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Nr. 2 / 2022
Durch einen Türrahmen blickt aus einem zertümmerten Wohnbereich auf Straße mit einem Baum in der Mitte
Friedensphilosophie

Frieden als Gerundiv

Frieden ist ein Gerundivum. Es ist eine Aufgabe, die man zu bewerkstelligen hat. Diese Aufgabe voller Anstrengung ist so anspruchsvoll, dass schon Platon ausgerechnet in den Nomoi verlauten ließ, dass alles nur »Schall und Rauch« sei (626a). Man mag an das »alles umsonst«-Motiv aus dem Buch Kohelet (Koh 1,2) denken. Für Augustinus steht im Unfrieden die Schöpfungsordnung verkehrt herum auf dem Kopf. Immerhin überbot Immanuel Kant seinen Aufsatz Über das radikal Böse in der menschlichen Natur von 1792 mit seinem philosophischen Entwurf zum Ewigen Frieden (1795). Von Frieden ist die gegenwärtige Welt nach einer Reihe historischer Zäsuren weiter entfernt als bisher. So ist die Rede von einer »tektonischen Verschiebung« (Major 2022: 10–15) bzw. davon, dass der »russische Angriff auf die Ukraine […] die europäische Friedensordnung buchstäblich zertrümmert« hat (Münkler 2022: 4–9). Gefordert ist auch hier ein Gerundivum: Der Weg zu einer bisher nicht deutlich erkennbaren »Friedensform« über eine »Gestaltung«. Doch was bedeutet dies und welche Elemente erfordert sie?

Station 1: Anamnetische Rückfrage der ›Top down‹-Modelle

Der Ausdruck »Frieden« kann als Zielbegriff verwendet werden, als Grenzbegriff (die rote Linien nicht unterschreiten), als Normalisierungsbegriff (Stabilität anstreben), als Kompromissbegriff (Einigung auf xyz), als Indikatorbegriff (welche Interferenzen, Interruptionen oder Perfusionen mit kriegerischen Zuständen liegen vor?) und weiteren Varianten. Fraglich ist, in welcher Bedeutungstheorie gesprochen wird, nach Nominalbedeutung, Gebrauchsbedeutung, Metabedeutung oder Frage nach einer signifikativen Differenz (ein was als wie). So kennen wir Begriffe wie Diktatfrieden, Burgfrieden, Unterwerfungsfrieden, Sitzfriede usw. Bereits diese Formen zeigen implizite Gewaltmomente in verschiedenen Anteilen an: Unterschieden wird zwischen bias (nackter, roher, brachialer Gewalt), vis (gestaltete Gewalt, z. B. durch Werkzeuggebrauch wie Waffen), potentia (Mächtigkeit haben) und potestas (Amtsgewalt). Fragen von Legitimität und Legalität, die z. B. Probleme des Widerstandsrechts oder des zivilen Ungehorsams betreffen, gehören in dieses Feld. Physische Gewalt mithilfe von Zwangs- und Kontrollmitteln wird als politisches Machtmittel ein- und in Friedensformen fortgesetzt. Psychische Gewalt dient als indirekte Beeinflussung über verbale Mittel wie Androhung von Folter oder Strafmaßnahmen, Manipulationen, Belohnungsmechanismen, Symbole, semiologische Zeichen, Instrumentalisierung von Affekten und Lebensbefindlichkeiten (Angst), Steuerung von Lebensmöglichkeiten (z. B. Entzug von Existenzsicherung), Versperrung von Exit-Möglichkeiten (wie Flucht, Vermeidung, Abwehr, Widerstand). Prekär ist folglich jegliche Friedensambition. Strukturelle Gewalt changiert zwischen Gewaltpraktiken und Mechanismen in ›Friedenszeiten‹. Eine ungleiche Verteilung von Macht, Ressourcen und Wissen führt zu sozialer Ungerechtigkeit, Verelendung, Armut, Unterdrückung, und Defiziten bei der Realisierung von Lebensmöglichkeiten. Die kürzeste Praxis, welche Frieden durchkreuzt, bringt eine ›Macht‹ des Antuns und Verletzens ins Spiel. Aufgrund dieses Hintergrundes ist nicht verwunderlich, dass Frieden durch all die Jahrhunderte hinweg zumeist eher als ›Interimszeit‹, also als kurzes ›Zwischen-Intervall‹ zwischen Kriegen und Konflikten galt. Dies wird auch im Diktum si vis pacem para bellum (›Wenn Du Frieden willst, bereite Krieg vor‹) veranschaulicht.

