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Nr. 2 / 2022
Ein Wand besprayt mit bunten Formen
Interview

Zwischen hartem Realismus und Visionen. Ein Gespräch mit Effi Böhlke

Frau Böhlke, als Herausgeberin und Übersetzerin haben Sie die Schriften des französischen Politikers Léon Bourgeois (1851–1925) erstmalig einem breiten deutschsprachigen Publikum zu Verfügung gestellt. Warum, glauben Sie, lohnt sich gegenwärtig die Auseinandersetzung mit diesem Denker und Politiker?

Gerade mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erhalten Schriften, die um den Ersten Weltkrieg herum verfasst wurden und die Frage behandeln, ob und wie Krieg zu verhindern ist, neue Aktualität. Ich beschäftige mich vor allem damit, was für Vorschläge damals unterbreitet wurden, wie sie theoretisch begründet und durch die Geschichte verifiziert oder auch falsifiziert wurden, und welche Gültigkeit weniger die Antworten als vielmehr die Fragen haben. Dazu zählt auch Léon Bourgeois, welcher seine Schriften nicht im luftleeren Raum verfasste und selbst kein Philosoph, sondern Jurist und Politiker war. Ihm ging es gar nicht so sehr darum, philosophische Traktate zu verfassen, sondern seine Ideen zu benutzen, um Politik zu machen und gleichzeitig seine Erfahrungen, die er in der Politik sammelte, in seinen Schriften zu reflektieren und aufzuarbeiten. Was ich dabei am originellsten finde, ist seine Verbindung von Solidaritäts- und Friedenskonzeption; diese beiden Begriffe sind bei ihm unmittelbar verschränkt. Allerdings hat er, ähnlich wie in seiner biographischen Entwicklung vom Innenpolitiker zum Außenpolitiker, auch seine wissenschaftlichen Arbeiten vom eher innenpolitisch ausgerichteten Begriff der Solidarität hin zum her außenpolitischen Begriff des Friedens entwickelt, Solidarität dabei jedoch stets als Fundament des letzteren verstanden.

Damit geben Sie genau das Stichwort. Von Solidarität ist in den aktuellen politischen Debatten häufig die Rede, obgleich deren Umfang und Bedeutung selten ausbuchstabiert wird. Wie versteht Bourgeois den Begriff »Solidarität«, der zu seiner Zeit gerade erst für den politischen Diskurs etabliert wurde?

Bourgeois’ Werk Solidarité ist 1896 erschienen. Zu dieser Zeit setzte er sich mit zwei entgegengesetzten politisch-ideologischen Lagern auseinander, dem Individualismus auf der einen Seite und dem Kollektivismus auf der anderen. Ersterer hebt beim isolierten und abstrakten Individuum an und konstruiert von dort ausgehend die Gesellschaft. Dem entgegengesetzt sind die kollektivistischen Konzeptionen, die vom Primat der Kollektive und sozialen Organisationen ausgehen. Für Bourgeois sind beide Ansätze zu einseitig, sodass er versucht, beide zusammenzuführen, um sie zu integrieren. Er ist davon überzeugt, dass das Individuum nur in der und durch die Gesellschaft wirklich existieren kann. Bourgeois entwickelt hier eine sehr originelle Konzeption, in der er die Gesellschaft nach dem Vorbild einer Assoziation auffasst, wie wir sie beispielsweise auch von Vereinen kennen. In diesem Kontext tauschen Menschen ihre Dienstleistungen aus, einerseits synchron als gleichzeitig existierende Individuen, andererseits diachron als in der Zeit existierende Individuen. Der Einzelne wird stets in eine bereits bestehende Gesellschaft hineingeboren und kann überhaupt erst durch den Austausch mit dem, was die Gesellschaft zuvor an materiellem und geistigem Kapital akkumuliert hat, existieren und sich entwickeln. Für Bourgeois geht es um die Aneignung eines Erbes, aus dem heraus sich ein Geben und Nehmen entwickelt. Dieser Prozess beginnt bereits beim Kleinkind und besteht fort bis in das Erwachsenenalter. Gesellschaft ist demnach ein sich in Raum und Zeit entwickelndes Konglomerat von Individuen, in dem sich der Einzelne durch das Ganze entwickelt und umgekehrt. Dieses komplexe Phänomen, das Zusammenspiel aller im großen Ganzen, bezeichnet Bourgeois als objektive Solidarität. Diese objektive Solidarität muss ihm zu Folge aber erst einmal bewusst gemacht werden durch Politik und – positiv verstandene – Propaganda; beidem misst er diesbezüglich einen hohen Stellenwert bei und erachtet es als dringlich, neben dieser Struktur innerhalb der Gesellschaft auch den Umgang verschiedener Gesellschaften miteinander ins Zentrum zu stellen.

