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Nr. 1 / 2021
Arabische Philosophie

Die Konturen der zeitgenössischen arabischen Philosophie. Themen und Herausforderungen

Einleitung[1]

Die moderne und zeitgenössische arabische Geistesgeschichte ist ein noch immer wenig erforschtes Feld, auch wenn in den letzten zwei Jahrzehnten das Interesse daran durchaus zugenommen hat. So sind beispielsweise Werke entstanden, die die Nahda-Periode (die als Renaissance bekannte Zeit zwischen Mitte des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts) neu beleuchten und die zeitgenössischen Debatten nach den 1950er‑Jahren kritisch dokumentieren. Gleiches gilt für die moderne und zeitgenössische arabische Philosophie, der als Teil dieser Geistesgeschichte ebenso wenig Beachtung zuteil wird. Eine Geschichte der zeitgenössischen arabischen Philosophie im Rahmen der breiteren arabischen intellektuellen Zeitgeschichte zu schreiben, bleibt somit eine Aufgabe, die aus mindestens zwei Gründen in Angriff zu nehmen ist: Erstens, um eine Bestandsaufnahme der intellektuellen und philosophischen Anstrengungen zu machen, die in den letzten fünf bis sechs Jahrzehnten unternommen wurden. Diese kreisen um ein ganzes Spektrum von Themen, die von der philosophischen Autonomie und Authentizität, über Phänomene der kulturellen Krise, bis hin zu Fragen der Religion, der Vernunft und der Kritik reichen. Zweitens könnte durch diese Bestandsaufnahme ein Bewusstsein der eigenen Geschichte weitergegeben und verbreitet und so das intellektuell-philosophische Denken kritisch weiterentwickelt werden. Allerdings wurde diesen Bereichen nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehre zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Nur selten erhielten sie einen angemessenen Platz in den Lehrplänen von Schulen und Universitäten, sodass Generationen von Araber*innen Bildungseinrichtungen durchlaufen, ohne ein Grundwissen der Debatten ihrer unmittelbaren arabischen Vorgänger*innen oder sogar Zeitgenoss*innen erworben zu haben. Ein solches Wissen würde ihnen ein notwendiges intellektuelles Bewusstsein für ihren eigenen Hintergrund bieten. Als solches schafft es eine Basis, auf der die gegenwärtige Generation ihre eigenen Gedanken und Positionen in Bezug auf die zahlreichen Zwänge, denen sie in ihrer heutigen Welt ausgesetzt ist, aufbauen kann. Die Kuration und Entwicklung der zeitgenössischen arabischen Philosophie als Studienfach kann helfen, solch eine Basis zu schaffen, und dazu beitragen, dieses Bewusstsein der eigenen Geschichte zu schärfen.

In diesem Aufsatz spreche ich drei Hauptthemen an, die mit der Konturierung der zeitgenössischen arabischen Philosophie als Studien- und Forschungsfeld zusammenhängen. Zunächst gehe ich auf Fragen ein, die mit der Lehre der Philosophie an arabischen Universitäten zusammenhängen, wobei ich aus eigener Erfahrung bei der Aufgabe beginne, einen Lehrplan für ein Graduiertenstudium in Philosophie zu entwerfen. Dann diskutiere ich einige der herausragenden philosophischen Themen der zeitgenössischen arabischen philosophischen Debatten. Schließlich weise ich auf einige der größten Herausforderungen hin, mit denen die Teilnehmer*innen dieser Debatten konfrontiert werden.

 

Entwurf eines Lehrplans für die zeitgenössische arabische Philosophie

Als ich vor ein paar Jahren in die Philosophieabteilung des Doha Institute for Graduate Studies kam, wurde ich mit der Gestaltung und Lehre eines Kurses über zeitgenössische arabische Philosophie beauftragt. Das Doha Institute wurde 2015 mit dem Ziel gegründet, ein Masterprogramm in verschiedensten Bereichen wie Geschichte, vergleichende Literaturwissenschaften, Politikwissenschaft, Soziologie und Anthropologie, Linguistik, Entwicklungsökonomie, Medien und Journalismus, Konfliktlösung, Sicherheitsstudien sowie klinische Psychologie und Sozialarbeit für Studierende aus der gesamten arabischen Welt anzubieten. Besonderes Augenmerk wurde auf die sozial- und geisteswissenschaftliche Fakultät und die Interdisziplinarität innerhalb der Fakultät gelegt, um den Studierenden eine abgerundete Ausbildung zu bieten, die ihnen sowohl ein fundiertes Wissen über die arabische Welt als auch ein kritisches Verständnis von Konzepten und Theorien ermöglicht. Auf der Grundlage dieser Ausbildung sollten die Studierenden im kritischen Denken und Schreiben geschult werden: ein Ziel, das an arabischen Hochschulen nur selten auf der Tagesordnung steht. Der Unterricht sowie die Lese- und Schreibaufgaben sollten in arabischer Sprache durchgeführt werden. In Anbetracht dieser besonderen Aufgabe für einen Lehrkörper und eine Studierendenschaft, die aus verschiedenen arabischen Ländern stammen, konnten die Lehrpläne nicht von außerhalb importiert werden, sondern mussten speziell für das Institut entworfen werden.