Als ›Intervallzeit‹ fungierte Frieden als ›Unterbrechung‹ kriegerischer Zustände, nicht aber als wirkliche Überwindung kriegerischer oder gewaltsamer Zustände. Gleichwohl galt als Perspektive, dass Friede mehr sei als ›kein Krieg‹. Bereits die etymologischen Anfänge des deutschen Wortes ›Frieden‹ indizierten diese Vorstellung: Wie die sprachlich verwandten Wörter ›frei‹, ›freien‹, ›Freund‹ geht ›Friede‹ (althochdeutsch: fridu; mittelhochdeutsch: ›friede‹) auf die indogermanische Wurzel fri, ›lieben‹, ›schonen‹ zurück, meint also ursprünglich einen Zustand der Liebe und Schonung, wobei freilich das Moment aktiver, gegenseitiger Hilfe und Stütze stärker betont ist als das einer gefühlsmäßigen Bindung und Zuneigung:

»›Friede‹ ist von vornherein ein sozialer Begriff: er kennzeichnet eine bestimmte Form des menschlichen Zusammenlebens […]. Entscheidend war nämlich, ob man den Friedenszustand vom ›lieben‹ oder ob man ihn vom ›schonen‹ her verstand. Dementsprechend ließ sich ›Frieden‹ einmal als ein Verhältnis gegenseitiger Verbundenheit in Tat und Gesinnung […], das andere Mal als Zustand bloßer Gewaltlosigkeit begreifen« (Janssen 1995: 227).

Dieses Oszillieren zwischen einer bloßen Abwesenheit von Gewalt und einem ›Mehrwert‹ machte Frieden nicht nur anfällig für Gefährdungen. Deutlich wird ein unauflösbares Paradox der Gestaltung. Leitend war zumeist ein ›zweistelliger Begriff‹, bellum und communicatio übersetzten die Dimensionen von Kraft bzw. Gewalt und (verständnisorientierter) Kommunikation, wie sie beispielsweise in der durch Thomas Hobbes gestifteten Idee einer Vertragstheorie zwischen status bellis und status civilis vorgefunden werden. Wichtiger ist aber eine dritte Dimension, die als ›eschatologisches Bild‹ im ›über-hinaus‹ angedeutet wird, klassischerweise im Bild »Dann wohnt der Wolf beim Lam« (Jesaja 11,6), aber eben auch in philosophischen Motiven, genannt seien nur Platon, Augustinus, Levinas, Arendt, Dolf Sternberger u. a. Dies war der Grund für die These, dass Kriege in ihren unterschiedlichen morphologischen Varianten zwar immer ›Sprache‹ instrumentalisieren und für ihre Zwecke verformen, aber eben »diese Sprache zum Anderen« als dritte Dimension jeweils gekappt wird und »ausfällt« (Kapust 2004: 7, 9, 17, 30, 37 u.a.).

Auffällig ist, dass viele bisherige Ansätze Frieden aus einer übergeordneten Perspektive des ›Top-down‹ angehen. Friede wurde bisher im Rahmen einer synchron und diachron angelegten Morphologie verschiedener Spielarten (positiver und negativer Begriff, personale und strukturelle Gewalt, innerer und äußerer, privativer oder attributiver Friede usw.) ausbuchstabiert. Er wurde in verschiedenen Modi betrachtet, so als Integrationsprozess, als prozedurale Variante internationaler Systeme (z. B. Aufbau einer internationalen Sicherheitsarchitektur), als Praxis spezifischer Interaktionen (z. B. Rechtsprechung und Normbildung, Handlungsgestaltung, Konfliktmanagement usw.) und als Modifikation gesellschaftlicher Strukturen (Konnex von Frieden und Herrschaft, Gerechtigkeit, Handel, Macht usw.). Als Prozessmuster wurde er mit verschiedenen moralischen Inhalten angereichert, u.a. mit Solidarität, Toleranz und Gerechtigkeit usw. Als Zusammenwachsen (Integration) über zunehmende interferierende Interaktionen zielte er auf unterschiedliche Varianten von Weltmodellen: Weltinnenpolitik, Weltregierung, Weltbürgertum, Weltgesellschaft, Weltgemeinschaft, Weltkultur und Weltethos. Diese Visionen sind spätestens seit dem 24. Februar 2022 zerbrochen.

Station 2: Ideen aus der Philosophie

Greifen wir aus den philosophischen Positionen von Diskurstheorie, Systemtheorie und Kantianismus einige Aspekte auf, um sie für die vorliegende Fragestellung umzuwenden. Jürgen Habermas scheint zunächst an die o. g. Zweiteilung anzuknüpfen und davor zu warnen, wenn eine communicatio durch strategisch gewaltförmige Muster konterkariert wird. Angesichts der Bedrohung eines Weltfriedens durch den 11. September betont Habermas im Anschluss an die Theorie des kommunikativen Handelns die Prämisse einer »intersubjektiv geteilten Interpretation«, die von einem »Sockel gemeinsamer Hintergrundüberzeugungen, kultureller Selbstverständlichkeiten und reziproker Erwartungen« ausgeht (Habermas 2004: 22 f.). Die zugehörige Friedensvision ist in der gegenwärtigen ›tektonischen Verschiebung‹ aller Parameter zerbrochen:

»Diese reflexive Selbstüberschreitung der Toleranzgrenze einer ›wehrhaften‹ Demokratie verdankt sich […] dem Universalismus der rechtlichen und moralischen Grundlagen einer liberalen Ordnung. Im strengen Sinne ›universalistisch‹ ist nämlich nur der egalitäre Individualismus einer vernünftigen Moral, die gegenseitige Anerkennung im Sinne der gleichen Achtung für und der reziproken Rücksichtnahme auf jeden fordert. Die Mitgliedschaft in der inklusiven, also für alle offenen moralischen Gemeinschaft verspricht nicht nur Solidarität und eine nicht-diskriminierende Einbeziehung, sie bedeutet zugleich das gleiche Recht eines jeden auf Individualität und Andersheit.« (Habermas 2004: 30).

