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Nr. 2 / 2022
Durch einen Türrahmen blickt aus einem zertümmerten Wohnbereich auf Straße mit einem Baum in der Mitte
Friedensphilosophie

Frieden als die innere Ordnung der Weltgesellschaft

Es ist wieder Krieg in Europa – und es hat den Anschein, wie schon so oft in der Geschichte, dass alle am Krieg mittelbar oder unmittelbar Beteiligten in der militärischen Gewalt das einzige Mittel zur Erlangung ihrer Ziele sehen. Auf der einen Seite gibt es einen klaren Völkerrechtsbruch und den Versuch durch eine brutale Aggression das eigene Territorium zu erweitern, auf der anderen Seite steht ein sich verteidigendes Land, das militärisch und moralisch durch eine Phalanx von Staaten unterstützt wird. Hüben wie drüben hält man die eigene Gewalt für eine zutiefst gerechte Gewalt. Bemerkenswert ist hierbei, dass sowohl Aggressor wie Verteidiger eine Renaissance des ›bellum justum‹ pflegen. Auf die Paradoxie einer solchen Reklamation der gerechten Gewalt auf beiden Seiten des Konflikts hatte schon Gentile mit der Losung ›bellum justum ex utraque parte‹ hingewiesen (Rief 1981: 15 ff.). Die Theorie des modernen Völkerrechts seit Hugo Grotius hat daher versucht die Kategorie der Gerechtigkeit aus der zwischenstaatlichen Kriegsführung zu streichen. Denn die jeweils konkrete Gerechtigkeit ist kein universelles, transnationales Phänomen, vielmehr ist sie eine kulturelle und nationale Kategorie. Es mag uns verwundern, wenn gewisse Gruppen der russischen Eliten bestimmte Teile der Ostukraine als russischen Boden betrachten und wenn diese sich von einer in den vergangenen Jahren expandierenden NATO bedroht fühlen. Während es auf der anderen Seite ein vermutlich massives Unverständnis dafür gibt, dass die Ukrainer/innen für die territoriale Integrität ihres Landes zu sterben bereit sind und dass viele westliche Staaten ihre wirtschaftliche Prosperität – und vielleicht sogar noch mehr – für die Unterstützung der Ukraine zu opfern bereit sind.

Sowohl für Angreifer als auch Angegriffene steht die Rechtfertigung der ausgeübten militärischen Gewalt als gerechte Gewalt im Vordergrund. Zweifelsfrei neigen wir dazu, die Gewalt des der Aggression ausgesetzten Staates als kollektive Notwehr für die weitaus berechtigtere Gewalt zu betrachten. Jedoch fällt auf, dass die Einsicht, dass der Frieden keine Konsequenz der Gerechtigkeit ist, offenbar in Vergessenheit geraten ist. Es wird von beiden Seiten auf die mangelnde Bereitschaft zu Verhandlungen auf der jeweils anderen Seite und den damit einhergehenden Vertrauensverlust verwiesen. Nur lehrt die Geschichte der so zahlreichen Kriege in Europa, dass der Einsatz von immer mehr Gewalt und immer zerstörerischen Waffen nur zu immer mehr Leid, noch mehr Toten und sich vergrößerndem Hass führen. Bemerkenswert und erschreckend zugleich ist, dass führende Politiker der Bundesrepublik Deutschland die im ›Kalten Krieg‹ mit viel Mühe und Einsatz erarbeiteten Friedensstrategien im diplomatischen wie institutionellen Bereich für nicht mehr zeitgemäß halten und stattdessen den Einsatz forcierter Gewaltmittel fordern.

