nur außereuropäische Philosophietraditionen und Philosophinnen, sondern auch weisheitliches Denken sowie viele verschiedene Formen, in denen sich Philosophie über Jahrhunderte ausgedrückt hat, wie Meditationen, das Gespräch oder verschiedene ästhetische Praktiken, sodass am Ende nur noch Texte in Form eines philosophischen Traktats übrig blieben. Ich würde also eher von verengten und offenen Perspektiven auf die Philosophiegeschichte sprechen und nicht von richtig oder falsch. Dabei sehe ich allerdings die heute vorherrschende verengte Perspektive kritisch, und zwar nicht nur, da man damit die Bedeutung des Denkens von Frauen und vieler außereuropäischer Philosophietraditionen für die Philosophie ignoriert und zudem deren Beitrag zur Herausbildung dessen, was wir heute unter europäischer Philosophietradition verstehen, verschleiert. Ein verengter Blick bedeutet letztlich eine unnötige Selbstbeschränkung des Denkens und verunmöglicht es uns, über unseren europäisch-provinziellen Tellerrand hinauszublicken.

Deutlich wurde bei unserer Sammlung von Philosophiegeschichten durch die Jahrhunderte und in den verschiedensten Sprachen, dass auch in Europa lange Zeit eine Vielfalt von Erzählungen nebeneinander konkurrierend bestand. Es gab ja nicht nur einen Diogenes Laertius, sondern auch einen Clemens von Alexandrien, der den Ursprung der Philosophie allerdings nicht bei Thales, sondern bei den Hebräern ansiedelt, also vor den Griechen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde die Ansicht, dass Philosophie bereits vor den Griechen vorhanden war, häufig vertreten. Dazu gehören Philosophen wie Johannes Ludovicu Vives (1518), Johann Wilhelm Zierold (1700), Gottlieb Stolle (1714) oder Jacob Brucker (1742-1744). Zierold argumentiert, dass das Hebräische die älteste Sprache und somit Mutter aller anderen Sprachen sei, in welcher die wahre Weisheit verborgen liege. So hätten Pythagoras und Platon von den Hebräern ebenso wie von den Ägyptern gelernt. Und Stolle argumentiert, dass die Erzählung der Geschichte der Philosophie bei den Chaldäern, Persern, Phönizern, Arabern, Chinesen, Indianern, Äthiopiern und Ägyptern beginnen müsse. Betrachten wir die Debatten in Europa über die Jahrhunderte, werden wir Zeugen eines Kanonisierungsprozesses, in dem die These vom Ursprung der Philosophie im antiken Griechenland erst im 18. Jahrhundert dominant wurde. Heute gilt die These, dass Philosophie im antiken Griechenland entstand, als evident. Dabei werden andere Erzählungen der Geschichte der Philosophie innerhalb und außerhalb Europas gar nicht mehr wahrgenommen oder es wird so getan, als gäbe es gar keine andere Möglichkeit, diese Geschichte zu erzählen. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigen die gesammelten Werke in unserer Datenbank deutlich. Darüber hinaus ignoriert die als evident angenommene These ihre eigene historische Gewordenheit ebenso wie die Probleme und Fragen, die damit einhergehen: Zum Beispiel wissen wir von Thales und vielen anderen Vorsokratikern nur vom Hörensagen. Sie selbst haben uns keine Texte überliefert. Im Grunde ist die Geschichte des Thales inzwischen so oft erzählt worden, dass sie heute als historischer Fakt gilt. Überprüft werden kann eigentlich nicht, ob Thales eine historische Gestalt war oder nicht. Genau betrachtet gründet unsere eigene Philosophiegeschichte zu einem großen Teil auf oral übermittelten Geschichten und handelt dabei oft von Männern, die zugleich Priester eines Orakels waren. Dass sich die europäische Philosophiegeschichtsschreibung angesichts ihres eigenen Ursprungs heute mit der Einbeziehung oraler Philosophietraditionen außerhalb Europas schwertut, ist eigentlich erstaunlich.