Die systemtheoretische Variante von Niklas Luhmann könnte als »Friedensvorstellung« gedeutet werden, in der Frieden über zunehmende Interaktionen, Interferenzen und Extensionen über zwei Ebenen angedeutet wird: Globale Verflechtungen über Handel, die von einer umspannenden ›Sprache‹ begleitet werden. Die von ihm skizzierte »friedliche Weltgesellschaft« wird mit Max Weber als eine »fortschreitende Zusammenfassung der menschlichen Zivilisation aller Völker in einem Gesellschaftskörper« betrachtet (Luhmann 1975: 51 ff.), die auf Interessen und Kalkül beruht. Vergemeinschaftung wird hingegen als ein Prozess zunehmender Partizipation und geteilter Lebenswelten sowie subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit der Beteiligten verstanden. Eine Weltgesellschaft konstituiert sich über zunehmende Interferenzen, so wenn ein »Russe« Technik in Japan ordert usw. und sich in dieser »Verkehrszivilisation« eine Form des Weltfriedens für einen »urban erzogenen Menschen gleich welcher Provenienz« ausbildet (Luhmann 1975: 53). Man beachte, welche Prämissen einer »Vereinheitlichung« und welche spezifischen »Welt- und Menschenmodelle« hier im Denken fungieren.

Das Moment des Handels ist ein bereits von Hesiod gegen Homer in Anschlag gebrachtes Motiv zur Zähmung eines potentiell destruktiven Zustandes. Ein Wettbewerb, dysfunktional z. B. im Sinne eines kriegerischen Wettrüstens, wird »umgebogen auf eine »zivile« Form des »edlen Wettstreites« von Kultur und Handel. In welchem Maße solche Formen jedoch misslingen, fehlgeleitet oder scheitern können, ist aktuell deutlich geworden. Zudem ist fraglich, ob diese Visionen von »Welthandel« zu einseitigen Perspektiven führen, zumal die mittransportierte »Weltsprache Englisch« diese Einseitigkeiten vertieft. Wir könnten zudem fragen: Wachsen mit zunehmendem Verkehr auch gleichzeitig die menschlichen Vermögen mit, z. B. Fähigkeiten zu Anteilnahme, Solidarität, Herzenswärme, Zivilcourage oder schlichtweg eine wie auch immer gestaltete Menschlichkeit?

Das dritte Angebot bestünde in einem deontologischen Gedanken. Während des Kosovokrieges hat der Philosoph Reinhardt Brandt auf die Nachfrage, was den Soldaten zur Entsendung im »Tornister« mitgegeben werden solle, nicht mit der Antwort gezögert. Er votiert für den Autor des »Ewigen Friedens« – Kant. Nun hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen extremen Apostrophierungen (»Jahrhundert der Ur-Katastrophen« (Schulin), »Jahrhundert der Lager« (Baumann) und »Jahrhundert der Atombombe« (Arendt)) diesen Vorschlag fast wie ein ›Schall und Rauch‹ zunichte gemacht. Das 21. Jahrhundert hat mit den Zäsuren des 11. Septembers und der Neuen Kriege das Problem noch verschärft. Aktuell scheint Kants »ökonomische Devise« einer Kriegsvermeidung durch die optimistisch gefasste »Republikanismusthese«, dass die Bürger im Falle einer Abstimmung über Krieg und Frieden ein »solch schlimmes Spiel« wie den Krieg nicht anfangen würden (weil kein Bürger die ›Drangsale des Krieges‹ über sich beschließen würde) ebenfalls zusammengebrochen (Kant 1983: 196 ff.). Doch auch hier bleibt eine Spur von Friedenssicherungsbestand, auf die wir zurückkommen werden.

Station 3: Hinterfragung von Cruor und Diabolos

In seinem posthum als testamentarischen Vermächtnis entworfenen Buch Cruor greift der 2021 verstorbene französische Philosoph Jean-Luc Nancy einen Vers des Dichters Guillaume Apollinaire aus »Couleurs du temps« auf. Hier hatte Apollinaire 1917 die Blutlachen der Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges beschrieben: »Und diese Epoche verlangt als Beinamen dieses furchtbare lateinische Wort cruor welches das vergossene Blut bedeutet.« (Nancy 2022: 7). Im Ausruf Apollinaires spiegeln sich die Schrecken über das Trauma des Unfriedens der ersten großen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Blut ist ein kulturtheoretisch hochgradig besetztes Thema, man denke nur an die Polarität von Blut Christi oder Menschenopfer, an den Brudermord an Abel, dazwischen die Verletzungen von Menschen und anderer Lebewesen. Nancy interessiert sich für folgende Doppelseitigkeit: Während der Terminus sanguis das Blut in der inneren Infrastruktur eines Körpers bezeichnet, meint cruor das vergossene Blut, das aus dem Körper bei Gewalteinwirkung austritt. Sanguis ist notwendig zum Erhalt der menschlichen Existenz. Cruor schneidet auf gewaltsame Weise das Leben eines Menschen ab. Dieses gewaltsame Eingreifen torpediert gleichzeitig die Möglichkeit einer humanen Gemeinschaft. Nancy verknüpft dazu die Innerlichkeit eines Menschen (wir könnten hier z. B. metaphorisch die individuelle Meinungsfreiheit ansetzen) mit den pluralen Sozialformen der Menschen zu Verflechtungen von »Zwischenleiblichkeiten«.