Dabei steht außer Frage – und es ist in den Konfliktschlichtungskonzepten seit Mitte des letzten Jahrhunderts Konsens –, dass ein Verhandlungsprozess nicht mit dem großen Friedensentwurf beginnen kann. Vielmehr muss es zunächst um Verhandlungen über sogenannte technische Detailfragen gehen, wie es sie beispielsweise im Bereich des Gefangenenaustausches zwischen Russland und der Ukraine oder im Hinblick auf den geschützten Getreideausfuhrkorridor für die Ukraine schon gegeben hat. Auch wenn diese Vereinbarung scheitern können oder einseitig wieder zurückgenommen werden, so sind sie doch ein probates Mittel, um im Gespräch zu bleiben und erste Schritte zu vielleicht zunächst nur partiellen Waffenstillstandsvereinbaren zu unternehmen. Damit sind noch kein Frieden und keine Realisierung der Ansprüche der jeweiligen Konfliktpartei erreicht, aber so könnte der Beginn eines vermutlich sehr langen Friedensprozesses aussehen. Ein solcher Prozess wird nur durch Gespräche und Verhandlungen – möglichst durch die Moderation von nicht in den Konflikt involvierte Dritte – angestoßen werden können. Am Ende könnte dann ein beidseitiger Gewaltverzicht stehen, der gleichwohl noch keinen konsistenten und nachhaltigen Frieden bedeuten würde. Ein dauerhafter Frieden müsste nämlich qualitativ strukturiert und den eigentlichen Konflikt bereinigend gestaltet sein.

Jedoch hat es den Anschein als seien nicht nur im Vorfeld der russischen Aggression die notwendigen Bemühungen und die zuvor jahrzehntelang erfolgreich erprobte Etablierung von friedenserhaltenden und – stiftenden Institutionen, wie z. B. der OSZE, in Vergessenheit geraten. Denn auch im Verlaufe des eskalierenden Krieges scheint das Handwerkzeug der Konfliktschlichtung und der institutionellen Friedensstiftung verlegt worden zu sein. An ihre Stelle ist ein immer lauter werdender Ruf nach mehr Kriegsgerät und mehr Krieg getreten. Das Wissen um den Anfang eines Friedensprozesses, seinen vorsichtigen und klugen Beginn, scheint ebenso aus den Köpfen verschwunden zu sein, wie der nachdrückliche und beherzte Einsatz für ihn. Es hat dabei den Anschein, als seien viele der theoretischen Errungenschaften der Friedenswissenschaft der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kaum mehr bekannt oder der Rezeption für Wert befunden. Ausgehend von der der menschlichen Existenz und der dem gemeinsamen Fortleben intrinsisch innewohnenden Verantwortung für den Frieden gilt es aber genau dort wieder anzusetzen. Die Frage nach dem, was denn eigentlichen Frieden sei – und dies nicht bloß als pure Gewaltlosigkeit gedacht – und was er für die nachhaltige Entfaltung menschlicher und gesellschaftlicher Beziehungen bedeutet, muss in jeder Zeit und in jedem Raum dieser Erde erneut und wiederkehrend gestellt werden. Denn nur dann wird auch die Einsicht wachsen, dass zum Wesen des Friedens das fortwährende Bemühen um seine Entfaltung und seiner Aufrechterhaltung gehört.

Frieden ist mehr als die bloße Aussetzung der Gewalt

Setzt man einen himmlischen Frieden, als schlechthin gewaltlosen und erlösten Zustand der Menschheit als Maß eines vollkommenen Friedenszustandes voraus, dann ist jeder in der irdischen Wirklichkeit sich einstellende Frieden gemessen an diesem Anspruch der friedsamen Vollkommenheit ein nur bescheidener Anfang. Jeder irdische Frieden müsste – gemessen an dem himmlischen Frieden – als ein Unfrieden dargestellt werden. Gemessen an der rein negativen Bestimmung des Friedens als Abwesenheit von Krieg, wird umgekehrt jeder Zustand, der von keiner offenen Gewaltauseinandersetzung gekennzeichnet ist, zum Frieden erklärt. Weder in der absoluten Versöhnung noch in der bloßen Absenz von kriegerischer Gewalt kann mithin eine inhaltlich positive Bestimmung des Friedens gewonnen werden. Zur Abweisung dieser Extreme gesellt sich überdies die ebenfalls zeitgebundene Erkenntnis, dass Frieden nicht ein für allemal endgültig gewonnen werden kann, sondern immer wieder von neuem angestrebt und erarbeitet werden muss. Frieden, der sich als politischer und – wie noch hervorgehoben werden wird – als interpersonaler sowie sozialer Prozess vollzieht, nistet von Beginn an in pluralen und singulären Beziehungen. Erst im Ausgang einer Beziehung der vielen Ungleichen, die trotz Andersheit, Differenz und Heterogenität zu einem wirklichen Verhältnis miteinander finden, lässt sich von einem spätmodernen Friedenskonzept sprechen.