Die Philosophieabteilung mit ihren Kursangeboten, einschließlich des Kurses über zeitgenössische arabische Philosophie, gehörte zu diesem Umfeld. Die Herausforderung, einen Lehrplan zur zeitgenössischen arabischen Philosophie zusammenzustellen, wurde durch die Tatsache verschärft, dass es kein Lehrbuch und keinen Sammelband gab, auf die ich mich stützen konnte. Es gab keine Hinweise auf die wichtigsten Texte, Figuren, Strömungen oder Themen, die einbezogen werden sollten. Das Unterrichten des zeitgenössischen arabischen Denkens erforderte also Entscheidungen bezüglich dieser Komponenten, mit anderen Worten die Konturierung eines im Entstehen begriffenen Studiengebiets. Dies wäre bei der Lehre der klassischen mittelalterlichen islamischen Philosophie oder der antiken griechischen Philosophie nicht der Fall gewesen. Diese etablierten Felder haben erkennbare und vereinbarte Komponenten und Methoden, auch wenn diese hin und wieder in ihren Annahmen, Ansätzen, Erzählungen und Methodologien in Frage gestellt werden. Das bedeutet eben, dass sie einen „Kanon“ bilden, den die zeitgenössische arabische Philosophie nicht hat – zumindest noch nicht. Letztere braucht einen solchen, weniger um eine abschließende Definition des Bereiches durchzusetzen, sondern um eine allgemeine Kontur zu haben, innerhalb derer ein gewisser Sinn erworben, weitergegeben, debattiert und entwickelt werden kann. In der Tat betrachte ich „Kanons“ und Studienbereiche nicht als natürliche Gegebenheiten, sondern als Ergebnis menschlicher Präferenzen und Entscheidungen. Diese menschlichen Entscheidungen können in Vergessenheit geraten, wenn die Felder gut etabliert und alt sind und dann als natürliche Gegebenheiten wahrgenommen werden. Die zeitgenössische arabische Philosophie würde von einer „Kanonisierung“ in diesem nicht-naturalisierenden Sinne in zweierlei Hinsicht profitieren: Erstens könnte der Prozess der „Kanonisierung“ eine gewisse Übereinstimmung über identifizierbaren Konturen dieser Philosophie hervorbringen; und zweitens könnte dieser Prozess zugleich eine fruchtbare Debatte eröffnen.

Aber der Versuch, die Konturen der zeitgenössischen arabischen Philosophie zu bestimmen, fängt nicht bei Null an. Vielmehr gab es immer wieder Anstrengungen der Beteiligten, ihr Gebiet zu beschreiben und zu bewerten, ohne dass diese Versuche jedoch zu einer allgemein anerkannten „Karte“ führten. Im Laufe der Jahre wurden auf Konferenzen, die von Forschungszentren wie dem Centre for Arab Unity Studies, dem International Centre for the Human Sciences in Byblos, Libanon, und Mou'minoun bila Hudud, Philosophievereinigungen wie der Egyptian Philosophical Association und Universitäten wie der University of Jordan einberufen wurden, Historien, Berichte und Bewertungen erstellt. Es wurden und werden Sammelbände zur Philosophieforschung und -lehre in verschiedenen arabischen Ländern veröffentlicht. In diesem Sinne ist die Arbeit an der Bestandsaufnahme und Bewertung von Themen, Anliegen, Hoffnungen, Herausforderungen und Enttäuschungen gewachsen und bietet somit die Elemente, die noch zusammengefügt werden müssen, um eine umfassende Karte der zeitgenössischen arabischen Philosophie zu zeichnen.

Zu den frühsten und wichtigsten Werken dieser Bestandsaufnahmen gehört der 1962 von der American University of Beirut (AUB)veröffentlichte Band (al‑'Awa et. al. 1962). Er war das Ergebnis eines einjährigen Workshops des Arab Studies Council der Universität, an dem einige der wichtigsten Persönlichkeiten der arabischen Geisteswissenschaften jener Zeit teilnahmen, darunter René Habachi, Albert Badr, Zein Zein, Fouad Sarrouf, Nabih Amin Fares, Subhi Mahmasani, Gibrail Jabbour, Walid Khalidi, Constantine Zuraiq, Niqula Ziadeh, Kamal Salibi, Anis Freiha und Muhammad Nujaim. Der Band mit dem Titel al-Fikr al-falsafi fi mi'at sana (100 Jahre Philosophisches Denken) sollte eine Bestandsaufnahme der philosophischen Werke sein, die in der arabischen Welt seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden sind. Herausgegeben wurde er von den damals führenden Köpfen auf diesem Gebiet, nämlich Khalil el‑Jurr, Farid Jabr, Albert Nader, Majid Fakhry, Adel al‑'Awa, Ibrahim Madkur und Jamil Saliba. Der Band wurde in verschiedene Kapitel unterteilt, die sich mit Editionen klassischer Texte, Übersetzungen aus dem Arabischen in Fremdsprachen, Kalam, Sufismus sowie der Geschichte der Philosophie befassen. Am Ende fand sich zudem ein Abschnitt, der sich philosophischen Arbeiten auf anderen Gebieten widmete. Er wurde von Jamil Saliba geschrieben und trug den Titel al‑Intaj al‑falsafi – al-falsafa 'umuman wa falsafat al‑'ulum (Philosophische Werke: Allgemeine Philosophie und Wissenschaftsphilosophie). Alle Kapitel enthielten umfangreiche Bibliographien in arabischer und nicht-arabischer Sprache; sie hatten den Anspruch, erschöpfend zu sein. Daher auch der Referenzcharakter des Bandes. Salibas Gesamtbeurteilung des jahrhundertelangen arabischen philosophischen Schaffens war eher positiv und mit vorsichtiger Hoffnung für die Zukunft versehen. Er glaubte, dass diese Werke eine solide Grundlage darstellten, auf denen zukünftige Arbeiten aufgebaut werden konnten und mussten. Fünf Jahre später, 1967, veröffentlichte derselbe Rat einen weiteren Referenzband, diesmal über die arabische intellektuelle Leistung in hundert Jahren, al-Fikr al-Arabi fi mi'at sana (100 Jahre arabisches Denken), in dem Saliba über das philosophische Denken der arabischen Gegenwartskultur schrieb. Auch hier gab Saliba eine vorsichtig optimistische Einschätzung ab, würdigte die bisherigen Bemühungen und rief dazu auf, sie in Zukunft weiter voranzutreiben (Saliba 1967).