Wir könnten an dieser Stelle ansetzen und experimentell folgende Frage aufwerfen: Könnte eine Wertigkeit von Cruor analog zur Idee der Atomuhr als Indikator für die Bereitschaft oder die Unwilligkeit zu friedlichen Verhältnissen ausgearbeitet werden? Und wenn ja, wie? Im Hintergrund könnte die These stehen, dass Cruor als Indikator das Maß für die Wahrung von Unversehrtheit angeben müsste. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wenn nun experimentell zwei weitere Chiffren als Interpretationsansätze für Un-Friedensformen in Betracht gezogen werden. Wie sehen friedliche Verhältnisse von unten, also von ›bottom up‹ aus?

Es fällt auf, dass die meisten Ansätze (deren Denkkraft und Berechtigung hier gar nicht bestritten werden soll) meistens ohne ein Element operieren. Erstens fehlt die Dimension des oben angezeigten ›eschatologischen‹ Sprechens (in welcher Variante auch immer). Diese Dimension hätte vorsichtig genug eine ›Orientierung‹ angeben können, warum es (platonisch gesprochen) besser ist, den anderen nicht zu verfolgen anstatt ihn/sie zu verfolgen und zu töten. Welche ›Diabolik‹ hier am Werk ist, zeigt die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum im Rekurs auf das Meisterwerk Things fall apart des afrikanischen Erzählers Chinua Achebe. Hier wird unter Verhöhnung, Peinigung und auswegloser Drangsalierung ein Vater gezwungen, seinen geliebten Pflegesohn »abzuschlachten«, um nicht als »schwächliches Weib« im Kriege gelten zu müssen (Nussbaum 1999: 131, 288). Bringt der Roman die niedersten »Blutlachen« von Gewalt ins Bild, verkörpert er gleichzeitig eine hochproblematische Dimension: Eine Spaltung als Diabolisches, die friedliche Sozialformen und sprachliche Dimensionen zerstört. In Der Krieg und der Ausfall der Sprache habe ich für solche Analysen den Begriff der »Diabolik« von Vladimir Jankélévitch aufgegriffen. Jankélévitch setzt bezeichnenderweise in seinen Reflexionen zur Vergebung (pardonner) das Motiv des Diabolischen in Anlehnung an das cartesianische Motiv des deus malignus methodisch als eine Negativfolie an, um die durch »metaphysische Vampire« verursachten Phänomene des Malum klären zu können (Jankélévitch 1967: 17; Kapust 2004: 310–321). Das Werk könnte ein als »Fortdenken« von Kants Dilemma zwischen »Ewiger Friede« und »Das Radikal Böse« betrachtet werden. Die Diabolik spiegelt einen Riss: Etymologisch veranschaulicht das ›dia‹ die Idee der Trennung und der Teilung im destruktiven Sinne der Zerspaltung. Das griechische ›ballo‹ bringt die Aktivität des Werfens oder Setzens zum Ausdruck. Der Diabolos ist folglich als jene Instanz oder Macht zu begreifen, die nicht nur die Gemeinschaft mit ihren friedlichen Beziehungen und ihrer Koexistenz auseinanderbricht, sondern diese Zerstörung durch eine gewaltsam eingesetzte Kraft zur Wirksamkeit bringt. Das Tragische dieser Diabolik besteht jedoch nicht darin, ein bloßes Resultat zu erzielen, wie dies im Primat der Niederwerfung des Gegners oder im Diktatfrieden beschrieben wird. Das Diabolische besteht in der Grausamkeit, diese Zerspaltung des »Zusammenlebens« als Verletzung und als Verstoß gegen »Menschliches« zu praktizieren und dazu die notwendigen »Sinn-Prämissen« gleich mit zu zerstören. Betrachten wir dazu eine weitere Chiffre.

Ideengeschichtlich lässt sich im Tableau von Friedensideen sehr gut eine Linie erkennen: Die ›westliche‹ Entwicklung hat über Jahrhunderte zunächst trotz aller Ambivalenzen eine Einhegung von Gewalt durch die sogenannte Monopolisierung von Gewalt erzielt hat (Etappe 1) (Kapust 2004: 50–102). Dieser historisch bedeutsame Prozess wurde im Ausgang von Hugo Grotius (1583–1645) und Samuel von Pufendorf (1632–1694) durch völkerrechtliche Überlegungen vertieft (Etappe II). Diese führten zu Kants »Zweck-an-sich« und in einer dritten Etappe nach erneuten Paroxysmen von Gewalt zur Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte, in deren Zentrum das »Unantastbare« steht (Gröschner, Lembcke, Kapust 2013; Kapust 2010: 269–313). Es wäre zu wünschen gewesen, dass sich zumindest im Zuge einer Ausfaltung einer »Verkehrszivilisation« ein umfassender Sinn für diese Embleme (ob man sie als Werte, Ideen, Normen usw. fasst) ausbildet. In zu vielen Nationen ist jedoch (auch bottom up unter Menschen) der »Cruor-Index« zu hoch. Allein ein Blick auf die gegenwärtigen tektonischen Verwerfungen von Frieden demonstrieren dies.