Frieden ist also mehr als bloße gewaltfreie Verhältnislosigkeit, vielmehr eröffnet sich gerade über die Qualität des Verhältnisses eine inhaltliche materielle Bestimmung von Frieden: »Frieden ist«, wie Max Müller schon vor über fünfzig Jahren schrieb, »keine bloße Koexistenz, nicht nur die Toleranz des Sein-Lassens und Raum-Gebens, sondern vielmehr ein ›Zusammen‹, das ein Zusammenwirken um eines Gemeinsamen willen voraussetzt, weil sonst die Zufälligkeit des Nebeneinanders doch in einem jeden Moment einen Zusammenstoß entfachen kann. In diesem ›Gemeinsamen‹ als einem gemeinsamen Verbindenden ›Umwillen‹, welches dem Frieden Grund, Boden und Richtung gibt, liegt das ›Normative Element‹.« (Müller 1995: 31). Dieses Zusammen und dieses Gemeinsame, sollen sie nicht bloß als communio oder religiös als Gemeinde verstanden werden, bedürfen einer genaueren Bestimmung und Beschreibung. Denn an welche Art Integration als Zusammen von Eigen- und Fremdkollektiv sowie Selbst und Anderem ist hier zunächst zu denken?

Eine erste Anknüpfung bietet das noch vorneuzeitliche, mittelalterliche Denken in den Überlegungen zu einer Friedensontologie des Augustinus. Nach Augustinus ist der Frieden die Voraussetzung und nicht Gegenstand der Lebensführung, d. h. jedes menschliche Leben setzt bereits ein gewisses Maß an geordnetem Zusammen und an Integration voraus, um überhaupt existieren zu können. Frieden im Sinne Augustinus ist folglich primär und konstitutiv. Er radikalisiert diesen Gedanken, wenn er schreibt: »Was ist, ist befriedet, sonst wäre es nicht.« Mag sein, dass diese Einsicht in solcher Allgemeinheit formuliert – und es wäre sicherlich noch einiges zur Differenzierung im Augustinischen Sinne hinzuzufügen – eine Schräglage bekommt. Aber als entscheidend soll an ihr markiert werden, dass entgegen den in der Nach-Hobbesianischen-Zeit eingeübten sozialen und politischen Diskursen einer Priorisierung des ursprünglichen Krieges, menschliche Formen der Kooperation immer schon Achtungsverhältnisse voraussetzen, die ein hohes Maß an Befriedung aufweisen.

