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Natürlich hängt die Antwort davon ab, was genau mit der Frage gemeint sein soll. Ich werde jetzt nicht die Artikel „Philosophie“, „Leben“ und „Schönheit“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie zusammenfassen, um jede mögliche Kombination von Auffassungen zu erwägen und schließlich diejenige auszuwählen, mit der sich am ehesten eine positive Antwort vertreten ließe.
Vielmehr möchte ich die Frage im Sinne der alltagssprachlichen Rede von „einem schönen Leben“ auffassen. Jemand sagt etwa auf dem Sterbebett, er habe „ein schönes Leben gehabt.“ Oder in einer Partnerschaft wirft einer dem anderen vor, „sich ein schönes Leben zu machen.“ Man denke auch an den Titel von Roberto Benignis Film Das Leben ist schön von 1997, der den Holocaust als Tragik-Komödie bearbeitet.
Was also meinen wir, wenn wir von „einem schönen Leben“ sprechen? Betrachten wir dafür den negativen Fall: Eine Person sagt auf dem Sterbebett, sie habe kein schönes Leben gehabt. Damit drückt sie nicht aus, dass sie ein wenig Dekoration vermisst habe, sondern einen fundamentalen Mangel. Etwa dass ihr Leben von Schicksalsschlägen oder Ungerechtigkeiten geprägt war. Die Unerbittlicheit der Umstände ist auch das Thema in Benignis Film: Die Tragik-Komik entsteht aus der Unmöglichkeit, ernsthaft von einem schönen Leben der KZ-Häftlinge zu sprechen.
Diesen alltäglichen Sinn von „ein schönes Leben haben“ möchte ich mit der Kategorie der Lebensqualität fassen, wie Amartya Sen und Martha Nussbaum sie in Abgrenzung zum Begriff des Lebensstandards verwenden: als Befähigung, die eigene Vorstellung des Lebens entwickeln und in verschiedenen Aspekten umsetzen zu können.
In diesem Sinne drückt die Äußerung „Ich hatte kein schönes Leben“ aus, dass es an Lebensqualität gemangelt habe. Die Äußerung „Ich hatte ein schönes Leben“ meint das Gegenteil. Wenn wir die Leitfrage in diesem Sinn verstehen, können wir weiterfragen, ob und inwiefern Philosophie zur Lebensqualität beitragen kann (vielleicht mit Aristoteles’ Ergon-Argument im Hinterkopf, demzufolge ein gutes Leben für ein Wesen darin besteht, seine natürlichen Anlagen entfalten zu können).
Auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene hat Philosophie von ihren Anfängen bis heute dazu beigetragen, besser zu verstehen, was es für Menschen heißt, ein schönes Leben zu haben oder nicht. Darin ist sie durchaus handlungsleitend und real wirksam geworden, etwa in Form des Human Development Index, in dem die UN jährlich global erhobene Daten zur Entwicklung von Lebenschancen zusammenfasst. Soweit die umfassendere Antwort.
Aber was bedeutet das aus unserer Perspektive als Einzelne? Natürlich trainiert Philosophie unsere theoretische und praktische Vernunft und befähigt uns zum Pendeln zwischen verschiedenen Auffassungen und Denkstilen. Allein die Freiheit im Wechsel der Perspektive auf ein schreckliches Widerfahrnis mag uns beizeiten retten. Zudem rückt Philosophie praktische Klugheit in den Blick, die wir nicht durch Lektüre oder Belehrung erwerben, sondern indem wir „das schöne Leben“ tatsächlich beginnen. Aber eine tiefe philosophische Einsicht geht viel weiter. Sie verbindet theoretische Erkenntnis, Weltverständnis, Selbstverständnis und einen neuen Sinn dessen, was es für uns heißen würde, ein schönes Leben zu haben – und macht uns dies überhaupt erst zugänglich. (nd)
contra
Wie sagt Wilhelm Schmid: „Schön ist das, wozu das Individuum Ja sagen kann.“ Ich stimme zu. Aber die Philosophie macht unser Leben nicht „schöner“. Denn das „schöne“ oder bejahenswerte Leben ist – mit Kant gesprochen – eine Frage der praktischen und nicht der theoretischen Vernunft. Ich könnte auch sagen: Nicht die Philosophie, unser aller „Lebenskönnerschaft“ (Achenbach), macht ein bejahenswertes oder schönes Leben möglich. Was unser Leben schöner macht, ist die gestärkte Lebenskönnerschaft.