Die russische Kultur hatte zeitweilig an dieser (im Westen stattfindenden) Entwicklung teilgenommen. Peter der Große war europäisch orientiert. Die Zarin Katarina II. hatte Geistesgrößen wie den französischen Aufklärer Denis Diderot, Verfasser einer beeindruckenden Enzyklopädie, an ihrem Hofe. Eine unfriedliche und diabolische Abspaltung von diesen geistigen Kulturgütern errichtete sich allmählich. Sie beruht auf mindestens drei Achsen, die hier nur angedeutet werden können. Erstens ist auffällig, dass eine Reihe von Gewalttheoretikern aus der theoretischen Linie der oben erwähnten Eingrenzung von Gewalt ausscheren und Gewalt als opportunes Mittel zulassen bzw. auch empfehlen. Dazu zählen z. B. Denker wie Gorges Sorel (oder auch Carl Schmitt). Dieser Umbruch wird von zunächst von politischen Führern wie Lenin und Stalin aufgegriffen. Zweitens gewannen diejenigen Denker an Boden, die eine Abspaltung vom europäischen Denken zugunsten einer sogenannten panslawischen Idee und der Macht- und Geopolitik des Eurasischen Raums ausarbeiten. (Eltchaninoff 2016: 79 ff., 99 ff). Fragwürdig sind diese Denker vor allem auch deshalb, weil sie die zugehörigen neuen Menschenbilder gleich mitliefern (z. B. den homo sovieticus).

Als dritte Achse scheint mir aber ein Momentum zu gelten, das als eines der gefährlichsten dysfunktionalen Narrative gegen Friedensideen betrachtet werden müsste (Kapust 1999b). Einer der größten Romane der Weltliteratur, das 1866 erschienen Werk Verbrechen und Strafe (bzw. Schuld und Sühne von Fjodor Dostojewski), entfaltet das ungeheuerliche Tableau zweier großer Sphären: Der Macht des Kratos steht die Ohnmacht des Ethos entgegen. Im Zentrum steht nicht der Mord an der Pfandleiherin, welche die Hauptfigur des Romans, Rodion Raskolnikoff, hinterhältig begeht (Dostojewski 1977: 346 f.). Im Mittelpunkt steht vielmehr die ungeheure »Rechtfertigung«, die sich der Täter selbst gibt:

»Deshalb habe ich denn auch nur angedeutet, daß ein ›außergewöhnlicher‹ Mensch das Recht habe ... das heißt, kein offizielles Recht, sondern von sich aus das Recht habe, seinem Gewissen zu gestatten [...] gewisse Hindernisse zu übertreten, dies jedoch einzig in dem Fall, wenn die Ausführung seiner Idee (einer manchmal vielleicht für die ganze Menschheit heilbringenden Idee) das verlangt.« (Dostojewski 1977: 346 f.).

Die Idee einer schrankenlosen Transgression wird im Nachsatz gesteigert:

»Weiter entwickele ich in meinem Aufsatz, nach meiner Erinnerung, daß alle nun, beispielsweise alle Gesetzgeber und Ordner der Menschheit, angefangen von den allerältesten, fortfahrend mit den Lykurgs, Solons, Mohammeds, Bonapartes und so weiter, daß sie alle ohne Ausnahme Übertreter, somit Verbrecher waren, schon dadurch allein, daß sie, indem sie ein neues Gesetz gaben, eben damit das alte, von der Gesellschaft als heilig verehrte und von den Vätern überkommene Gesetz übertraten, aufhoben, zerstörten, und schon ganz selbstverständlich schraken sie auch nicht vor dem Blutvergießen zurück, wenn nur das Blut (und es war mitunter völlig unschuldiges und tapfer für das alte Gesetz dargebrachtes Blut) ihnen helfen konnte. Es ist sogar auffallend, daß der größte Teil dieser Wohltäter und Ordner der Menschheit besonders große Blutvergießer waren.« (Dostojewski 1977: 346 f.).