Auch hat es den Anschein, als schwinge in der Friedensontologie des Augustinus nicht mehr oder noch nicht jener Zwang zur Einheit und zur Ganzheit mit, der in der Neuzeit als wesentliches Charakteristikum des Friedens gedacht wird. Die Einheit aller Teile einer sie umfassenden Ordnung scheint vermeintlich gewährleistet zu werden durch die Entdeckung bereits latent vorhandener Gemeinsamkeiten, wie das allen menschlichen Individuen gemeinsame Überlebensinteresse oder die allen Subjekten gemeinsame universelle Vernunft. Ein solcher, aus der Zusammenfügung und Identifizierung aller Einzelner erzeugbarer Einheitsfriede hat seinen epistemologischen Höhepunkt in der neuzeitlichen Dialektik einer Verschmelzung von anderem und selben. Nichts kann einer solchen Synthese der Gegensätze noch entkommen und gerade hieran wird die entscheidende methodische Vorkehrung für eine praktische Befriedung humaner und politischer Befriedung festgemacht. Hingegen werden Anderes und Fremdes, die nicht – zumindest in wesentlichen Teilen – der Einheit der Ordnung eingefügt werden können, als Störung und Hindernis des ordinalen Friedens betrachtet. Frieden wird als Angleichung und Absorption des Anderen nicht wirklich als Beziehung zwischen zwei absolut voneinander getrennten Singularitäten – oder auch Kulturen – entworfen. Vielmehr wird, ob interpersonal, sozial, kulturell und politisch, immer schon so getan, als gebe es auf tieferer oder höherer Ebene eine unhinterfragbare Identität und Einheit, deren Friedsamkeit dann in Frage gestellt ist, wenn eine unintegrierbare Andersheit auftaucht. Besonders deutlich wird dieses stets im neuzeitlichen Denken des Friedens vorausgesetzte Einheitlichkeit der Seienden in der Beschreibung und Darstellung kultureller und ethnischer Begegnungen und Beziehungen. Der ›Clash of Cultures‹ Samuel Huntingtons spricht laut von der gewissermaßen notwendigen Friedlosigkeit miteinander in Kontakt tretender Kulturen.

Eine wirkliche Wende in dieser Tradition des Friedensdenkens ließe sich erst erreichen, wenn Frieden als Beziehung mit Anderen beschrieben wird, der sich unvorhersehbar und unendlich meinem Vermögen entzieht. Oder mit den Worten von Emmanuel Levinas:

»Frieden als Beziehung mit dem Anderen in seiner logisch ununterscheidbaren Andersheit, in seiner Anderheit, die nicht auf die logische Identität einer letzten Differenz reduzierbar ist, die einer Gattung hinzugefügt wäre. Frieden als stetiges Wahrwerden für diese Andersheit und für diese Einzigkeit« (Levinas 2007: 143).

Nicht also die vorschnelle Vereinheitlichung und Rahmengebung für das Selbe und das Andere vermag ein friedensorientiertes Prozedere aufzuzeigen, sondern umgekehrt die Sensibilität für die Andersheit des Anderen stiftet die Voraussetzung einer friedsamen Beziehung zu ihm. Vor dem Hintergrund der erwähnten Tradition wird deutlich, welch großer Mut auch in den praktischen Vollzügen politischer und sozialer Beziehungen dazu gehört, Gemeinsamkeiten auf der Basis nicht reduzierbarer Unterschiede und nie aufhebbarer Singularitäten erreichen zu wollen. Frieden als Zusammen und Gemeinsames – sei es in interpersonalen und politischen Beziehungen – gilt es solchermaßen als Integration und Solidarität von Ungleichartigen zu entwerfen. Und aus der Perspektive des Selbst kann eine solche Bewegung der Befriedung nur vom Anderen aus anheben, sein Frieden hat Priorität vor dem meinen. Denn auch den politischen sozialen Konventionen gemäß bleibt eine Ahnung von einem gestörten Frieden, wenn es in unserem Teil der Welt weitgehend befriedete soziale und politische Verhältnisse gibt, in anderen Regionen der Welt aber nicht. Wir können nicht von einem echten Frieden sprechen, wenn an anderer Stelle und anderem Ort der Welt Menschen zur selben Zeit ihr Leben, ihre Familie, ihre Freund/innen oder ihr Hab und Gut verlieren.

