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Nr. 2 / 2020
Endzeit

Apokalypse und Melancholie. Über das ethische Potential einer „traurigen Leidenschaft“

Apokalypse und Melancholie können auf den ersten Blick wie zwei Begriffe aussehen, die, wenn schon nicht völlig voneinander getrennt, doch zumindest gegensätzlich erscheinen. In Verbindung mit dem Begriff der ‚Apokalypse‘ wird sofort das Bild einer düsteren Zukunft evoziert, in der die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr existiert. Mit ‚Melancholie‘ assoziiert man dagegen die Idee einer individuellen Verfassung, die meist mit dem (pathologischen) Gefühl eines Verlusts zusammenfällt. Die Apokalypse ist immer auf die Zukunft projiziert, die Melancholie ist stattdessen immer mit der Vergangenheit verbunden. Diese allerersten Bemerkungen, die für die zeitgenössische Leserschaft fast schon selbstverständlich erscheinen können, müssen am Ende eines langen historischen Prozesses verortet werden, in dessen Verlauf diese beiden Begriffe eine Reihe radikaler Wandlungen erfahren haben, insbesondere nach dem Säkularisierungsprozess, der ihre Bedeutung entscheidend beeinflusst hat. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie ausgehend von einer Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung dieser zwei Termini über die Kombination von Apokalypse und Melancholie aus der Sicht einer „Minimalethik“ (vgl. Lucci 2019, 123 f.) nachgedacht werden kann, die mit den Herausforderungen Schritt halten kann, die uns die nahe Zukunft stellt.

 

1. Melancholie: Pathologie, Genie oder Klarheit?  

Das Wort „Melancholie“ bezeichnet im modernen Sprachgebrauch recht unterschiedliche Dinge. Es ist der Ausdruck für eine Geisteskrankheit, die durch Angstzustände, tiefe Depression und Lebensüberdruss gekennzeichnet ist – wenngleich freilich in neuerer Zeit ihr medizinischer Begriff eine weitgehende Zersetzung erfahren hat. Es ist ferner der Ausdruck für eine auch im physischen Habitus kenntlich werdende Charakterveranlagung, die zusammen mit der sanguinischen, cholerischen und phlegmatischen das System der „vier Temperamente“ (der alte Ausdruck ist: „vier Komplexionen“) bildet. Es ist schließlich der Ausdruck für einen vorübergehenden Seelenzustand, der bald quälend, deprimierend, bald aber auch nur sanft-träge oder nostalgisch sein kann. In diesem Fall ist es eine rein subjektive Stimmung, die dann auf die Welt der objektiven Dinge übertragen werden kann, so dass man sinnvoll von der „Melancholie des Abends“, der „Melancholie des Herbstes“ oder, wie Shakespeares Prinz Heinz, von der Melancholie von „Moorditch“, des nach einer Sumpfgegend benannten Londoner Stadtteils, sprechen kann. (Klibansky u.a. 1990, 37)

Das Zitat von Klibansky/Panofsky/Saxl bietet eine konzise Definition der verschiedenen Bedeutungen an, die der griechische Begriff ‚Melancholie‘ in seiner langen Entwicklungsgeschichte angenommen hat. Die zweite Bedeutung, die in der Textstelle erwähnt wird, ist die chronologisch ursprüngliche und verdient – wenn auch nur kurz – eine Erläuterung.

Die Lehre von den quattuor humores (Vier-Säfte-Lehre) ist im medizinischen Bereich in der griechischen Antike entstanden und wurde später unter pythagoreischen und empedokleischen Einflüssen (Klibansky u.a. 1990, 47) als eine äußerst artikulierte psycho-physische Theorie strukturiert. Nach dieser Theorie koexistieren im Menschen vier Flüssigkeiten/Säfte: die schwarze Galle (mέlαινα χolή, mελαγχολία), das Blut, das Phlegma (was wir heute ‚Schleim‘ nennen würden) und die gelbe (oder rote) Galle.

Diese medizinische Auffassung erfuhr zwischen der Zeit ihrer vollständigen Ausformulierung im medizinischen Bereich (um das fünfte Jahrhundert v. Chr.)[1] und dem zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr. eine beträchtliche Aufarbeitung, bis sie zu einer Theorie erhoben wurde, die nicht mehr nur den Körper aus einem physiologischen Standpunkt, sondern den ganzen Menschen miteinbezog, sowohl auf einer psycho-anthropologischen Ebene als auch in Bezug auf seine Stellung in der Welt.

