Bild der Startseite
Nr. 2 / 2022
Nahaufnahme eines gräulichen Lamellenvorhanges
Buchempfehlung

Sonja Knobbe: Ökonomische Praktiken Zur theoretischen Fundierung eines alltäglichen Begriffs

»Wie kann das, was wir im Alltag unter einer wirtschaftlichen Handlung verstehen, begrifflich besser gefasst werden?« (33), so lautet die Ausgangsfrage von Sonja Knobbe in Ihrer Dissertation, die 2021 unter dem Titel »Ökonomische Praktiken. Zur theoretischen Fundierung eines alltäglichen Begriffs« im Nomos Verlag erschienen ist. Darin widmet sie sich einer ausführlichen, detaillierten und differenzierten Analyse vorhandener ökonomischer Begriffe und alltäglicher Handlungen. Den Rahmen bieten dafür zwei Denker als Repräsentanten verschiedener Denkströmungen: Lionel Robbins als Begründer der neoklassischen, orthodoxen Denkschule und Karl Polanyi als wichtiger Vordenker vieler heterodoxer ökonomischer Theorien und der Wirtschaftssoziologie. Aus beiden Referenzautoren arbeitet Knobbe die wesentlichen Faktoren der Theorien heraus und überprüft, ob diese als hinreichend für den Begriff der ökonomischen Handlung erachtet werden können. In einem dritten Schritt ergänzt und synthetisiert sie die herausgearbeiteten Faktoren mithilfe der praxistheoretischen Perspektive Rahel Jaeggis.

Grundlage für die Unterscheidung der zwei Denkströmungen bietet die an Polanyi angelehnte Unterscheidung zweier Alltagsverständnisse von ökonomischem Handeln. Der als formalökonomisch bezeichnete Rahmen beschreibe eine »bestimmte Form rationalen Handelns […], i.e. eine effiziente oder rationale Wahl unter Bedingungen der Knappheit, welche ›unabhängig vom Gegenstandsbereich‹ erfolgen kann« (29). Somit kann jede Handlung auf ihre Art und Weise ökonomisch oder nicht ökonomisch vollzogen werden, je nachdem, ob diese unter den Bedingungen der rationalen Wahl der Knappheit passiere oder nicht. Dieses Verständnis von ökonomisch finde sich vornehmlich in der stark formalisierten und in den aktuellen Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden Denkschule der Neoklassik. Der zweite Bereich der ökonomischen Handlung, der realökonomisches Handeln genannt wird, bezeichnet hingegen ein »Handeln im Zusammenhang mit der empirisch gefassten Wirtschaft“ (29). Als Beispiele hierfür nennt Knobbe Einkaufen oder Arbeiten. Synonym dafür verwendet Knobbe auch den Begriff der substantiellen Definition. Diesem Verständnis von ökonomisch sei hingegen Karl Polanyis Theorie zuzuordnen.

Dass beide Verständnisse jedoch Probleme mit sich bringen, zeigt Knobbe in ihrer eingehenden Analyse der beiden Denker. Wer sich tiefgehend mit der Neoklassik beschäftigt hat, wird hier an manchen Stellen bereits Bekanntes finden. Wer eine Einführung in die Annahmen, Methodik und Kritik der Neoklassik sucht, findet hier eine gut strukturierte, kritische und ausgiebige Aufarbeitung der Theorie. Dabei stellt Knobbe in Bezug auf das Handeln heraus, dass der formale Begriff für den Begriff der ökonomischen Handlung kritisch zu betrachten ist. Nicht nur könne eine ökonomische Handlung nicht unabhängig von der realökonomischen Sphäre betrachtet werden, der Theorie gelinge diese Trennung des Weiteren nicht hinreichend. Über die Annahme der Prognosekraft eines Modells werde weiterhin ein Bezug zu dieser Sphäre angenommen, auch wenn die Annahme als solches nicht unbedingt als realistisch betrachtet werden muss (83).

Weitere Grundlagen der Theorie fallen für Knobbe hier noch weiter durch das Raster, wie die subjektiven Präferenzen und die Wahlhandlungen unter Knappheit (170 f.). Der subjektive Präferenzbegriff, der unterschiedlich weit gefasst werden kann, stelle sich dabei entweder als unrealistisch heraus (wenn er eng als reines Eigeninteresse gefasst wird), oder als tautologisch, wenn dieser letztendlich alle menschlichen Handlungen umfasse (133). Im Zentrum ihrer Kritik steht jedoch der von Robbins angenommene methodische Individualismus, der den gesellschaftlichen und institutionellen Kontext von ökonomischen Handlungen zu sehr außer Acht lasse (169).

Diesen sozialen Kontext rücke Karl Polanyi weiter in den Fokus. Dieser kritisiere explizit den formalen Ansatz, da dieser nichts mit der Wirklichkeit zu tun habe (174). Polanyi vertrete hingegen einen viel stärker materiellen Ansatz, der als ökonomisch nicht die Art und Weise der Handlung (rational), sondern bestimmte Sphären im gesellschaftlichen Leben versteht (z.B. die Produktion). (176 f.). Dabei hebe dieser vor allem stark die Einbettung dieser ökonomischen Sphäre in andere gesellschaftliche Bereiche hervor (181). Polanyi stelle die Bedürfnisbefriedigung der Menschen weniger offen als im subjektiven Präferenzmodell der Neoklassik dar, sondern vor allem als materielle Befriedigung, die über Institutionen stattfinde und vermittle zwischen Individuum und Gesellschaft (198). Wirtschaftliche Handlungen finden also nach Polanyi vor allem dort statt, wo sich mit dem Lebensunterhalt beschäftigt wird (203).