Heute zeigen sich zunehmend die ökologischen Dimensionen dieser, mit Bourgeois gesprochen, objektiven Solidarität. Menschliches Handeln hat durch die technologischen Entwicklungen eine Tragweite, die uns notgedrungen in wechselseitige Abhängigkeiten und damit eine noch stärkere Solidaritätsbeziehung bringt, wie es die Folgen der Klimakrise zeigen. Geht es Bourgeois auch um solche ökologischen Verflechtungen?

Ich habe eben in meiner Darlegung der Solidaritäts-Konzeption von Bourgeois bei der Gesellschaft begonnen. Eigentlich müsste aber schon vorher angesetzt werden, was er tatsächlich auch in seiner Schrift Solidarität tut. Darin zeigt er auf, dass es in der naturwissenschaftlichen Forschung seiner Zeit zwar die darwinistische Idee vom Kampf ums Dasein gibt, andererseits aber auch die Vorstellung einer natürlichen Solidarität unter und zwischen den Lebewesen. Diese Beobachtung bezieht sich nicht nur auf Bienenstöcke und Ameisenhaufen, sondern auch auf die Zusammenarbeit der Organe innerhalb eines einzelnen Organismus. Auch diesen Umstand begreift Bourgeois als objektiven und notwendigen Zusammenhang, in dem das Ganze nur durch seine Teile bestehen kann und umgekehrt. Für ihn ist die Solidarität dort schon vorgelagert, wenn auch von anderem Charakter als in der Gesellschaft. Nichtsdestotrotz ist Bourgeois der Überzeugung, dass sich darin eine Trendwende in den Naturwissenschaften erkennen lässt. Dementsprechend sind auch ökologische Aspekte in seinem Verständnis von Frieden enthalten, die etwa sichtbar werden, wenn er den Frieden mit einem Baum vergleicht, unter dessen Krone die Menschheit Schutz finden kann. Ich halte dies für eine gut gewählte Metapher, da sie zugleich die Wichtigkeit eines solidarischen und friedlichen Umgangs mit der Natur selbst hervorhebt. Wenn dieser Baum als Symbol der Natur nicht mehr vorhanden ist, dann hat die Menschheit ihre eigene Existenzgrundlage abgeschafft.

In Ihrem Nachwort zu seinen Schriften erwähnen Sie seine entscheidende Modifikation der drei Ideen der Französischen Revolution von 1789. Wie geht Bourgeois mit diesem politischen Erbe um?

Bourgeois bezeichnet sich regelmäßig als Revolutionär, der die Ideen der französischen Revolution und der Aufklärung vollenden will, jedoch lehnt er bewusst Gewalt und insbesondere Krieg, der für ihn das schlimmste Übel darstellt, entschieden ab. Er schließt demnach an die Trias von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit an, ohne sie jedoch lediglich zu übernehmen. Zwei wichtige Änderungen nimmt Bourgeois vor: Einmal ersetzt er den Begriff der Brüderlichkeit durch den Begriff der Solidarität. Das ist jedoch kein schlichtes Ändern eines Wortes, sondern eine konzeptionelle Änderung. Denn der Begriff der Brüderlichkeit, oder der diesem historisch vorhergehende Begriff der Barmherzigkeit aus dem christlichen Milieu, hat stets ein paternalistisches Element, in dem sich ein Ungleichgewicht widerspiegelt: Derjenige, der etwas hat, gibt demjenigen etwas ab, der nichts oder weniger hat, allerdings immer – und das ist ein entscheidender Punkt – auf freiwilliger Basis. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, dieses Konzept finden wir schließlich auch heute noch, etwa beim Spenden. Für Bourgeois ist Solidarität aber eben etwas anderes, nämlich eine auf der Gleichheit von Gebendem und Nehmendem aufbauende Beziehung, die von Objektivität, Notwendigkeit und Reziprozität geprägt ist. Neben der Veränderung des Begriffs selbst geht es ihm zweitens um die Stellung der Begriffe untereinander: Die Anordnung der Trias »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« lehnt er ab und teilt stattdessen Solidarität das Primat zu, gefolgt von Gleichheit, bzw. Gerechtigkeit, und schließlich Freiheit.