Der Täter erteilt sich die Selbstermächtigung, jedes geltende Gesetz zu überschreiten, dazu eine horrende Bluttat zu begehen und dies »im Namen« eines neuen, größeren, höheren und selbst aufgestellten Gesetzes zu »legitimieren«. Erinnert sei nur am Rande, dass der russische Präsident Dostojewski in seinem Geburtshaus am 11. November 2021, dem 200. Geburtstag des Dichters, ehrte (Eltchaninoff 2022: 183 f.). Hier laufen die verschiedenen Analyse-Fäden zusammen. Im Hintergrund einer solchen Selbstermächtigung steht der Exzess eines Napoleon, der sich 1805 in Schönnbrunn vor Metternich brüstete, »daß er es sich leisten könne, 30.000 Soldaten im Monat zu verbrauchen – Menschen waren nun so billig wie Dreck.« (Fuller 1964: 36; Kapust 2004: 164). Die ›Vernutzung‹ und Missachtung eines ›Unantastbaren‹ kennt keine Grenzen. Auch der französische Anthropologe und Ethnologe Claude Meilassoux hatte die massenweise Instrumentalisierung von Menschen in der Darlegung beschrieben, wie sich die Institution des Fangkrieges auf den Praktiken von Erbeutung und Erjagung von Sklaven im 19. Jahrhundert errichten konnte. Über die Institution der Handelssklaverei etablierte sich institutionelle Gewalt in Lebensformen, die den Verrat der ethischen Orientierung zum Anderen (also jenes eschatologische Sprechen) bedeuteten. Diese in Kriegszeiten gesteigerte »Jagd auf Gefangene« führte dazu, dass »Menschenfleisch hier billiger als überall sonst […], und in Zeiten des Überflusses kann man für einen Barren Salz (etwa 15 Kg) bis zu zwei Gefangene bekommen« (Maillassoux 1989: 263; Kapust 2004: 157). Es sei nur am Rande daran erinnert, dass diese Dimension des ›Preises‹ die Kehrseite von Kants »Zweck an sich« bildet und gegenwärtig zur Zerschmetterung von Frieden durch Krieg passt. Zuvor hatte der französische Philosoph und Kulturarchäologe Georges Didi-Huberman in seinem bemerkenswerten Buch Borken (dem Aufsuchen von Auschwitz-Birkenau) dran erinnert, dass der »Ewige Friede« einem der »größten Friedhöfe der Welt« gewichen war (Didi-Huberman 2012: 72). Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas betrachtet eine solche Transgressionen ›im Namen von…‹ nicht nur als »ontologische Mobilisierung« betrachtet, sondern in der Struktur des ›im Namen von…‹ als Beginn jeder Usurpation und Gewalt der Aneignung. Daher bezeichnet die Formulierung »Berührung ohne Berührung« auch eine Orientierung zum Anderen und Kontakt mit dem Anderen ohne Aneignung (Kapust 1999), so dass Levinas diese Totalität der Mobilisierung durch die Idee eines ›jenseitigen Friedens‹ durchbricht (Levinas 1987).

Station 4: Menschen im Frieden bottom up

Gehen wir auf den Anfangspunkt der Diagnose zurück. Frieden ist fragil und gefährdet, umso mehr in Zeiten tektonischer Verwerfungen. Was heißt das von bottom up gesehen? Zeiten tektonischer Verwerfungen sind Umbrüche. Alles muss neu sortiert werden. Alles neu vorgetastet werden. Emmanuel Levinas hatte von einer Transaszendenz »in die Höhe« gesprochen, Maurice Merleau-Ponty von einer Transdeszendenz »in die Tiefe«. In der »Höhe« fänden wir z. B. die Ideen völkerrechtlichen Friedens. So verstößt beispielsweise ein Angriffskrieg als Missachtung von Frieden gegen das Gewaltverbot aus Artikel 2/4 der Charta der Vereinten Nationen. Er verletzt die territoriale Unversehrtheit eines freien Staates und seine politische Unabhängigkeit. Er stellt ebenfalls einen Angriff nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen dar, der ein Recht auf Selbstverteidigung eröffnet. Er verstößt aber insbesondere gegen die grundlegenden Bestimmungen der Völkergemeinschaft von Geltung von Menschenrechten, dem Selbstbestimmungsrecht von Nationen und ihrem Bestreben nach Menschenwürde.

Unten, in der Tiefe, von wo aus bottom up ein Frieden anvisiert und aufgebaut werden soll, liegt der Gegenpol: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Grausamkeiten, maßlose Zerstörungen und Verwüstungen, Tötungen, Verletzungen, Missachtungen, Sinnlosigkeiten, bis hin zu beträchtlichen Schäden für die gesamte Weltgemeinschaft und den gesamten einzigen Planeten. Zwischen Höhe und Tiefe befinden sich die vielen Zwischenleiblichkeiten mit ihrem mehr oder weniger hohen Cruor-Index:

»Wer im Krieg eine Stadt wie Königsberg bombardiert, bittet die Bevölkerung nicht vorher um Erlaubnis. Wer vollendete Tatsachen durch den puren Akt der Gewalt schafft, verschlägt dem niedergezwungenen Opfer die Sprache. Wer als Opfer um sein Leben rennt, befindet sich nicht mehr in einem Horizont, in dem die Bildung eines Konsenses anvisiert wird. Wer Opfer von Gewalt wird, kann im Ereignis selbst keinen Sinn mehr erblicken, so sehr er auch sucht. Es bilden sich zwei inkompatible und doch verzahnte Logiken: Die Logik der Gewalt errichtet sich unter Verschattung der Logik des Sprechens, die Kraft des Tötens schafft das letzte Wort ab« (Kapust 2004: 9 f.).[1]

