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Nr. 1 / 2021
Arabische Philosophie
Arabische Philosophie

Editorial

Liebe Leser*innen!

Die Annahme, dass Philosophie in ihrer ursprünglichen Form ein genuin europäisches Phänomen ist, verliert zunehmend an Überzeugungskraft. Kritisiert wird nicht nur ein zu enges Philosophieverständnis, das die Pluralität und Heterogenität philosophischer Ausdrucksformen – auch innerhalb Europas – verkennt. Ebenso erscheint die Vorstellung eines geschlossenen abendländischen Kulturraumes, in dem sich die Philosophiegeschichte vorrangig abspielte, als eurozentristische Verkürzung. Dagegen findet sich die Überzeugung, dass die Entstehung und Entwicklung der Philosophie vielmehr aus ihren Verflechtungen, Überlappungen und Ausschlüssen zu denken ist. Hier stehen sich nicht mehr monolithische Kulturen als homogene Blöcke gegenüber, sondern in sich gebrochene und hoch dynamische Felder. Es existiert eine Vielzahl von Philosophien, an deren offenen Rändern sich scharfe Abgrenzungen ebenso wie produktive Aneignungen abwechseln.
Die arabisch-islamische Philosophie stellt in diesen Debatten einen Sonderfall dar, insofern ihr in der Philosophiegeschichtsschreibung eine durchaus wichtige Rolle zugestanden wird. Allerdings beschränkt sich diese Rolle zumeist auf die Übersetzung und Bewahrung der antiken griechischen Philosophie ab dem 8. Jahrhundert. Der philosophische Geist konnte im arabischen Raum gewissermaßen „überwintern", bis dieser mit der Scholastik und spätestens in der frühen Neuzeit in Europa wieder zu sich kommt. Gemäß dieser Deutung hat die arabische Philosophie nach diesem Intermezzo nicht mehr das philosophische Reflexionsniveau erreichen können, wie es in Europa mit der Neuzeit und folgend der Moderne erreicht wurde.

Das aktuelle Heft versucht gegen diese verkürzte Auffassung einen Blick auf die moderne und gegenwärtige arabische Philosophie zu werfen. Das Ziel ist hierbei ein doppeltes: Einerseits soll die Eigenständigkeit der arabischen Philosophie sichtbar gemacht werden. Diese zeigt sich nicht nur historisch an den Weiterentwicklungen und Umarbeitungen des griechischen Erbes, die über ein bloßes Bewahren hinausgehen. Auch gegenwärtig finden sich höchst produktive philosophische Debatten, die sich nicht auf die Rezeption europäischer Philosophien beschränken. Zum anderen sollen die Kontinuitäten in den Verflechtungen zwischen westlichen und arabischen Philosophien deutlich gemacht und damit Anschlüsse im Denken freigelegt werden. Ungeachtet dessen steht die arabische Philosophie vor der Herausforderung, wie mit der Dominanz westlicher Philosophien auch auf dem akademischen Feld umzugehen ist. Die Behauptung einer eigenen Identität steht nicht selten unter dem Verdacht, reaktionäre und fundamentalistische Tendenzen zu fördern. Eine unkritische Übernahme westlicher Konzepte im Namen einer Modernisierung läuft dagegen Gefahr, problematische Machtverhältnisse und Abhängigkeiten zu reproduzieren.

Dieses Spannungsfeld versuchen die Essays aus verschiedenen Perspektiven zu sichten: Michael Frey plädiert in seinem Beitrag zunächst für die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der arabischen Philosophie, ohne dabei die Fallstricke kulturalistischer Verkürzungen zu übersehen. Am konkreten Fall des libanesischen Philosophen Nassif Nassar stellt er dessen „Liberalismus mit Gemeinsinn" vor. Nassars Verständnis von Liberalismus reagiert dabei nicht nur auf die spezifische Situation im Libanon, er formuliert zugleich einen Freiheitsbegriff mit dem auf Defizite des klassischen westlichen Liberalismus reagiert werden kann.

Ausgehend von der konkreten Erfahrung als Verantwortliche für einen Kurs zur zeitgenössischen arabischen Philosophie skizziert Elisabeth Suzann Kassab in ihrem Beitrag die Herausforderung der Kanonisierung. Die von ihr vorgestellten Versuche der Kanonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rangen immer um eine Wahrung der Tradition (turath), ohne sich jedoch von dieser fesseln zu lassen. Im Vergleich zwischen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen in Damaskus und Kairo weist Kassab zugleich auf die politische Stoßrichtung dieser philosophischen Debatten hin, die nicht selten quer zu akademischen Diskursen verlaufen.

Kata Moser wendet sich in ihrem Beitrag der Institutionalisierung der akademischen Philosophie im arabischen Raum zu. Am Beispiel der Universitäten in Kairo, Amman und Tunis skizziert sie die wechselhafte Entwicklung der Philosophie als Studienfach und akademische Disziplin. Dass diese Entwicklungen nicht in rein wissenschaftlichen Sphären geschehen, sondern durch politische Verhältnisse gestützt wie bedroht werden können, verdeutlicht sie an den kritischen Interventionen von Zaki Naguib Mahmouds, Sadiq al-Azm und Zeïneb Ben Saïd Cherni.

Der Beitrag von Sarhan Dhouib schließlich zeigt anhand der Biographien der beiden syrischen Philosophen Nayef Ballouz und Tayeb Tisini Kreuzungspunkte zwischen europäischen und arabischen Philosophien. Die beiden Philosophen eint eine prägende Zeit an der Humboldt-Universität Berlin unter Hermann Ley sowie ihre Versuche, marxistische Überlegungen mit arabisch-materialistischen Traditionen zu verbinden. Diese Konstellation steht exemplarisch für einen deutsch-arabischen Dialog, der bis heute nur unzureichend in der Philosophie berücksichtigt wird.

                Jürgen Manemann                           Marvin Dreiwes