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Nr. 2 / 2022
Durch einen Türrahmen blickt aus einem zertümmerten Wohnbereich auf Straße mit einem Baum in der Mitte
Friedensphilosophie

Lieber Leser*innen,

»Der Krieg ist aller Dinge Vater«. Auf beunruhigende Weise scheint sich dieses düstere Diktum Heraklits bis heute zu bewahrheiten. Und spätestens mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist das trügerische Bild Europas als scheinbarer Bastion des Friedens zerbrochen. Der Krieg war niemals fort und zeigt sich nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte nicht nur in neuen asymmetrischen Formen als substaatliche Bedrohung, sondern als reales politisches Mittel autokratischer Regime. Muss damit aber eine Philosophie, die sich ihrer Gegenwart stellt, nicht notwendig eine Philosophie des Krieges sein? Und in der Tat fehlt es nicht an philosophischen Beiträgen, die diese Frage angesichts der ungebrochenen Herrschaft des Krieges dezidiert bejahen. Der Krieg als ein blindes Wüten, das Sieger*innen wie Besiegte, Opfer wie Täter*innen in einen Strudel der Gewalt reißt, bildet so konsequent die Matrix anhand derer wir das menschliche Geschehen erklären, entlang derer wir unsere fragmentierten Geschichten zusammensetzen müssen. So ist es nicht verwunderlich, wenn gegenwärtig in der Politischen und der Sozialphilosophie vorrangig Polemologien verschiedenster Couleur dominieren, in welchen Agonalität, Dissens und Konflikt zur Ontologie des Sozialen selbst erhoben werden.

Fristet dann eine wohlfeile Friedensphilosophie in den gegenwärtigen westlich-europäischen Debatten nicht zurecht ein Nischendasein? Ihre Entwicklung, so ließe sich nüchtern festhalten, sei in den späten 90er-Jahren steckengeblieben. Ihre Zuständigkeiten aufgerieben zwischen den Ansprüchen einer empirisch orientierten Friedens- und Konfliktforschung und den zunehmend weltfremd wirkenden Friedensappellen religiöser Institutionen. Dieses Heft fordert jedoch nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Omnipräsenz kriegerischer Verhältnisse das Projekt einer Friedensphilosophie nicht fallen zu lassen, denn mit Dolf Sternberger ließe sich sagen: »Der Anfang der Friedensphilosophie ist das Erschrecken«. Das Schweigen der Philosophie über den Frieden wäre damit nicht als Abschied einer vormodernen Naivität zu deuten, sondern als fatale Aufgabe denkerischer Potenziale. Es wäre die Flucht vor diesem Erschrecken.

Die hier versammelten Beiträge schreiben auf je eigene Weise gegen diese denkerische Flucht an. Sie versuchen eine differenzierte Antwort zu geben, die weder einer Eskalation der Aufrüstung als probates Mittel der Konfliktlösung das Wort redet noch einen kurzsichtigen Pazifismus für Andere predigt. Im Hintergrund steht dabei die bekannte Annahme, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Krieg, »aber doch nicht viel mehr«, wie Sternberger ergänzt. Und um dieses kleine mehr angemessen zu verstehen, braucht es eine Friedensphilosophie.

Der Beitrag von Christina Schües unternimmt den Versuch, Frieden angesichts der Pluralität von Kriegen nicht als einen theologischen und kosmologischen Frieden im Singularetantum zu denken. Wir müssen vielmehr »die Frieden« konsequent plural denken. Diese seien nicht mehr auf ein singuläres normatives Telos ausgerichtet, sondern bilden eine Vielzahl unterbrechender Anfänge und Wege. Die Aufgabe einer Friedensphilosophie sei dabei keine theoretische Vorbereitung eines zu realisierenden Friedens, sondern werde in ihrem Anfangen selbst zu einer Friedenspraxis.

Alfred Hirsch entwickelt einen prozessualen Friedensbegriff, der sich aus der Beziehung mit Anderen speist. Frieden stehe nicht für eine einheitsstiftende und umfassende Harmonisierung, sondern für eine differenzsensible Solidarität. Möglich sei dies erst, wenn Frieden aus einer ursprünglichen Beziehung der Verantwortung gedacht werde, die nicht am Ende stehe, sondern als Bedingung immer schon im Spiel sei. Einen entscheidenden Beitrag können dabei die aus Begegnungen entstandenen »Gesellschaftswelten« spielen, die quer zu nationalstaatlichen Interessen stünden und eine Welt-Innen-Perspektive einnähmen. Vorgelagert zu institutionellen Normen würden sie zum »Stachel der Irritationen« werden, der Verantwortungsbezüge herstelle und dessen politische Instituierung fordere.

Antje Kapust votiert für ein Verständnis von Frieden als Gerundivum, als etwas, das zu tun ist. Hierfür greift Sie auf systemtheoretische, diskurstheoretische und deontologische Diskurse zurück, kontrastiert diese allerdings mit einer bottom‑up Friedensphilosophie. Eine solche Friedensphilosophie wende sich gerade Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als konkreten Leiderfahrungen zu, von denen wir pathisch getroffen werden. In der Gegenüberstellung von sangus als lebendigem Blut und crour als gewalttätig vergossenem Blut eröffne sich dafür ein Gradmesser gesellschaftlicher Gewaltaffinität und damit ein negativer Friedens-Index.

Pascal Delhom untersucht in seinem Beitrag schließlich das Verhältnis von Frieden und Sicherheit in der modernen politischen Philosophie. Gegen eine Hobbesianische Sicherheitslogik der Abschreckung votiert Delhom für ein Konzept der Sicherheit durch Kooperation, die die innerstaatliche Gewalt nicht bloß verschiebe, sondern auf ihre Überwindung abziele. Eine Friedenspolitik der Sicherheit durch Kooperation, basiere nicht auf Werten, sondern auf Tugenden wie Vertrauen und Kompromissbereitschaft, die in institutionellen Praxen eingeübt und stetig erneuert werden müssen.

                 Jürgen Manemann                            Marvin Dreiwes