Zwanzig Jahre später, auf einer Tagung der UNESCO über Forschung und Lehre der Philosophie in der arabischen Welt, die 1987 in Marrakesch stattfand, beklagte Muham­mad Mustafa al-Qabbaj in seiner Einleitung mit dem Titel „Die Problematik der Praxis der Philosophie in Lehre und Forschung: der Fall der arabischen Welt“ (Ishkaliyyat al-mumarasa al-falsafiyya tadrissan wa intajan. Halat al-watan al-arabi), dass der in jenen AUB-Bänden versammelte Bestand der arabischen philosophischen Werke vernachläs­sigt wurde und dass infolgedessen die Themenvielfalt des philosophischen Denkens ignoriert und philosophische Themen auf Fragen der Religion reduziert wurden (al-Qabbaj 1987). Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Band von 1962 hatte sich die Einschätzung deutlich zum Negativen gewendet. Unter den Teilnehmenden der Konferenz waren einige der bedeutendsten Philosophielehrer und -schriftsteller der arabischen Welt, wie Sadeq Jalal el-Azm aus Syrien, Adel Daher aus Jordanien, Mohammad Waqidi aus Marokko, Hamad ben Jaballah aus Tunesien und Abderrahman Badawi aus Ägypten. Sie berichteten über den Stand des Philosophieunterrichts in ihren jeweiligen Ländern. So gab auch der prominente syrische Schriftsteller Adonis ein Zeugnis über sein Philosophie­studium und den Einfluss, den es auf seine intellektuelle Bildung hatte.

Ein weiteres Vierteljahrhundert später, im Jahr 2011, gründete Adonis eine neue Zeit­schrift, al-Akhar (Der Andere). Die erste Ausgabe enthielt ein Dossier über die zeitgenössische arabische Philosophie. Vornehmlich herrschte hier ein Ton der Enttäuschung und Frustration: Die arabische Philosophie habe es nicht geschafft, einen ausreichend substanziellen, freien, autonomen und unabhängigen Diskurs zu bilden. Einige Jahre später und im Gefolge der arabischen Revolutionen schrieb der tunesische Philosoph Fethi Meskini im Vorwort des von Ismail Mehnana herausgegebenen Bandes über zeitgenössische arabische Philosophie, dass diese sich in Identitätsfragen verfangen habe und es versäumt habe, sich mit den grundlegenden Fragen der Menschenwürde auseinanderzusetzen (Mehnana 2014). Auch er beklagte, dass sich keine unabhängige arabische Philosophie herausgebildet habe, die sich mit den drängenden Fragen der zeitgenössischen Araber befassen könne.

Einige Jahre zuvor, im Jahre 2004, veröffentlichte die elektronische Kulturseite Elaph bereits ein Dossier über den Zustand der Philosophie in der arabischen Welt mit dem Titel „Was ist mit der Philosophie in der arabischen Welt geschehen?“ (Madha halla bi al-falsafa fi al-alam al-arabi?) mit Beiträgen von Georges Tarabichi, Afif al-Akhdar, Sayyar al-Jamil, Fethi el-Triki, Rachid Boutayeb, Chaker Nabulsi, El-Taher bin Qiza und Hussein al-Hindawi. Auch hier fand sich eine Klage über den arabischen Geist, der von Ideologien beherrscht wird und keinen Raum für individuelle Betrachtung (al-ta'ammul al-fardi) lässt. Ebenso fand sich eine Nostalgie für jene frühere Epoche (1940er- bis 1970er‑Jahre), in der noch, so glaubte man, ernsthafte Philosophie entstand.

Tatsächlich zeigt eine genaue Lektüre der arabischen Philosophie einen Unterschied in der Praxis der Disziplin zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte wurden die Philosophierenden im Allgemeinen in Europa ausgebildet, die meisten von ihnen in Frankreich, einige in der Schweiz und Großbritannien. Es waren vornehmlich junge Männer, die von den neu gegründeten, meist ägyptischen oder syri­schen Universitäten geschickt wurden, um eine Ausbildung in Philosophie zu erhalten. Sie beherrschten typischerweise mindestens eine europäische Sprache und lasen westliche philosophische Texte in ihren Originalsprachen. Nach Rückkehr in ihre Länder wurden sie als Philosophie-Professoren in die neuen Philosophie-Abteilungen ihrer Universitäten berufen und lehrten europäische Philosophie, während sie gleichzeitig damit beschäftigt waren, diese europäischen Originaltexte zu übersetzen und/oder Geschichten über diese Philosophie zu schreiben. Ihr Hauptanliegen war die Ausübung der Philosophie als akademische Disziplin und die Weitergabe dieser Disziplin an jüngere Generationen. Dies änderte sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als der Druck politischer und kultureller Fragen immer stärker wurde. Themen wie kulturelle Unabhängigkeit, Authentizität, Modernität, Tradition (turath), Renaissance (nahda), Religion, Fundamentalismus, Aufklärung, Kritik, Säkularismus, Freiheit und Demokratie wurden zu prominenten Anliegen, an denen sich die philosophischen Debatten orientierten. Die Teilnehmer dieser Debatten beherrschten in der Mehrheit weniger Fremdsprachen und wurden meist in ihren nationalen Bildungssystemen ausgebildet. Diese waren nach der politischen Unabhängigkeit in den meisten arabischen Ländern aufgrund staatlicher Misserfolge und Versäumnisse im Niedergang begriffen. In der Tat war die Zeit nach der Unabhängigkeit eine Ära, die zunehmend durch das nationalstaatliche Versagen bei der Sicherstellung grundlegender Rechte und Bedürfnisse seiner Bürger*innen belastet war. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen verstärkte sich das Unbehagen gegenüber dem erfolgreichen und wohlhabenden Westen. Das bedeutet nicht, dass die klassische islamische Philosophie in den Werken dieser hundert Jahre abwesend gewesen wäre. Vielmehr bildeten diese einen wichtigen Teil in den modernen philosophischen Debatten im arabischen Raum. Aufgabe der zeitgenössischen arabischen Philosophie könnte es nun sein, die Konzepte und Argumente sowie ihre Verschleierungen in jenen Debatten zu klären, um so die jüngste arabische Geistesgeschichte selbst kritisch zu bewerten.