Eben dies gilt auch für Philosophische Praxis. Sie ist Philosophie und ihre Philosophie macht das Leben nicht schöner. Vielmehr lädt Philosophische Praxis zu einer bewussteren Lebensführung ein, und zwar im Interesse der Lebenskönnerschaft ihrer Gäste, die ihnen ein bejahenswertes Leben möglich macht. Zu ihrer bewussteren Lebensführung zählt zweifellos die Wahrnehmung dessen, was ihr Leben nicht zu einem bejahenswerten oder zu keinem schönen Leben macht. Hier lernt Philosophische Praxis allemal von den brillanten „Minima Moralia“ Theodor W. Adornos. Die Philosophie der „Minima Moralia“ zeigt, was das gute Leben strukturell beschädigt und nicht, was das Leben zu einem guten Leben macht. Auch für Philosophische Praxis gilt – wie für Adorno –, dass „die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefasst, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt.“ (Adorno) Ich „übersetze“: Gerade das ganz und glasklare Erfassen von dem Gegenteil des Guten schlägt in die Erkenntnis um, was das Gute ist.
Dies hat Philosophische Praxis von Edmund Husserl gelernt: Das, was ist, gibt es nicht ohne das Bedenken dessen, was ist. Nur dem dialogischen Denken zeigt sich in Philosophischer Praxis, was ist. Dabei setzt sie auf das, was Husserl in seinen Ideen I „das Prinzip aller Prinzipien“ nennt, nämlich auf das Denken als Wahrnehmungsorgan. Ein*e Praktiker*in wird mit dem Gast, der in Not ist, nicht Husserl lesen. Aber die Husserl-Lektüre eines Praktikers, einer Praktikerin kann sein bzw. ihr sehfähiges Denken dafür sensibilisieren, was die Not des Gastes ist. Beispielsweise kann er/sie im Gespräch mit einem Gast die Wahrnehmung teilen, dass dessen „Seelenporen“ fest verschlossen sind. Es ist das Dialogische im Denken, was diese Wahrnehmung möglich macht. Wenn sie mit dem Gast geteilt wird, unterstützt dies seine Selbstaufklärung, und die neu gewonnene Klarheit kann ein „Seelenschlüssel“ sein, um sich wieder an die vorher beeinträchtigte Widerstandsfähigkeit und Wirklichkeitstauglichkeit anzuschließen. Kurz: Die Philosophie der Philosophischen Praxis macht das Leben nicht schöner. Sie stärkt aber das durch das Denken gerichtete Wollen und damit die Lebenskönnerschaft eines Gastes, welche ihm ein gutes Leben möglich macht.
Diese Frage steht momentan für meine Philosophische Praxis im Zentrum: Was kräftigt die Lebenskönnerschaft von Menschen im Zeitalter der Corona-Pandemie? Die Antwort lautet: Was sie kräftigt, ist das genaue Gegenteil von dem, was sie schwächt, und was sie schwächt, ist im kulturellen Westen der extreme Individualismus, reaktionäre Nationalismus und entfesselte Neoliberalismus. Im Zeitalter von Corona wird jetzt offensichtlich, was immer schon galt: Sie sind die Sackgassen, die in Zukunft keine Zukunft haben. Denn sie setzen auf das entpolitisierte und entsolidarisierte Ego, das den Herausforderungen nicht gewachsen ist, die mit der Corona-Pandemie vor uns stehen. „Freiheit von der Gesellschaft beraubt es der Kraft zur Freiheit.“ (Adorno) Was der Zukunft eine Zukunft gibt, ist das Subjekt, das getrennt von anderen untrennbar mit den anderen verbunden ist. Auf dieses Ich (nicht: Ego!) zielt Jürgen Habermas, wenn er in seinem jüngsten opus magnum „Auch eine Geschichte der Philosophie“ von der „kommunikativen Vergesellschaftung“ des Subjekts spricht. Diesem Subjekt ist auch Philosophische Praxis verpflichtet, wenn für sie der Citoyen oder der/die Bürger*in der Zivilgesellschaft das normative und regulative Prinzip in der Begleitung ihrer Gäste ist. Die Philosophie der Philosophischen Praxis ist „Aufklärung“ (Habermas). (tp)