Übrigens finden wir doxographische Sammlungen in ähnlich frühen Jahrhunderten wie in Europa auch in Indien oder in China, zum Teil sogar noch deutlich früher. Der auf Vielsprachigkeit gegründete Ansatz unseres Forschungsprojektes fördert hier Literatur zutage, die in der traditionellen Philosophiegeschichtsschreibung Europas bisher nicht berücksichtigt wurde und auch in den Regionalwissenschaften nur Spezialisten bekannt ist. Hier liegt eine große Stärke unseres Forschungsprojektes: Wir sammeln und veröffentlichen auf unseren Webseiten philosophiehistorische Werke aus anderen Regionen der Welt, die bisher gar nicht wahrgenommen wurden. So zum Beispiel auf Arabisch, Persisch, Chinesisch, Japanisch und Koreanisch. Gerade diese Ansätze müssen aber für eine globale Philosophiegeschichtsschreibung genauso untersucht werden wie die europäische Tradition.

 

Ist es überhaupt noch sinnvoll, angesichts der Vielfalt von Medien und Themen am Begriff der „Philosophie“ festzuhalten?

Ja, natürlich. Zunächst sollten wir uns dabei nochmals vor Augen führen, dass der Begriff der Philosophie durch die Jahrhunderte in Europa vielfältige Veränderungen erfahren hat. Das, was wir heute unter Philosophie verstehen, deckt sich in vielen Aspekten nicht mit dem, was vor 500 Jahren oder noch früher unter Philosophie verstanden wurde. Allein die Breite des Wissens, das einst als Philosophie bezeichnet wurde und fast die gesamten Wissenschaften umfasste, macht dies deutlich. Insbesondere in den letzten 200 Jahren hat ein Ausdifferenzierungsprozess in den Wissenschaften stattgefunden, der es mit sich gebracht hat, dass mehrere Arten des Wissens bzw. der Wissenschaften aus der Philosophie herausgetreten sind und eine eigene Wissenschaft begründet haben – von der Physik bis hin zur Psychologie. Das, was unter Philosophie verstanden wurde, hat sich über die letzten Jahrhunderte immer mehr eingeengt.

Trotzdem würde ich den Philosophiebegriff nicht aufgeben wollen, denn damit versuchen wir eine bestimmte Art des Wissens, die sich in verschiedenen Theorien und Praktiken manifestiert, zu beschreiben. Diese Art des Wissens lässt sich von anderen Wissensformen – und Disziplinen – unterscheiden. Solche Abgrenzungen sind aufgrund vieler Überschneidungen oft nicht einfach – und doch gibt es bestimmte Kriterien, die insbesondere für ein philosophisches Herangehen kennzeichnend sind. Für mich ist Philosophieren ein kritisches Hinterfragen und Abstandnehmen vom Gegebenen. So werfen heute vor allem Philosoph*innen einen kritischen Blick auf das inzwischen wissenschaftlich und technisch Machbare (z.B. in der Medizin oder hinsichtlich der Digitalisierung unseres Lebens) und den ethischen Rahmen menschlichen Handelns.

Im Grunde versuchen wir mit unserem Projekt, einen in den letzten Jahren zunehmend verengten Philosophiebegriff, der in extremen Auslegungen nur noch Sprachanalysen umfasst, wieder zu öffnen unter Einbeziehung der philosophischen Traditionen aus anderen Regionen der Welt und des philosophischen Wissens der Frauen. Dass sich damit das im Moment vorherrschende Verständnis von Philosophie verändern wird, ist anzunehmen. Da der Begriff der Philosophie in den letzten Jahrhunderten allerdings vielfache Veränderungen und Entwicklungen erfahren hat, ist das ein normaler Prozess der Weiterentwicklung. Auch der Widerstand gegen solche Veränderungen gehört im Übrigen zu solchen Prozessen.

 

Da das Projekt etablierte Narrative der Überlegenheit und damit Herrschaftsverhältnisse hinterfragt, stellt sich die Frage, vor welchen Herausforderungen Sie stehen und auf welche Widerstände – auch innerhalb der Philosophie und ihren Institutionen – Sie gestoßen sind?