Zwar bleibe Polanyi an einigen Stellen nicht konsequent und fülle die verschiedenen Begrifflichkeiten nicht mit genügend inhaltlicher Spezifikation, zum Beispiel wenn er die kapitalistische Wirtschaftsweise allen anderen Wirtschaftsweisen gegenüberstelle (230), weil er »die in seinen Worten ›archaischen‹ Ökonomien primär deskriptiv (und insofern unkritisch) analysiert, während in seinen Ausführungen zum Kapitalismus die normative Kritik an dessen Entbettungstendenzen im Vordergrund steht« (230). Dabei meint Entbettung das Gegenteil von Einbettung, also das Herausnehmen wirtschaftlicher Prozesse aus anderen gesellschaftlichen Sphären. Auch die anthropologische Annahme der prinzipiellen Selbstgenügsamkeit des Menschen kritisiert Knobbe bei Polanyi – so seien sowohl die Nicht-Sättigungsannahme der Neoklassik als auch die Selbstgenügsamkeit »nicht haltbare, weil essentialistische Annahmen« (233). Dennoch sei Polanyis Ansatz »im Hinblick auf ökonomische Praktiken sehr viel aufschlussreicher als Robbins‘« (272). Zwar finde sich bei beiden Autoren der Begriff der Zweckrationalität als ausschlaggebend für ökonomisches Handeln, um den Bereich des Ökonomischen klar abzugrenzen und ökonomische Handlungen besser zu verstehen. Bei Robbins finde aber eine Reduktion ausschließlich auf dieses Element statt. Obwohl dieses Element ein grundlegendes für ökonomisches Handelns sei, sei es von Bedeutung, dieses weiter zu ergänzen.

Nachdem Knobbe die Theorien der beiden Autoren hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für ihr Vorhaben, den Begriff der ökonomischen Handlung besser zu fassen, untersucht hat, stellt sie heraus, welche Kriterien, trotz aller Kritik von den Autoren übernommen werden können: der Begriff der Zweckrationalität und des institutionalisierten Tauschs. Der Tausch allein sei jedoch nicht ausreichend für ökonomisches Handeln, da beispielsweise die Abgrenzung zu Geschenken und Gaben schwierig sei. Sie ergänzt den Begriff deshalb um den Begriff der Austauschbarkeit (173). Wenn also ein Kuchen gemeinsam mit Freunden gebacken wird und diese Aktion nicht durch das Kaufen eines Kuchens ersetzt werden könnte, weil es sich um die Aktivität selbst handelt (diese also nicht austauschbar sei) und nicht das Mittel zum Essen eines Kuchens, dann handle es sich nicht um eine ökonomische Handlung.

Im letzten Schritt verbindet Knobbe diese Trias mit der praxistheoretischen Perspektive Rahel Jaeggis, indem diese es ermöglicht, sich sinnvoll über ökonomische Praktiken zu verständigen und auszumachen, wann eine Handlung ökonomisch ist und wann nicht (276). Dies gelinge dadurch, dass Praktiken nach Jaeggi durch Zwecke bestimmt werden (283), was auch auf ökonomische Handlungen zutreffe: »Ein und dieselbe Handlungsabfolge (z.B. Kuchenbacken) kann mehreren Praktiken zugerechnet werden (Arbeit, Freizeitgestaltung, Sicherung des Lebensunterhalts)« (284). Somit ist eine Praxis nicht »ausschließlich und immer der ökonomischen Sphäre zuzuordnen« (276). Wenn es um die Kritik der Ökonomisierung gehe, könne die Praxistheorie also helfen zu differenzieren, nicht zwischen ökonomischen Sphären als solches und nicht-ökonomischen zu unterscheiden, sondern zu fragen, wie viel Ökonomisches in den jeweiligen Bereichen zugelassen werden soll (z.B. schulische Bildung) (298). Trotz des formalökonomischen Anklangs, das Ökonomische einer Handlung herauszustellen und nicht Handlungen auf den ökonomischen Bereich zu fokussieren (284), stellt Kobbe hier heraus, dass der Begriff dennoch nicht deckungsgleich ist: Durch die Ergänzung der Zwecke durch Institutionen und der Austauschbarkeit als weitere Kriterien ökonomischer Handlungen und die Betonung des sozialen Kontextes, sei die Möglichkeit eines ökonomischen Imperialismus abzuweisen (297).

Sonja Knobbe führt die Lesenden souverän durch die verschiedenen Themenfelder des ökonomischen Diskurses und der Fragestellung. Dabei arbeitet sie einen ausführlichen Materialkorpus und unterschiedliche Denkschulen durch, wodurch das Buch sowohl originelle Gedankengänge offenbart und Denkanstöße gibt als auch einen einführenden Überblick schafft über den Bereich des Ökonomischen und des ökonomischen Handelns. Mit anschaulichen Beispielen angereichert untersucht sie, wie die vermeintlich klaren ökonomischen Handlungen verschwimmen und in soziale Kontexte, Institutionen und Kultur eingebettet sind. Ihr gelingt eine scharfsinnige Analyse eines verstrickten Felds. Für die Frage, wie ökonomische Handlungen besser gefasst werden können, gibt sie eine überzeugende Antwort, thematisiert aber auch weitere offene Fragen und Forschungsdesiderate.


Sonja Knobbe: Ökonomische Praktiken.
Zur theoretischen Fundierung eines alltäglichen Begriffs,
Nomos, Baden-Baden 2021