Auch drängt sich mit Blick auf die Konstitution eines Gemeinsamen in der Beziehung zum ganz Anderen eine weitere Revision des modernen Friedensbegriffes auf. Denn wenn Frieden vorrangig als Beziehung zum Anderen und Fremden gedacht wird, dann gilt es einen rein zwischenstaatlichen, und das heißt politisch und rechtlich entworfenen Friedensbegriff wieder ein Stück weit in den sozialen und den interpersonalen Raum zurückzuholen. Ein Zusammen und Gemeinsames, das sich auf ein Verhältnis zwischen den Menschen in Staaten, Kollektiven, Kulturen und Ethnien gründet, geht bereits zurück auf das Geschehen interpersonaler Beziehungen und sozialer Begegnungen. Diese vollziehen sich nicht als den jeweils Anderen anerkennende Integration ›freier Willen‹, sondern als den Einzelnen und seinen Weltzugang erst konstituierendes Ereignis.

Um erneut mit Levinas zu sprechen, handelt es sich um das Ereignis der Nähe, das nicht mehr abgestreift werden kann, nachdem es geschehen ist. Und in genau dieser Nähe zwischen Selbst und Anderem vollzieht sich auch die jeder Willensentscheidung vorausgehende Übernahme einer Verantwortung, die ich weder zurückgeben, noch ihr vollständig gerecht werden kann – einer Verantwortung, die wir also immer schon für den Anderen übernommen haben. Vor dem Hintergrund der Überlegung, dass Frieden als konstitutive Bedingung einer gemeinsamen menschlichen Ordnung zu beschreiben ist, die als ursprüngliche Verantwortungsbeziehung anhebt, ergibt sich auch ein inhaltlich differenzierter Friedensbegriff. Denn aus der ursprünglichen Verantwortung und der Nähe ergibt sich die Notwendigkeit und das Verlangen nach sozialer und politischer Integration und Kooperation, die wesentliche Elemente und Charakteristika wie Gerechtigkeit, Freiheit, die Chance auf soziale und wirtschaftliche Entwicklung ebenso beinhaltet wie den gewaltfreien Austrag von Konflikten.

Friedensverantwortung entsteht in Gesellschaften

Über die aktuelle Situation der ›heißen‹ Kriege hinaus drängt sich angesichts der globalen Situation die Beschreibung einer Gewaltsamkeit auf, die Johann Galtung mit dem Begriff der »strukturellen Gewalt« benannt hat – wenngleich ich den Begriff hier in einem etwas anderen Sinne als Galtung verwenden möchte. Die spezifischen Formen der Gewaltsamkeit der globalen strukturellen Gewalt betreffen zunehmend nicht mehr nur die Menschen in den ›armen Staaten‹, sondern sind längst auch in den ›reichen Staaten‹ des Nordens und des Westens mit ihren Immigrierenden, Arbeits- und Obdachlosen sowie allgemein sozial Abgehängten und Zurückbleibenden angekommen. Je eindringlicher diese Entwicklung desto luzider ist aber auch, dass neben den weltweit neu entstandenen Formen von inter- und transnationaler Öffentlichkeit zugleich inter- und transnationale Zivilgesellschaften im Entstehen begriffen sind, die sich einerseits aus der erfahrenen Gemeinsamkeit von Unterdrückung oder ökologischen Zukunftsängsten und andererseits aus den Wohlstandsressourcen zunehmender interpersonaler und sozialer Kontakte einer sich formierenden globalen Gesellschaftswelt jenseits des Staates und der Staaten entwickelt – und dies trotz temporärer Renationalisierungen der zivilgesellschaftlichen Interessenslagen.

Als Gesellschaftswelt(en) möchte ich bezeichnen, was sich als Ereignis des Sozialen, als unkontrollierbares Geschehen der Begegnung von Selbst und Anderen, Eigenem und Fremden über die nationalen Grenzen hinweg als friedenskonstituierender Prozess vollzieht. Die interpersonalen und sozialen Beziehungen haben einen wesentlichen Einfluss auf das Werden und das Vergehen von Gesellschaftswelten, aber sie sind nicht alleiniger Antrieb oder alleiniges Hindernis. Bestimmte Formen von Dialog oder Diskurs, medial digitaler Öffentlichkeit, Geschwindigkeit der Ortswechsel und der Kommunikation sowie ein zunehmender ›appeal‹ anderer und fremder Kulturen eröffnen und konstituieren die Prozesse der globalen Gesellschaftswelten. Dass sich aus diesen Gesellschaftswelten, die ich als nicht steuerbare Prozesse und Ereignisse beschreibe, mit zunehmender Intensivierung eine – von diesen zu unterscheidende – Weltgesellschaft entwickelt, lässt sich anhand einer Reihe empirischer Daten erfassen.