Die Widerstände an den Philosophieinstituten sind vielfältig: Vom Absprechen der Relevanz für das Fach Philosophie bis zum Vorwurf, dass unsere Themen und Forschungsobjekte mit Philosophie nichts zu tun haben, haben wohl alle Kolleg*innen, die im Bereich der interkulturellen Philosophie arbeiten, ihre Erfahrungen gemacht. Dies spiegelt sich auch darin, dass es im deutschsprachigen Raum kaum Professuren zu außereuropäischen Philosophietraditionen oder zur interkulturellen Philosophie gibt. In dieser Hinsicht sind Philosophieinstitute in den USA bereits ganz anders aufgestellt. Der deutschsprachige Raum hinkt in der Frage der Diversität von Forschung und Lehre in der Philosophie stark hinterher und ist mit den Entwicklungen in der anglophonen Welt nicht konkurrenzfähig. Da haben wir, die in den letzten Jahrzehnten im Grunde genommen der analytischen Philosophie hinterhergelaufen sind, tatsächlich bereits den Anschluss verloren.

Aber die Philosophieinstitute sind nur die eine Seite. Die andere Seite ist die Ausrichtung großer Institutionen der Forschungsförderung, die sich in den letzten Jahren verstärkt der Förderung von Forschung gewidmet haben, die einen globalen Ansatz vertritt. Dazu gehört auch unser großzügig durch die DFG gefördertes Forschungsprojekt. In anderen institutionellen Formen erfährt die Förderung eines globalen Ansatzes in der Philosophie und ihrer Geschichte große Unterstützung. Dazu gehören auch traditionsreiche Publikationsprojekte wie der Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie, das deutsche Standardwerk der Philosophiegeschichte, das inzwischen mehrere Bände zur islamischen Philosophie im Programm hat und in der zukünftigen Planung auch Südamerika, Afrika und Ostasien berücksichtigt. Das sind alles sehr ermutigende Schritte, die früher oder später auch zu einem Umdenken an den Philosophieinstituten deutscher Universitäten führen werden. Zu guter Letzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass auch der Druck der Studierenden größer wird, die zunehmend keine Lust mehr haben, ausschließlich mit Texten ‚alter, weißer Männer‘, wie es so schön heißt, konfrontiert zu werden.

Was die Herausforderungen für unser Projekt betrifft, die sind vielfältig: So ist es nicht einfach, Spezialist*innen für die vielen Sprachen, die es zu untersuchen gilt, zu finden. Diese müssen nicht nur über die jeweiligen Sprachkenntnisse verfügen, sondern auch über eine philosophische Ausbildung. Unsere Arbeit gelingt nur durch ein breites Netzwerk von Spezialist*innen weltweit. Zudem sind wir mit vielen methodischen Fragen konfrontiert, die letztlich immer eine Anfrage an oder eine Herausforderung für unser Philosophieverständnis sind: Wie können orale Philosophietraditionen in eine Philosophiegeschichte integriert werden – eine Frage, die nicht nur Afrika betrifft, sondern auch Amerika und bis nach Australien und Neuseeland reicht. Was ist mit der Bedeutung von Autorenschaft? Wie weit müssen die Text-Genres und Praktiken geöffnet werden, um das philosophische Erbe außerhalb Europas zu integrieren? Diese Frage betrifft ebenso das philosophische Erbe von Frauen, die weltweit über Jahrhunderte schwer Zugang zu Bildungsinstitutionen und gesellschaftlichen oder politischen Positionen hatten und sich anderer Genres zum Ausdruck ihrer Gedanken bedienen mussten als dem akademischen Text. Wie ist mit Bezug auf eine globale Philosophiegeschichtsschreibung mit Systemen der Periodisierung, die zum Beispiel in China oder Japan anhand von Dynastien verlaufen und nicht anhand der europäischen Epochen, umzugehen? Und nicht zuletzt, wie könnte ein verflechtungsgeschichtlicher Ansatz, der abbildet, wie sich philosophische Traditionen immer schon über die Grenzen von Nationen, Religionen, Kontinenten und auch Sprachen hinweg befruchtet haben, aussehen? Wie kann so ein Netz von Verflechtungen sinnvoll abgebildet werden? Hier ist noch viel Stoff für Debatten und Forschungen.

 

Einer Ihrer eigenen Forschungsschwerpunkte sind Philosophien in Afrika. Nehmen Sie Unterschiede in der europäischen Rezeption und Marginalisierung arabischer und subsaharischer Philosophien wahr? Und vice versa, wie werden in den jeweiligen Philosophien europäische Traditionen verarbeitet?