Das semantische Feld der Brüderlichkeit lässt eine Verbundenheit über die Blutsbande anklingen, die schnell ethnisch verkürzt werden kann. Zudem ist der Begriff im Vorhinein schon vergeschlechtlicht. Öffnet Bourgeois’ Ablösung desselben durch den Begriff der Solidarität nicht auch die Möglichkeit einer Kritik problematischer Kollektivismen?

Den Gender-Aspekt habe ich in dieser Form bei ihm noch nicht entdecken können; diesbezüglich muss der Autor wohl auch innerhalb seiner Zeit verstanden und interpretiert werden. Was sich aber finden lässt, ist die Betonung des Umstands, dass Solidarität keine moralische Kategorie darstellt, sondern dass sie objektiv und notwendig ist und jedem Handeln bereits unterliegt. Das gilt selbst, wenn sich die Akteure dessen nicht bewusst sein sollten und kontrafaktisch agieren. Hinzukommt die Ablehnung eines Paternalismus und der rein familiären Bindung. Bourgeois spricht stattdessen von Stufen der Solidarität und beginnt dafür bei der Familie, genauer beim Kleinkind, welches sich dann im Folgenden peu á peu emanzipiert.

Ihre Frage führt mich aber zu einer weiteren Komponente bei Bourgeois, nämlich zu den Grenzen des Solidaritätsbegriffs, die er betont, und zwar trotz seiner Überzeugung von der Wichtigkeit dieser Kategorie. Bourgeois hebt hervor, dass die Individuen innerhalb einer Gesellschaft sehr verschiedene Beziehungen miteinander eingehen und verschiedene Bezüge zueinander haben, die sich etwa in Geschlecht, Weltanschauung und anderen Komponenten niederschlagen. Jede Gruppe pflegt eine interne Solidarität, auf die sie sich jedoch nicht reduzieren darf; vielmehr müsse sie sich stets als in einen breiteren Kontext eingebettet verstehen. Ansonsten läuft diese In-Group Gefahr, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren, zu einem sozialen Egoisten zu werden und auf diese Weise zu bewirken, dass die Solidarität in eine Form von A-Solidarität bzw. A-Sozialität umschlägt. Als Beispiel, welches allerdings nicht unbedingt meiner politischen Haltung entspricht, nennt er unter anderem die Gewerkschaften, die etwa nur noch ihre eigenen politischen Kämpfe sehen. Für Bourgeois ist dort aber auch eine Gesellschaft als Ganze zu nennen, die sich nur noch auf sich selbst konzentriert und ihre Interessen permanent gegen andere Gesellschaften versucht durchzusetzen. Außenpolitisch kann sich solches Verhalten in Richtung eines militärischen Konflikts entwickeln, innenpolitisch in Richtung Fremdenfeindlichkeit. Wir finden also eine Form des individuellen Egoismus vor, aber auch eine des Gruppenegoismus, welche gerade im Zusammenspiel eine zerstörerische Dynamik entfalten können.

Gegen diese destruktiven Dynamiken setzt sich Bourgeois Zeit seines Lebens ein. Sie selbst bezeichnen Bourgeois als Vertreter eines »juristischen Pazifismus«. Wie äußert sich dieser Pazifismus?