Der Begriff der Weltgesellschaft wird schon seit Jahrzehnten gebraucht und doch hat sich sein Gehalt in entscheidender Weise verschoben und modifiziert. War die Weltgesellschaft in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine die Beziehung souveräner Staaten, also die Weltpolitik, bloß ergänzende Sphäre, gewinnt sie mit den letzten Jahrzehnten an Eigenständigkeit und Gewicht. Die vielschichtige Erosion der Nationalstaaten – und ihre gegenwärtige gewaltvolle Reklamation zeugt nur von ihrer eigentlichen Agonie –, aber auch die aus politischen Entscheidungen hervorgehenden transnationalen Organisationen haben zu einer anfänglichen Etablierung einer Weltgesellschaft geführt. Den diese realisierenden sozialen Prozess, der sich genuin als Geschehen von Ansprüchen und Verantwortungsverhältnissen jenseits und vor den politischen Ordnungen entfaltet, vollzieht sich in den Gesellschaftswelten – ›MeToo‹, ›Black-Live-Matters‹ und ›Fridays for Future‹ sind nur einige wenige transnationale Beispiele für sich formierende globale Gesellschaftswelten. Diese sind keine Räume berechenbarer Symmetrien und institutionalisierter Rechtszusammenhänge. Vielmehr gehen sie diesen voraus als ethische Dynamik und prozesshafte Normbildungen, die sich in einem interpersonalen, sozialen und diskursiven Verantwortungsprozess auch in einem globalen Kontext ergeben. Verantwortung auf dieser Ebene ist nicht delegierbar und übertragbar, sie entfaltet sich prospektiv und sprengt die räumliche wie zeitliche Einengung und Beschränkung. Diese Verantwortung lastet dem Einzelnen mehr auf als er tragen kann und verlangt von ihm mehr, als er geben kann. Die gelegentlichen staatlichen und administrativen Interventionen können diese Lasten nur geringfügig mindern.

Zugleich sind die in den globalen Gesellschaftswelten sich aufbauenden Verantwortungsbezüge auch der Vollzug eines sozialen und interpersonalen Friedens, der nach Gerechtigkeit und ihrer Instituierung im Politischen verlangt. Dort angelangt schmilzt die Verantwortung des einzelnen auf ein kalkulierbares und begrenzbares Maß zusammen. Die Verantwortung wird zurechenbar auf den Einzelnen bezogen und von diesem eingefordert. Aber mit dem Augenblick ihrer Instituierung im Recht und im Politischen erlöschen die Ereignisse der Gesellschaftswelt und hinterlassen Spuren in den Institutionen der Weltgesellschaft, die heute mehr und mehr zum Widerpart des Politischen und Ökonomischen wird (Zweifelfrei kann es hier auch Rückschritte geben, wie dies in den vergangenen Dekaden in den gesamteuropäischen Friedensinstitutionen, z. B. der OSZE, der Fall war.). Mit dem Einzug des gesellschaftsweltlichen Geschehens in die Weltgesellschaft wird auch der Frieden zu einem ihrer konstitutiven Bestandteile. Denn Frieden ist nach der anfänglichen Etablierung einer Weltgesellschaft nicht mehr vorrangig der Name für eine Beziehung zwischen den Staaten, sondern benennt die gesamten Verhältnisse im Innern einer globalen Gesellschaft. Oder mit den Worten Georg Pichts:

»Die These von der Unteilbarkeit des Friedens besagt also sehr viel mehr als nur die Feststellung, dass es unter den heutigen technischen und ökonomischen Bedingungen immer schwieriger wird, bewaffnete Konflikte zu begrenzen. Sie besagt darüber hinaus, dass sich ein Zustand, den man Frieden nennen könnte, nur noch als innere Ordnung einer Weltgesellschaft verstehen und angemessen beschreiben lässt« (Picht 1995: 184).