 

Themen der zeitgenössischen arabischen Philosophie

In der gegenwärtigen arabischen Philosophie findet sich eine klare Beschäftigung mit einer Reihe von dominierenden Themen. Zu den hervorstechendsten gehören die Fragen nach der philosophischen Autonomie und Authentizität, der Moderne und der Tradition, Fragen im Zusammenhang mit der Religion (ihre Abgrenzung zur Philosophie, religiöse Interpretation, Fundamentalismus und Reform und Säkularismus) und schließlich Fragen der Vernunft, des Rationalismus und der Kritik. Darüber hinaus findet sich in zeitgenössischen Schriften auch ein Interesse an Ethik und Politik sowie an Fragen des wissenschaftlichen Denkens und der Ästhetik.

Das erste der vier oben genannten Themen befasst sich mit der Bedeutung philosophischer Autonomie und Authentizität: Was bedeutet es, eine eigene Philosophie, eine „arabische Philosophie“ zu haben? Was würde eine solche Philosophie auszeichnen? Wie würde sie sich einerseits zur westlichen Philosophie und andererseits zur eigenen klassischen islamischen Philosophie verhalten? Was würde ihre Besonderheit ausmachen? Ihre Sprache, Tradition? Gegenwärtige Realitäten? Die Identität? Wie würde diese Identität verstanden werden? Wäre es eine historische oder metaphysische, eine ethnische oder religiöse Gegebenheit? Wäre sie prä- oder überdeterminiert oder wurde sie vielmehr gemacht, erfunden und konstruiert? Und falls ja, von wem und zu welchem Zweck? Wäre sie eine aufgezwungene Fatalität oder ein Feld der Freiheit und des menschlichen Handelns? Und wenn die Philosophie von Natur aus abstrakt und universell war, wie konnte sie dann gleichzeitig partikular sein?

In einer Gegenwart der Krise mit ungewisser Zukunft nimmt die Vergangenheit einen größeren Platz in den Debatten ein. Fragen nach der Bedeutung von Traditionen werden angesichts der Moderne, der Verwestlichung und des Wandels virulent. Tradition wird so zu einem weiteren Hauptanliegen der zeitgenössischen arabischen Philosophie, angeregt durch Fragen nach dem Platz und der Rolle, die dem turath, dem elaborierten arabisch-islamischen klassischen Erbe, zukommt: Was ist turath? Worauf bezieht er sich genau? Wer definiert ihn und zu welchen Zwecken? Was sollte der richtige Ansatz sein, um mit ihm umzugehen? Wie sollten sich zeitgenössische Araber*innen und insbesondere arabische Philosoph*innen zu ihm verhalten? Warum wird seine religiöse Komponente als Hauptbezugspunkt genommen? Was ist mit der „Zeitgenossenschaft“ dieses Erbes gemeint? Ist diese „Zeitgenossenschaft“ eine natürliche Gegebenheit? Oder ist sie ein Ziel, das angestrebt wird? Wie ist die Fixierung auf turath zu erklären? Und schließlich: Ist der besagte turath der Hauptbestandteil des Selbst, während der „Andere“ das Moderne ist? Wie werden diese Beziehungen von Identität und Differenz hergestellt? Warum, von wem und auf welche Weise? Und dann: Was ist Modernität? Gibt es eine spezifische „arabische“ oder „islamische“ Moderne? Wenn ja, in welchem Sinne?

Ein weiterer Fragenkomplex kreist um das Thema Religion: Wie unterscheiden sich Religion und Philosophie? Wie groß ist der Spielraum, innerhalb dessen Fragen zur Religion, hier vor allem zum Islam, philosophisch angegangen werden dürfen? Wie hat das Scheitern der religiösen Reformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit dem staatlichen Versagen nach der Unabhängigkeit das Wachstum des Fundamentalismus begünstigt? Und wie hat letzterer Formen der Zensur und Einschüchterung geschaffen, die die Chancen neuer Reformen und Möglichkeiten philosophischer Beiträge zum religiösen Denken immer geringer werden lassen? Trotz dieser widrigen Umstände werden Vorschläge für neue Annäherungen an den heiligen Text des Korans und an die religiöse Tradition gemacht, die sich der neuesten Methoden der Geisteswissenschaften bedienen. Einige haben dazu aufgerufen, sich dem Koran als einem kulturell-sprach­lichen Text zu nähern, der in einen spezifischen historischen Kontext eingebettet ist – ein Ansatz, der ihnen zufolge dem heiligen Text nicht notwendigerweise seinen Offenbarungscharakter nehmen würde. So wurde auch die Bedeutung einer vergleichenden Perspektive unterstrichen, in der der Islam zusammen mit anderen monotheistischen und anderen Religionen untersucht würde. Andere Positionen haben philosophische Analysen und Diskussionen über den Säkularismus angeboten und versucht, seine ideologischen und analytischen Komponenten herauszuarbeiten. Die vorherrschende Sorge ist jedoch die Hegemonie des Fundamentalismus, der seine eigenen Diskussionsparameter, nämlich die des wörtlich genommenen heiligen Textes, als einzigen Grund für die Legitimität von Argumenten durchgesetzt hat. Für einige ruft der Untergang der jahrhundertelangen Tradition der religiösen Hermeneutik nach einer dringenden Erneuerung dieser Hermeneutik, was wiederum die Etablierung eines Mindestmaßes an Freiheiten und demokratischen Werten erfordert. Das Spannungsfeld zwischen der hermeneutischen Tradition, Reformbemühungen und Fundamentalismus nimmt daher einen zentralen Platz in diesen Debatten ein.