Man muss sich bewusst machen, dass Bourgeois wirklich mit Leib und Seele Jurist ist. Nach seinem Jurastudium und seiner Promotion ist er allerdings nicht an der Universität geblieben, was vielleicht auch seine geringe Rezeption in der wissenschaftlichen Community erklärt. Er ist stattdessen in die Politik gegangen, aber sowohl seine politischen als auch theoretischen Vorstellungen sind stark durchdrungen vom rechtswissenschaftlichen Denken. Wenn wir jetzt auf den Völkerbund und damit auf das Verhältnis von Frieden und Recht zu sprechen kommen, können wir all das, was wir bisher auf der nationalen Ebene über Gesellschaften gesagt haben, auf die internationale Ebene und somit die Außenpolitik übertragen. Auch dort gilt es für Bourgeois, die objektiv existenten Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeiten zwischen den Nationen, ganz gleich welcher Natur, sichtbar und zum Ausgangspunkt internationaler Politik zu machen. Die Globalisierung, von der wir hier sprechen, ist ja nicht erst ein Produkt des 21. Jahrhunderts, sondern ein Prozess, der an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts bereits in vollem Gange ist. Für ihn ist es daher wesentlich, die wirtschaftlichen Abhängigkeiten herauszustellen. Jedoch sind diese Interdependenzen noch zum Großteil unerkannt und müssen zunächst von Wissenschaftlern herausgestellt sowie von Politikern als Grundlage des Handelns angenommen werden. Der Völkerbund ist dabei für Bourgeois die Institution, welche genau das auf internationaler Ebene umsetzen könnte.

Diese Idee ist nun natürlich nicht allein Bourgeois‘ Idee. Seit den 1890er Jahren ist er Teil der, wenn auch auf elitärer Ebene, sich herausbildenden Friedensbewegung, zu deren prominenten Vertretern etwa Bertha von Suttner gezählt werden kann. 1899 und 1907 trifft sich diese Bewegung in Den Haag zu den bekannten Haager Friedenskonferenzen, bei denen es um die Schaffung eines solchen Völkerbundes ging. Aus diesen Anstrengungen ist schließlich der Ständige Internationale Gerichtshof von Den Haag hervorgegangen, eines der Organe des Völkerbundes. In der Schaffung derartiger Institutionen sieht Léon Bourgeois sein Verständnis und Prinzip von Solidarität sehr gut aufgehoben. Insofern spielt das Jurist-Sein für ihn eine große Rolle.

Die dritte Friedenskonferenz, die ursprünglich 1915 hätte stattfinden sollen, wird dann allerdings durch den Ersten Weltkrieg vereitelt. Hinzu kommt der Tod Bertha von Suttners, kurz bevor der Krieg beginnt. All dies sind tragische Einschnitte in das Leben von Bourgeois, die ihn auf der einen Seite schwer getroffen haben, die er auf der anderen Seite jedoch auch produktiv umzusetzen versteht. Während des Krieges ist er weiter in Kommissionen tätig, setzt sich aber auch konkret als Innenpolitiker für die Lösung sozialer Probleme ein, die durch den Krieg aufgeworfen bzw. verschärft wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es dann zur eigentlichen Gründung des Völkerbundes. Für sein Engagement in diesem Kontext wird er 1920 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Aufgrund von Krankheit und seines hohen Alters ist Bourgeois jedoch nicht mehr in der Lage, den Preis selbst entgegenzunehmen, sodass er seine Nobelpreis-Rede 1922 – also vor genau 100 Jahren – an das Nobelpreis-Komitee schickt. In dieser Rede spricht Bourgeois davon, dass der Völkerbund paradoxer- und tragischerweise ein Produkt des Ersten Weltkrieges ist. Die Notwendigkeit der Schaffung institutioneller Voraussetzungen für nachhaltigen Frieden, der mehr ist als ein zeitweiliger Waffenstillstand, sei der politischen Öffentlichkeit offensichtlich erst durch die erfahrenen Schrecken vor Augen getreten.

Der Völkerbund kann als Schlussstein seines Lebensprojekts gelten, das Bourgeois mit dem Ersten Weltkrieg im Rücken realisieren konnte. Dessen Unfähigkeit, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, hat er nicht mehr erlebt. Waren seine Erwartungen an die Herausbildung internationaler rechtlicher Institution in der historischen Rückschau zu hoch?