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine weist auf diese Konstellation und Problematik intensiv hin. Seit Beginn der Kämpfe steht die schwelende Gefahr einer europäischen und globalen Ausweitung im Raum.

Anders als zwischen den souveränen Staaten entfaltet sich diskontinuierlich aber zugleich dauerhaft in der Weltgesellschaft im Ausgang gesellschaftsweltlicher Prozesse eine Friedensverantwortung, die sowohl Individuen wie Gruppen, Organisationen und Institutionen betrifft. Auf der Ebene des Völkerrechts sprechen wir eher von einer Friedenspflicht, die auf der Grundlage einer rechtlich bindenden Vereinbarung das Verhältnis der unterzeichnenden Staaten regelt. Auch hier ist es erst im Verlaufe eines langen Prozesses zum zwingenden zwischenstaatlichen Gewaltverbot gekommen:

»Vom Recht der souveränen Staaten zum Krieg ist nichts mehr übriggeblieben. Die Staaten haben nicht mehr die Möglichkeit, Krieg oder Frieden zu wählen, sondern sind kraft allgemeinen Völkerrechts verpflichtet, den Frieden zu erhalten [… heute ist] auf der Grundlage der allgemeinen Friedenspflicht der Friede das oberste Ziel, dem selbstverständlich die Mittel angepasst werden müssen« (Kimmich 1995: 152).

 Trotz aller nachvollziehbaren Desillusionierung, die uns angesichts der gegenwärtigen Situation erfasst, scheint die Beschreibung der Normentwicklung im Völkerrecht durch Kimmich plausibel. Das sich hier aufdrängende Missverhältnis zwischen Völkerrechtsnormen und zwischenstaatlicher Realität besteht bereits seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, seit dem sogenannten 2. Golfkrieg bis hin zum kriegerischen Eingreifens Russlands in den Bürgerkrieg in Syrien. Das Recht auf Krieg, das sich einige Staaten nehmen und dass auch die USA sogar als Recht auf Präventivkriegsführung fordern, lässt die aus dem Völkerrecht hervorstrahlende Friedenspflicht der Staaten verblassen.

Und doch bleibt – auch diese Entwicklung ist trotz aller Rückschläge zu beobachten – eine aufmerksam agierende globale Gesellschaftswelt in den Ordnungen des Politischen virulent und fordert diese heraus. Entfacht und gestärkt wird dieser Stachel der Irritation durch ein längst nicht mehr in die Grenzen der einzelnen Staaten zurückzudrängendes soziales Ereignis, das neben einer weltweiten Forderung nach Frieden zugleich die nicht delegierbare Verantwortung für ihn unablässig neu hervorbringt.

 

Literaturverzeichnis

Kimmich, Otto (1995): »Das Völkerrecht und die friedliche Streitschlichtung«, in: Dieter Senghaas (hrsg.): Den Frieden denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 142–164.

Levinas, Emmanuel (2007): »Frieden und Nähe« (übers. von Pascal Delhom), in: ders., Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, hrsg. von Pascal Delhom und Alfred Hirsch, Zürich-Berlin: diaphanes, S. 137–149

Müller, Max (1995): »Der Frieden als philosophisches Problem«, in: Dieter Senghaas (hrsg.): Den Frieden denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 21–38.

Picht, Georg: »Was heißt Frieden?« in: Dieter Senghaas (hrsg.): Den Frieden denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 177–195.

Rief Josef (1981): »Die bellum-iustum-Theorie historisch«, in: Norbert Glatze, Ernst Josef Nagel (hrsg.): Frieden in Sicherheit. Zur Entwicklung der katholischen Friedensethik, Freiburg: Herder, S. 15–40.