Ebenso nehmen Fragen nach der Vernunft und dem Rationalismus eine zentrale Stellung in den zeitgenössischen Debatten ein. Welche Rolle sollte die Vernunft bei der Artikulation der oben genannten Probleme spielen? Einige argumentieren, dass die kritische Lektüre von turath die Konstitution und Struktur des „arabischen Geistes“ offenbart, der sowohl von diesem turath geformt wurde als auch selbst dazu beigetragen hat, arabische Denkweisen zu formen, nicht nur in der Vergangenheit, sondern bis in die Gegenwart. Nur eine solche analytische Herangehensweise an den turath würde die Stärken dieses arabischen Geistes und des turaths aufzeigen, nämlich seine rationalen Komponenten. Diese wiederum würden es den zeitgenössischen Araber*innen erleichtern, ihre gegenwärtige Kultur zu einer neuen nahda, einer Renaissance, umzugestalten. Eine starke, und manchmal ausschließliche, Betonung liegt auf der kritischen Bedeutung der Vernunft bei der Bewältigung der in diesen Themen aufgeworfenen Probleme.

Darüber hinaus bilden Fragen nach dem Wesen, der Rolle und der Bedeutung der Philosophie während ihrer gesamten Geschichte einen festen Bestandteil der Debatten. Aber die arabische Region ist nicht die einzige, die mit solchen politischen, kulturellen und intellektuellen Fragen konfrontiert ist. Die meisten postkolonialen Gesellschaften kennen ähnliche Fragen. Diese gewannen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss zweier weltweiter Entwicklungen, nämlich des Zweiten Weltkriegs und der Dekolonisierungswelle, an zusätzlichem Gewicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete die UNESCO ein Philosophieprogramm ein, das von Denker*innen aus Europa und anderen Ländern entwickelt wurde. Gegenstand dieses Programms war die Frage, wie bestimmte Ideen und Vorstellungen schließlich Krieg und Gewalt schüren konnten. Um dem vorzubeugen, so die Annahme, sollten sich Menschen auf der ganzen Welt kritisch mit Ideen auseinandersetzen können. In der Philosophie wurde die geeignete Disziplin gesehen, um das hierfür dringend notwendige autonome und kritische Denken zu vermitteln. Diese Fähigkeiten sollten das Bewusstsein für die gefährlichen Implikationen bestimmter Ideen schärfen, insbesondere für solche, die zu Diskriminierung und Gewalt aufrufen. Philosophieprogramme sollten daher weltweit gefördert und unterstützt werden. Der Philosophie wurde damit die Aufgabe übertragen, einen Beitrag zur menschlichen Sicherheit und zum Weltfrieden zu leisten. Auf verschiedenen Kontinenten wurden UNESCO-Lehrstühle für Philosophie eingerichtet, darunter einer in Tunesien. Es wurden regional und weltweit Treffen einberufen, um den Stand der Disziplin zu beurteilen, auch in der arabischen Welt, wie wir bereits gesehen haben.

Die antikolonialen Bewegungen nun strebten nicht nur nach unabhängiger Herrschaft, sondern auch nach einem unabhängigen Denken. In der Tat beinhalteten sie nicht nur die Suche nach einer eigenen Regierung, sondern auch nach einer eigenen Kultur und einem eigenen Denken. Dieses Streben erwies sich als viel schwieriger als zunächst angenommen. Die Nachwirkungen der Wiedererlangung der Souveränität erwiesen sich als ernüchternd und machten die politische Frage des Nationalstaats zu einem der Hauptthemen. Darüber hinaus erwies sich die Vorstellung einer eigenen Denktradition als viel weniger offensichtlich und viel komplexer als ursprünglich vermutet. Was bedeutete es wirklich, einen eigenen Gedanken zu haben? In vielen Regionen der postkolonialen Welt, wie etwa in Lateinamerika, Afrika und der arabischen Welt, nahm die Philosophie einen wichtigen Platz in diesem Streben nach intellektueller Autonomie ein. Doch für die Philosophie galten dann die gleichen Herausforderungen: Was bedeutete es, eine eigene Philosophie zu haben? Wie sollte die vermeintliche Universalität des philosophischen Denkens mit den Besonderheiten der kulturellen und nationalen Identität in Einklang gebracht werden? Autonomes Denken und Philosophie sollten die Manifestation intellektueller Unabhängigkeit sein, wenn auch eine, die komplex und schwer zu durchschauen ist.

Darüber hinaus bestand nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere nach dem Zusammenbruch Europas und dem Aufkommen der antikolonialen Bewegung die Herausforderung darin, eine Form der post-europäischen Unabhängigkeit und sogar eine Führungsrolle in der Philosophie zu beanspruchen. Aber waren die Nicht-Europäer*innen dieser Aufgabe gewachsen? Hatten ihre Zivilisationen die Fähigkeit und die Reife, dieses schwierige Unterfangen zu bewältigen? Diese Fragen wurden während des Interamerikanischen Philosophiekongresses von 1947 aufgeworfen, der an der Columbia University in New York City stattfand. Nord- und südamerikanische Philosoph*innen diskutierten diese Fragen ausführlich und fragten, was eine „nordamerikanische“ oder „südamerikanische“ Philosophie ausmachen könnte und ob ihre Länder und Kulturen in der Lage waren, die Aufgaben der Philosophie nach dem Untergang Europas zu übernehmen. Ähnlich wurde in Afrika und in der arabischen Welt über Philosophie als Zeichen zivilisatorischen Wertes und von Reife debattiert. Die zeitgenössischen arabischen philosophischen Debatten in diesem breiteren und vergleichenden Diskurs zu verorten, würde unserer Einschätzung dieser Debatten sicherlich zugutekommen und Licht auf die Besonderheiten der arabischen Herausforderungen werfen.