In den europäischen Wissenschaften hat sich eine Teilung des afrikanischen Kontinents in Nordafrika, das der islamischen Welt zugerechnet wird, und das Afrika südlich der Sahara verfestigt, die sich heute auch in akademischen Disziplinen niederschlägt, ebenso wie in der Behandlung der Philosophien dieses Kontinents. Während Nordafrika im Rahmen der Philosophiegeschichte der islamischen Welt mitbehandelt wird – sogar recht zentral aufgrund der Bedeutung wichtiger nordafrikanischer Denker wie z.B. Ibn Khaldun –, trifft das auf das Afrika südlich der Sahara nicht zu. Hier werden auch die islamischen Philosophietraditionen, zum Beispiel Westafrikas oder der afrikanischen Ostküste, in Überblickswerken nicht mit behandelt. Dies ist Ausdruck einer allgemeinen Ignoranz der Regionen südlich der Sahara, von denen lange behauptet wurde, dass es dort keine Philosophie geben könne. Grundlage einer solchen Behauptung ist, abgesehen von rassistischen Stereotypen eines dunklen Afrikas der animistischen Traditionen, ein ahistorischer Blick auf das Afrika südlich der Sahara, der sowohl die tausendjährige Tradition der islamischen Reiche in Westafrika als auch die noch ältere Tradition des Christentums in Äthiopien völlig ausblendet. Darüber hinaus haben sich Stereotype bezüglich des Beitrags Afrikas zur Ideengeschichte der Menschheit im Allgemeinen und zur Philosophiegeschichte im Besonderen verfestigt. Dass es keinen Sinn mache, in Afrika nach Philosophie zu suchen, ist ein Vorurteil, das wir bereits bei Hegel ausdrücklich finden und man bis heute gar nicht so selten hört. Insofern ist dieser Teil Afrikas tatsächlich noch marginalisierter als die Philosophie der islamischen Welt, die zumindest in ihrer mittelalterlichen Form als wichtig für die europäische Philosophiegeschichte betrachtet wird.

Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft: Aufgrund der europäischen Expansion, die ab dem 15. Jahrhundert weite Teile der Welt betroffen und zu einer Globalisierung unter europäischer Vorherrschaft geführt hat, die erst seit Kurzem zu bröckeln beginnt und nun vielleicht durch die asiatische Welt ersetzt wird, ist es nicht verwunderlich, dass sich das Modell der europäischen Philosophie als Paradigma für Philosophie schlechthin durchgesetzt hat. Das sagt eigentlich noch nichts über die Qualität oder Überzeugungskraft europäischer Philosophie, sondern nur sehr viel über die Machtposition der europäischen Länder seit der Kolonialzeit. Diese ist auch der Grund dafür, dass europäische Philosophie heute weltweit an allen Philosophieinstituten gelehrt wird, während einheimische Traditionen oftmals eher am Rande unterrichtet und beforscht werden. Eine Ausnahme stellt hier China dar, wo man sich entscheiden kann, ob man chinesische Philosophie studiert oder ‚ausländische‘. Aufgrund der Europäisierung der Bildungsinstitutionen in der Folge des Kolonialismus sind heute weltweit Philosoph*innen und Studierende des Fachs Philosophie gut über die europäische Philosophietradition informiert bzw. darin ausgebildet. Darüber hinaus sind außerhalb dessen, was als ‚westliche Welt‘ bezeichnet wird, sehr viele Philosoph*innen ebenfalls über die philosophischen Traditionen ihrer Herkunftsregionen informiert, die seit einigen Jahren zunehmend in Studienprogramme integriert werden. Zudem sind sie multilingual, da sie neben einer oder mehreren europäischen Sprachen auch eine oder mehrere Sprachen ihrer Herkunftsregion beherrschen. Gerade in Afrika ist das oft der Fall. Insofern ist die Einseitigkeit europäischer und nordamerikanischer Philosoph*innen, die nur über eine Philosophietradition informiert sind und oft auch nur wenige Sprachen oder manchmal nur ihre Muttersprache (Englisch) beherrschen, ein bedauerlicher Zustand, der sich in Zukunft im Wettbewerb um akademische Positionen zunehmend negativ auswirken wird.

Die Fragen stellte Marvin Dreiwes.