Der Zwischen-Raum zeigt sich auch als »Zwischen-Phase«. Sie ist geprägt durch den Einschlag eines Ereignisses, dass jeglichen Frieden faktisch erst einmal pulverisiert. Mit Bernhard Waldenfels kann diese Phase als Pathos bezeichnet werden. Pathos meint ein Widerfahrnis als Ereignis, das uns zustößt oder zugefügt wird. Mit Blick auf das Böse könnten wir hinzusetzen, dass es in den Bereichen des malum morale (in Form der von Menschenhand zugefügten Verletzungen), im Bereich des malum metaphysicum (Verletzungen durch Katastrophe oder Unglück) sowie im Bereich des malum physicum (Erfahrungen des Alterns, der Sterblichkeit, der Krankheit) auftritt. So hat Navid Kermani eine seiner legendären Reden mit einem solchen Ereignis eines Malum begonnen:

»An dem Tag, als mich die Nachricht vom Friedenspreis des deutschen Buchhandels erreichte, am selben Tag wurden in Syrien Jacques Mourad entführt. Zwei bewaffnete Männer traten in das Kloster Mar Elian am Rande der Kleinstadt Quaryatein und verlangten nach Pater Jacques. Sie […] packten ihn und nahmen ihn mit. Am 21. Mai 2015 wurde Jacques Mourad eine Geisel des sogenannten »Islamischen Staates«. (Kermani 2020: 193 ff.).

Das Pathos zeigt an, wovon wir getroffen sind, wenn wir zu antworten versuchen. Es ist an die Figur der zeitlichen Verschiebung der Diastase gebunden: Wovon wir getroffen sind, geht uns voraus. Wenn wir zu antworten versuchen, kommen wir zu spät. Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das Ereignis selbst zutage. Das Getroffensein kommt zwar im Charakter der Passivität zum Ausdruck, jedoch jenseits klassischer Kausalität und Freiheit. Das Pathos gilt nämlich nicht als die Umkehrfigur der Intentionalität, sondern als ihr Paradox. Es handelt sich um die Vorgängigkeit einer Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht. Diese Figur wird einer uneinholbaren und auch unvordenklichen Vorgängigkeit wird bei Levinas und Merleau-Ponty erörtert. Wichtig wird die Zeitlichkeit der Diastase. Auf der einen Seite kommt das Pathos zu früh, da der Betroffene nicht durch eine Antizipation darauf vorbereitet ist. Der Betroffene ist folglich ausgeliefert. Die Antwort darauf kommt jedoch zu spät und erst dann, wenn der Gipfelpunkt der Erfahrung überschritten ist und eine Antwort nur nachträglich gesucht werden kann. Das Pathos beginnt nicht im Eigenen, sondern »anderswo«, nämlich in der Fremdheit der Erfahrung (Waldenfels 2002).

Ikonisch im Bild verdichtet konnte kein anderer Anblick das Ereignis einer Missachtung von Schutzwürdigkeit im Frieden zum Ausdruck bringen als das Foto der Hand einer Frau, die in im März 2022 in Butscha ahnungslos und sinnlos von einem russischen Panzer getötet wurde. Es handelte sich um Irina Filkina. Der »indirekte Zeuge« der Weltöffentlichkeit blieb an einem Finger hängen. Es waren rot lackierte Fingernägel, nur ein Finger zeigte eine Herzform (Peitsch 2022). Diese Details (welche Tragik in der Überkreuzung mit einem »Blutrot«) setzten bildaktiv sofort Schockwellen frei, weil jeder Betrachter in diesem »Stückchen Körperfleisch« ganze Weltdimensionen erahnen konnte: Wovon hatte diese Frau geträumt? Was hatte sie noch vor in ihrer Lebenszeit? Was hatte sie gerade erledigt, als sie mit dem Rad unterwegs war? Hatten sie und ihre Lieben vor dem Krieg nicht fliehen können? In diesem Fingernagel verdichtete sich ein gesamtes ›Zur-Welt-Sein‹, eine Dimension, in welcher Maurice Merleau-Ponty zahlreiche Ebenen des Seins artikuliert sieht (Merleau-Ponty 2011). Aufgeklappt im »Feld des Seins« wurde ein »Chiasmus« zwischen der irdischen Welt (Tiefe) und der transzendierenden Welt (Höhe), in die alle Hoffnungen, alle Bestrebungen, alle Träume hineinreichen. Es ist jener winzige Moment, in dem wie im berühmten Gemälde von Michelangelo, die »Die Erschaffung Adams« von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle (1508-1512), die eschatologische Welt beinahe die Fingerkuppe von Adam (tangential mit Schelling gesprochen) berührt. Dieses Unberührbare war ihr grausam genommen und verweigert worden. Ein Frieden sollte dieses sprachliche Band, dieses Sprechen zum Anderen als Orientierung zum Anderen tragen können. Die Anläufe der Ermittler, in einem 3-D-Modell auf einer virtuellen Kartographie die Stellen jener Verbrechen zu markieren und den Opfern ein Gesicht und eine »Gerechtigkeit« »zurück« zugeben, verdienen Unterstützung (N-TV 2022).