Im Vergleich zu den lateinamerikanischen und afrikanischen Fällen befanden sich die arabischen Philosophen allerdings in einer etwas komfortableren Position. Ihre Gesellschaften waren von massiver Kolonisierung relativ verschont geblieben, sie hatten ihre Sprache und Religion weitgehend beibehalten und ein riesiges schriftliches Erbe erhalten, darunter ein eigenes klassisches philosophisches Erbe, das sich in der Vergangenheit Europa bereits aufdrängte. Dies bot den zeitgenössischen arabischen Philosoph*in­nen einen fertigen „Beweis“ für ihre Fähigkeit, als Araber*innen oder als Muslim*innen Philosophie zu betreiben. Dieses Erbe, oder turath, war eine Quelle des Stolzes und der Zuversicht, aber es ließ sie gleichzeitig mit der Bürde zurück, erklären zu müssen, warum sie zurückgefallen waren und es nicht geschafft hatten, ihre herausragende Stellung als Zivilisation und als Produzent*innen philosophischer Exzellenz zu halten. Darüber hinaus war dieses Erbe ein bedrückend schweres, da es mit der heiligen Tradition des Islam verbunden war. Sich diese Tradition kritisch für die Gegenwart anzueignen, konnte daher schnell bedeuten, sich mit dem Heiligen anzulegen. Darüber hinaus bot dieses Erbe die Versuchung, diese Tradition als ahistorische und feststehende Antwort auf Gegenwartsfragen und als Identifikationspol zu betrachten, der die Essenz dessen, was „arabisch“ oder „muslimisch“ ist, definiert. Diese Tradition nährte auch die Versuchung zu einem Machtstreben, indem es sich als Instrument selbstgerechter Selbstgenügsamkeit sowie als Instrument der Rache und Rechtfertigung gegen den „Anderen“, sei es der*die dissidente Ander*e oder der*die externe Andere, in erster Linie der Westen, ausgab.[2]

 

Die Herausforderungen des zeitgenössischen arabischen Denkens

In der Tat glaube ich, dass dieser „Wille zur Macht“ eine der beiden Hauptherausforderungen ist, mit denen sich die zeitgenössische arabische Philosophie konfrontiert sieht. Die andere ist ein Logozentrismus. Das erwähnte Streben, der Wille zur Macht stützt sich auf die Vorstellung eines festen Ursprungs und einer Identität und nährt sich aus der Sehnsucht nach Einheit, die als Uniformität verstanden wird. Diese Ansichten von Identität und Einheit haben sich jedoch als Rechtfertigung für Intoleranz, Unterdrückung und verschiedene Formen des Patriarchats erwiesen. Sie tendieren dazu, Vielfalt, Hybridität, Pluralität, Marginalität, Dissidenz, Differenz, Fluidität oder Ambiguität als Bedrohung der Macht des „Einen“ zu betrachten. Die Überbetonung der „Einheit“ hat das arabische Denken seines intellektuellen, kulturellen und sogar politischen Reichtums beraubt, den die Marginalität, das Hybride, das Andersartige, das Dissidente und das Mehrdeutige bieten. Die Herausforderung besteht darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen einem selbstbewussten Selbstverständnis und einer Offenheit für all jene uneinheitlichen, nicht-orthodoxen, nicht-identischen Elemente einer Gemeinschaft und einer Kultur. Mit anderen Worten: Wie kann man ein dringend benötigtes selbstbewusstes Selbstgefühl aufbauen und die zerstörerischen Auswirkungen jenes Machtstrebens vermeiden? Doch diese Herausforderung ist keine spezifisch arabische oder postkoloniale Herausforderung. Vor ihr stehen alle Gemeinschaften, die ihre Identität bestätigen und sich gleichzeitig nicht ihrer Handlungsfähigkeit, Kreativität und Freiheit berauben wollen. Diese gewaltige Herausforderung erfordert eine sorgfältige intellektuelle und philosophische Wachsamkeit.

Der Logozentrismus ist eine weitere Manifestation des Strebens oder Willens zur Macht. Logozentrismus bedeutet hier die Privilegierung des Geschriebenen und des Rationalen, weitgehend verkörpert in einem bestimmten Korpus von turath. Dieser Logozentrismus durchdringt einen Großteil der zeitgenössischen arabischen Philosophie. Er läuft auf eine Verteidigung der Rationalität hinaus, die im Kontext des Bildungsabbaus und der politischen Willkür bis zu einem gewissen Grad verständlich ist. Dazu gehört auch, den Anschluss an den Westen zu finden, die Modernität zu übernehmen und die gegen den Islam gerichteten Vorwürfe der Irrationalität zu entkräften. Zur Verteidigung gegen solche Vorwürfe wird der Islam als rational und das arabo-islamische Erbe als Träger vielversprechender Elemente der Rationalität und damit als kein Hindernis für Fortschritt und Zivilisation dargestellt. Darüber hinaus wird versucht, die rationalen Aspekte des turath aufzuzeigen und die Vorzüge einer rationalen Annäherung an ihn im Hinblick auf seine Wiederbelebung und Erlösung für die Gegenwart und die Zukunft zu betonen. Bei diesen Bemühungen wird allerdings das Mündliche, das Randständige und das Unorthodoxe als unwürdig für Aufmerksamkeit und Kultivierung befunden. Auch das Weibliche ist nur schwach präsent. In der Tat bleibt das Feld weitgehend ein männlich dominiertes. Die verarmenden Unzulänglichkeiten des anderswo praktizierten Logozentrismus sind mittlerweile bekannt. Einige arabische Philosoph*innen haben darauf hingewiesen. Ihre Stimmen waren nicht dominant, aber sie waren am Rande zu hören. Ich denke hier an die Arbeiten des marokkanischen Soziologen Abdelkébir Khatibi und des algerischen Islamwissenschaftlers Mohammed Arkoun. Und ich denke, dass es wichtig ist, dass sie beherzigt werden. Letztlich sind die Entwicklung eines ermächtigten Selbstbewusstseins, ohne dabei einem unterdrückerischen Machtstreben nachzugeben, und die Ermutigung zur Kritik, ohne dem Rationalismus oder seinem Gegenteil nachzugeben, die zwei großen Herausforderungen, vor denen die zeitgenössische arabische Philosophie steht.