Bourgeois hat stets kontrafaktisch gearbeitet, nämlich gegen das seiner Meinung nach größte Übel: den Krieg. Dieses Unterfangen lässt sich als Sisyphusarbeit begreifen, denn Bourgeois ist sich durchaus dessen bewusst, dass das Damoklesschwert des Krieges noch lange über der Menschheit schweben wird. Gerade sein Blick auf das zerstörte Europa bestärkt ihn jedoch in seiner Haltung, dass man nicht aufgeben darf und sich jede und jeder im Rahmen der Möglichkeiten für so viel Frieden wie nur eben möglich einzusetzen hat. Tatsächlich ist der Völkerbund in dem Sinne gescheitert, dass er nicht in der Lage war, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Und auch die UNO, die historisch an seine Stelle getreten ist, konnte, wenn wir nun zur Gegenwart zurückkommen, etwa den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nicht verhindern, geschweige denn all die Kriege und Konflikte, die sich auf dem Globus permanent ereignen und ereignet haben. Dennoch sind solche Institutionen wichtig, und ich bin, ähnlich wie Bourgeois zu seiner Zeit, der Auffassung, dass man gegenwärtig alle Optionen zur Herstellung von Frieden ins Kalkül ziehen muss, also auch diplomatische Beziehungen, oder zumindest die Bemühungen um solche, und man die Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen nicht komplett unterbrechen sollte. Darüber hinaus denke ich, dass es keine Alternative zu kollektiven Formen der Sicherheit gibt. Allerdings müssen diese Formen immer wieder neu konstituiert und den gegebenen Bedingungen angepasst werden. Wie Bourgeois schon betont hat, handelt es sich bei Gesellschaften eben um Konglomerate, die in Raum und Zeit situiert sind und sich dementsprechend entwickeln. Strukturen, die einmal geschaffen worden sind, können nicht auf ewig Gültigkeit beanspruchen. Aber ein auf Nachhaltigkeit gerichtetes Sicherheitssystem kann meines Erachtens nach ohne Russland nicht funktionieren. So sehr man die gegenwärtige Führung in Russland kritisieren und ablehnen muss, kann ich mir dauerhaften Frieden in Europa und darüber hinaus ohne den Akteur Russland nicht vorstellen.

Bis in das 21. Jahrhundert hinein gab es die Hoffnung, dass die globalen ökonomischen Verflechtungen automatisch dazu führen würden, die – mit Bourgeois gesprochen – wilde oder objektive Solidarität zu einer institutionalisierten Solidarität zu transformieren. Spätestens mit Blick auf das heutige Russland hat sich diese Hoffnung als falsch herausgestellt. Findet sich diese rückblickend vielleichte naive Vorstellung bereits bei Bourgeois?

Es gab sehr lange die Vorstellung, dass globale Handelsverflechtungen relativ automatisch zu friedlichen diplomatischen Beziehungen führen würden. Das hat sich als eine Illusion herausgestellt, der jedoch meines Erachtens Bourgeois nicht unterlag. Er hatte klar die beiden Seiten der Solidarität benannt und unterschieden, nämlich die objektive und notwendige Seite, die sich im vorbewussten Stadium befindet, aber eben auch die Seite, die betont, dass solche Solidarität juristischer und institutioneller Pflege bedarf. Insofern glaube ich nicht, dass Bourgeois naiv war; das war vielmehr die Politik der letzten Jahre. Hier, denke ich, können wir etwas von Bourgeois lernen, nämlich genau hinzuschauen, zu bestimmen, was wirklich die zu lösenden Konflikte sind und welches Spektrum an Möglichkeiten besteht, um friedvolle Lösungen herbeizuführen. Dafür muss jedoch unbedingt die Analyse den Vorschlägen von Alternativen vorausgehen und sich ein harter Realismus mit Vision verbinden. Eine Kombination, die für Léon Bourgeois kennzeichnend war.

Die Fragen stellte Marvin Dreiwes.