Doch im Bild verdichtet sich weitaus mehr. Die am 4. April 2014 in Afghanistan erschossene Fotojournalistin Anja Niedringhaus hatte in der Ausstellung »Anja Niedringhaus. 20 Jahre Fotografien aus Kriegsgebieten« (21.1.2012–15.4.2012) im Museum Situation Kunst Bochum ein Foto ausgestellt, auf dem ein Detail Verwirrung auslöste. Es zeigt, wie ein verletzter Kriegssoldat (Kriegsgefangener der Rebellen) im März 2011 im Krankenhaus in Bengasi (Lybien) verhört wird. Theoretisch könnten die beiden jungen Männer Brüder sein. Jedoch ist auch hier eine ›cruor-hafte Diabolik‹ am Werk, die fast an das ewige Motiv der Erschlagung Abels durch Kain erinnert. Der eine junge Mann schreit in seiner Macht, der wehrlos Verletzte erwidert voller Angst den Blick.[2] Auf die erstaunte Frage, was denn ein Soldat im Krankenhaus mit einer Zange wolle, antwortete die Fotografien rätselhaft, er habe geklopft, aber »sie hätte rausrennen müssen«. Erst jetzt mit den Kriegsverbrechen in Butscha wurde bei Nachforschungen klar, dass es sich bei der Zange um ein Folterinstrument handelt, das auf sehr schmerzhafte Weise dem Opfer die Fingernägel bricht und auszieht. Es geht hier nicht nur um die Frage, wie anspruchsvoll der Aufbau und die Gestaltung von Frieden nach solchen Ereignissen sind. Pointiert macht diese paradigmatische Beschreibung deutlich, was mindestens eine Bedingung sein muss. Viele Staaten der Welt werfen ›dem Westen‹ moralische Arroganz und eurozentrische Bestrebungen vor, so auch der Politologe Kishore Mahbubani aus Singapur, auch ehemaliger Präsident des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. In einem Interview vom 19. Mai 2008 stößt er »den Westen« aufgrund von Vorwürfen wie Selbstherrlichkeit und Hypokrisie zurück: »Deshalb rate ich Ländern wie Deutschland: Shut up! Redet nicht mehr über Menschenrechte!« (Kurbjuweit/Feldenkirchen 2008). Die beiden Redakteure des Interviews konnten jedoch blitzschnell und clever mit einer Gegenfrage kontern, welche die Pointe entlarvt: Ob er nicht bitterlich wünschen würde, dass »draußen in der Welt« sich jemand mit Menschenrechten für ihn einsetzen würde, sollte er je selbst in einem Foltergefängnis verschwinden (Kurbjuweit/Feldenkirchen 2008).

Gehen wir nun auf die Ausgangsfrage zurück. Gefragt ist die »Geltung« einer Sinn-Prämisse (Habermas). Notwendig ist eine Art Alphabet für eine »Zivilisation« (Senghaas mit Luhmann). Der Begriff der Unantastbarkeit weist eine außerordentlich hohe semantische Komplexität auf. Das semantische Feld setzt sich zusammen aus den Formen von Unverfügbarkeit, Unabwägbarkeit, Unveräußerlichkeit, Unverrechenbarkeit, Unrelativierbarkeit, Unverletzbarkeit oder Unversehrtheit und Un-Vernutzbarkeit. Zu diesen Konzepten gehören auch Begriffe wie das Tabu, der Achtungsanspruch oder auch die »Wahrung« von Ansprüchen (Kapust 2009 2013: 127 ff.). Frieden kann sich in der Pluralität inkommensurabler Sprachspiele nur gegen die ›Kraft eines Stärkeren‹ aufbauen, wenn er eine Frage im Blick behält ›Warum liegt es im eigenen Interesse, gerecht zu sein?‹ Wir müssten hinzufügen: Warum ist es sinnvoll, ein ›Unantastbares‹ zu wahren? Zur Beantwortung dieser Frage, die fast wie Habermas Frage »Warum moralisch sein?« (die ebenfalls bei etlichen Philosophen variiert wird), greift der amerikanische Philosoph Richard Rorty in einem anderen Kontext eine Idee der amerikanischen Philosophin Judith Shklar auf: Kernstück eines friedlichen Miteinanders wäre mithin die Vermeidung des schlimmsten Übels, das nicht nur alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit treffen kann und daher verbindet, sondern von den meisten auch als Übel wahrgenommen und empfunden wird. Shklar geht in ihrer politischen Philosophie davon aus, dass »Grausamkeit das Schlimmste« sei, was Menschen widerfahren kann. Es ist alarmierend, dass einige Kulturen sich aus dieser Prämisse ausblenden und die »menschliche Anfälligkeit für Schmerz und Grausamkeit« ignorieren (Rorty 1992: 16f., auch 30, 50f., 72,77, 81, 93f.). Angedacht hätte werden können ein gemeinsames Band zwischen den Kulturen als Leitfaden einer Politik des Friedens, sofern alle Kulturen Schmerz und Leid eine ähnliche Bedeutung bemessen würden. Jeder Einzelne hat Anrecht auf Gehör, auf Schutz seiner Rechte, auf Unantastbarkeit und auf Wahrung seiner Unversehrtheit. Das macht der ›Finger von Butscha‹ auf tragische Weise sichtbar. Er zeigt, dass am Ende einer Kette mit negativem Cruor-Index Unmenschlichkeit und Un-Frieden liegt.

 

Literaturverzeichnis

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[1] Die Beschreibungen solcher Ereignisse von Kriegsüberlebenden des 2. Weltkrieges waren Hintergrund meiner Habilitation 1996–2002.