Eine letzte Herausforderung, auf die ich hinweisen möchte, ist die des Verhältnisses der Philosophie zu den sich verändernden arabischen Realitäten. Es gibt einerseits ein fast in sich geschlossenes Diskursuniversum, in dem die zeitgenössische arabische Philosophie sich selbst und ihre Themen reproduziert, und andererseits Debatten, die mehr in Kontakt mit den Realitäten vor Ort stehen. Ich bin auf dieses Phänomen gestoßen, als ich mich mit den Aufklärungsdebatten beschäftigt habe, die in Kairo und Damaskus in den zwei Jahrzehnten vor den arabischen Revolten von 2010 stattfanden (Kassab 2019). Sie wurden von Philosoph*innen, Schriftsteller*innen und Intellektuellen unterschiedlicher Herkunft geführt, die auf die Verelendung und Unterdrückung reagierten, die sich in beiden Ländern nach Jahrzehnten autokratischer, korrupter Herrschaft entwickelt hatten. In den 1990er‑Jahren hatte das Mubarak-Regime eine „Aufklärungskampagne“ (tanwir) gestartet, um dem Aufstieg des gewalttätigen islamischen Fundamentalismus entgegenzuwirken. Es organisierte große Konferenzen, um nahda (arabische Renaissance)-Gestalten wie Tahtawi und Amin Qasim zu feiern und veröffentlichte nahda‑Schriften neu, um Ideen von Toleranz, Freiheit und Rationalität zu verbreiten. Sowohl die kulturellen Institutionen als auch die angeschlossenen Intellektuellen trugen zu dieser Kampagne bei, indem sie Bücher, Zeitschriften- und Zeitungsartikel schrieben und an Podiumsdiskussionen und Fernseh-Talkshows teilnahmen.

In den folgenden Jahrzehnten kam es zu einer Dekonstruktion dieser Kampagne durch unabhängige ägyptische Gelehrte, die die Verlogenheit des Regimes anprangerten, das behauptete, tanwir zu fördern, während es gleichzeitig Menschen- und Bürgerrechte verletzte, das die Menschen verachtete und politische Formationen zum Zweck des eigenen Machterhalts manipulierte. Im syrischen Fall wurde der tanwir-Diskurs von unabhängigen Denker*innen geführt, die sich mit dem allgemeinen Niedergang des Landes befassten, der von den autokratischen Assad-Regimen, Vater und Sohn, verursacht wurde. Es war ein Diskurs, der sich gegen einen brutalen Staat richtete, der alle Bereiche und Aspekte der Gesellschaft verwüstet hatte. Sie forderten die Rekonstruktion des Humanen und die Wiederherstellung einer Geistesgeschichte, die durch die ideologische Vorherrschaft des Regimes zerrüttet war. Meine Lektüre dieser beiden Reihen von Debatten zeigte, dass in beiden Ländern der kritische Diskurs des tanwir ein Aufruf zum politischen Humanismus war, d.h. zu Menschenwürde, Freiheit und Vernunft, gegen die Brutalität, Willkürherrschaft und Unterdrückung der Regime. Es zeigte sich auch, dass dieser Aufruf durchaus mit den Forderungen nach Würde und Freiheit übereinstimmte, die wenige Jahre später von den Menschen auf den Straßen von Kairo und Damaskus geäußert wurden. Das soll nicht heißen, dass die intellektuellen tanwir-Diskurse diese Forderungen hervorgebracht hätten, sondern vielmehr, dass einige Intellektuelle mit ihren Mitbürger*innen in der gemeinsamen Notlage, in der sie sich um die Jahrtausendwende befanden, im Einklang waren.

In denselben zwei Jahrzehnten, also in den 1990er- und 2000er‑Jahren, erschienen weitere „wissenschaftliche“ Arbeiten über tanwir. Am prominentesten unter ihnen war ein Tagungsband einer vom Center for Arab Unity Studies organisierten Konferenz, die 2004 in Beirut stattfand und sich mit tanwir und Rationalismus im zeitgenössischen arabischen Denken befasste. Der andere war eine Sammlung von Artikeln über tanwir und nahda im zeitgenössischen arabischen Denken, die in den 1990er‑Jahren in Al‑Mustaqbal al‑arabi, der Zeitschrift desselben Zentrums für Studien zur arabischen Einheit, veröffentlicht wurde. Ich charakterisiere diese Werke und die darin enthaltenen Diskurse als eher „wissenschaftlich“, weil sie von einem der aktivsten arabischen Forschungszentren in Auftrag gegeben wurden, das über Jahrzehnte hinweg wissenschaftliche Konferenzen in verschiedenen arabischen Städten organisierte und neben zahlreichen Werken prominenter und weniger prominenter arabischer Gelehrter auch ausführliche Tagungsbände dieser Konferenzen veröffentlichte. Die Teilnehmenden der Kairoer und Damaszener Debatten, die ich analysiert habe, waren ebenfalls Gelehrte, viele von ihnen waren bekannte Universitätsprofessor*innen. Aber ihre Beiträge zu diesen speziellen Debatten waren weniger von wissenschaftlichen Anlässen wie wissenschaftlichen Konferenzen oder formalen akademischen Publikationen geprägt, sondern waren eine Reaktion auf reale Ereignisse und Entwicklungen vor Ort. Was beim Vergleich diesen beiden Gruppen von Diskursen, d.h. den Kairoer und Damaszener Diskursen einerseits und den vom Center for Arab Unity Studies herausgegebenen Bänden andererseits, auffällt, ist, dass in den letzteren die Ausarbeitungen über tanwir um die Fragen des Westens, der Tradition (turath) kreisen, mit dem klaren Bemühen, die Angelegenheit zu entpolitisieren und einen „wissenschaftlichen“ konzeptionellen Ansatz zu wahren, während in den früheren Diskursen diese Fragen völlig fehlten. Offenbar sind sie im Kontext der gelebten Realitäten nicht von großer Bedeutung. Interessanterweise waren (und sind bis heute) diese Begriffe in den Forderungen, die von den Menschen auf den arabischen Straßen geäußert wurden, gleichermaßen abwesend. Der Westen als intellektuelle und kulturelle Herausforderung und die Tradition als turath sind nicht das Objekt des Protests oder der Forderung der Menschen, noch sind sie das Hauptanliegen der Denker, die auf ihre gelebte Realität reagieren. Vielmehr geht es diesen Menschen in erster Linie um die Verletzung der Menschenwürde und der Freiheit, um die Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit, um Korruption und Ungerechtigkeit, die von ihren eigenen Herrschern praktiziert werden. Und ihre intellektuellen Ausarbeitungen von tanwir drehen sich um diese Dinge. Identitätsfragen im Zusammenhang mit dem Einfluss, der Hegemonie des Westens und der Rückgriff auf tanwir als Garant für Authentizität fehlen einfach. Darüber hinaus weisen die Teilnehmer*innen der Kairoer und Damaszener Debatten auf den eminent politischen Charakter des gesuchten tanwir hin, anstatt sich ihm, wie in den anderen „wissenschaftlichen“ Arbeiten, mit politischer Neutralität zu nähern. Offensichtlich gibt es hier zwei Universen von Diskursen, die es anzuerkennen und zu bedenken gilt. Was sagt uns dieser Unterschied über die „Realität“ bestimmter philosophischer Anliegen? Für wen ist turath ein zentrales Thema? Für wen ist der „Westen“ das „Hauptanliegen“? Der Versuch, Konturen der zeitgenössischen arabischen Philosophie zu bestimmen bedeutet auch über diese Machtdynamiken in ihren eigenen kognitiven, sozialen und politischen Dimensionen nachzudenken.

 

Literatur

Al-Qabbaj, Muhammad Mustafa (Hrsg.) (1987): Tadriss al-falsafa wa al-bahth al-falsafi fi al-watan al-‘arabi [Unterricht und Forschung der Philosophie in dem arabischen Heimatland]. Marrakesh: Dar al‑gharb al‑islami /UNESCO.

Al‑'Awa, Adel; el‑Jurr, Khalil; Fakhry, Majid; Jabr, Farid; Madkur, Ibrahim; Nader, Albert und Saliba, Jamil (Hrsg.) (1962): Al‑Fikr al‑falsafi fi mi’at ‘am [100 Jahre philosophisches Denken]., Beirut: American University of Beirut Press.

Kassab, Elizabeth S. (2019): Enlightenment on the Eve of Revolution. The Egyptian and Syrian Debates. New York: Columbia University Press.

Kassab, Elizabeth S. (2010): Contemporary Arab Thought. Cultural Critique in Comparative Perspective. New York: Columbia University Press.

Mahana, Ismail (Hrsg.) (2014): Al-falsafa al‑‘arabiyya al‑mu‘assira. Tahawwulat al‑khitab min al‑jumud al‑tarikhi ila ma’aziq al‑thaqafa wa al‑idyologia [Zeitgenössische Arabische Philosophie. Diskurse im Wandel von historischer Unbeweglichkeit zur Pattsituation zwischen Kultur und Ideologie]. Rabat: Dar al‑aman, Algiers: Manshurat al‑ikhtilaf, Riad‑Beirut: Manshurat Difaf/Association of Arab Academia for Philosophy.

Saliba, Jamil (1967): „al‑Intaj al‑falsafi – al-falsafa 'umuman wa falsafat al‑'ulum“ [Philosophische Werke: Allgemeine Philosophie und Wissenschaftsphilosophie]. In Al‑Fikr al‑‚arabi fi mi’at sana [100 Jahre Arabisches Denken], hrsg. v. Fouad Sarrouf und Nabih Amin Fares. Beirut: American University of Beirut Press, 393–446.


[1] Die ursprüngliche längere Version dieses Aufsatzes wurde in arabischer Sprache für die Konferenz „Recentering the Humanities“ vorbereitet, die im Mai 2017 vom Arab Council for the Social Sciences, dem UNESCO-Regional Office in Beirut und dem International Center for Human Sciences-Byblos organisiert wurde, und wird 2021 in Band I der ACSS-Zeitschrift Qira'at veröffentlicht. Die deutsche Version basiert auf einer Übersetzung durch DeepL, für die Überarbeitung der Übersetzung danke ich Marvin Dreiwes.

[2] Für eine vergleichende Diskussion dieser nordamerikanischen, lateinamerikanischen, afrikanischen und arabischen Diskurse siehe das sechste Kapitel in Kassab (2010).