In der Umwandlung der Theorie der humores in das, was später, vor allem im Mittelalter, als „Temperamentenlehre“ definiert worden ist, wurden jedem der oben genannten Körpersäfte unterschiedliche Realitäten zugeordnet, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Körpers: Dem Blut entsprachen das Herz als Organ, die Luft als Element, der Frühling als Jahreszeit und eine „warm-feuchte“ Eigenschaft. Der gelben Galle entsprachen die Leber, das Feuer, der Sommer und eine „warm-trockene“ Eigenschaft; dem Phlegma das Gehirn, das Wasser, der Winter sowie eine „kalt-feuchte“ Eigenschaft und schließlich der schwarzen Galle der Herbst, die Milz, die Erde und eine „kalt-trockene“ Eigenschaft. Der Mikrokosmos des menschlichen Körpers wurde also durch die Theorie der vier Körpersäfte mit den Jahreszeiten und den Elementen in Verbindung gebracht, d.h. mit der makrokosmischen Dimension der Außenwelt. Von der Balance dieser vier humores hing die Gesundheit der Person ab. Ebenso beeinflusste die Dominanz eines der Körpersäfte ihren Charakter[2]. Ernährung, geographische Verortung, aber auch Veränderungen kosmischer Natur (gerade wegen der Korrespondenz zwischen Makro- und Mikrokosmos) konnten das Verhältnis zwischen den humores beeinflussen und dadurch Krankheiten und Charakterveränderungen hervorrufen.

In diesem Kontext entwickelte sich der antike Diskurs über die Melancholie, die erstmal als eine physiologische Pathologie behandelt wurde (vgl. Flashar 1966, 24), um dann – schon ab dem dritten Buch der hippokratischen Epidemien – eine psychologische Konnotation zu erfahren:

Einen Schritt weiter führt Epid. III 17,2, wo erstmals ein gestörter Geisteszustand als ‚melancholisch‘ bezeichnet wird (p. 235, 4 ff. Kw.). Zunächst wird der Krankheitsverlauf einer Patientin mit den für die Epidemien typischen Beobachtungen über Fieberverlauf, Farbe und Konsistenz der Exkremente usw. beschrieben. Hervorgehoben werden dabei die galligen Substanzen (234, 10; 235, i Kw.) und die schwarze Farbe (234, 12; 235, 4 Kw.). Dann aber werden Beobachtungen über das seelische Verhalten der Patientin hinzugefügt. Sie war befallen von einem schläfrigen Gefühl, Appetitlosigkeit, Mutlosigkeit, Schlaflosigkeit, Erregungen und Depressionen. Am Schluß heißt es: ‚Der Gemütszustand ist melancholisch‘ (τα περί την γνώμην μελαγχολικά). (Flashar 1966, 35)

Trotz einer langen und komplexen Rezeptions- und Modifikationsgeschichte blieb die Vier-Säfte-Lehre über Jahrhunderte hinweg (zumindest bis ins neunzehnte Jahrhundert – vgl. Snowden 2019, 25-27) das Modell, nach dem nicht nur die Physiologie der Menschen, sondern auch ihre Psychologie interpretiert wurde: Bis in die jüngste Zeit ist die Melancholie Gegenstand psychologischer und psychiatrischer Untersuchungen gewesen – die sich mehr oder weniger explizit auf antike Theorien bezogen (vgl. z.B. Tellenbach 1983, 1-11) –, die sie als Pathologie mit endogenen Ursachen behandelten. In diesem Sinne war eine innovative Stimme diejenige Sigmund Freuds, der einerseits in seiner Studie Trauer und Melancholie (1917) auch die Unmöglichkeit sah, die Melancholie als ein einheitliches Phänomen (vgl. Freud 1975, 197) zu definieren, aber andererseits dazu neigte, eine gewisse Kontinuitätslinie zwischen ihr und dem Phänomen der Trauer zu ziehen: Sowohl bei der Trauer als auch bei der Melancholie stünde ein Verlust im Zentrum des psychischen Erlebnisses. Die Freudsche Ausgangshypothese war, dass, während im Falle der Trauer das verlorene Objekt (Person, Ding oder immaterielle Entität) für das Subjekt evident und bewusst ist, im Falle der Melancholie hingegen dieses Objekt nicht genauso evident sein kann, weil es mit dem Subjekt zusammenfällt: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst“ (Freud 1975, 200). Aufgrund einer komplexen Mischung von Projektionen und Ambivalenz-Gefühlen wird das Subjekt melancholisch, weil es sich selbst als sein eigenes verlorenes Objekt betrachtet: „Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, das verlassene Objekt, beurteilt werden könnte“ (Freud 1975, 203). Freud geht dann ausführlicher auf die Haltung des Melancholikers wie folgt ein:

Wenn er sich in gesteigerter Selbstkritik als kleinlichen, egoistischen, unaufrichtigen, unselbstständigen Menschen schildert, der nur immer bestrebt war, die Schwächen seines Wesens zu verbergen, so mag er sich unseres Wissens der Selbsterkenntnis ziemlich angenähert haben, und wir fragen uns nur, warum man erst krank werden muß, um solcher Wahrheit zugänglich zu sein. Denn es leidet keinen Zweifel, wer eine solche Selbsteinschätzung gefunden hat und sie vor anderen äußert – eine Schätzung, wie sie Prinz Hamlet für sich und alle anderen bereit hat –, der ist krank, ob er nun die Wahrheit sagt oder sich mehr oder weniger unrecht tut. (Freud 1975, 200)

In der zitierten Passage scheint noch die – von Aristoteles formulierte und sowohl in der Antike als auch im Mittelalter sehr erfolgreich vertretene – Meinung, wonach „[a]lle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler[,] offenbar Melancholiker gewesen [sind]“, ein spätes Echo zu finden (Arist. Prob.Phys. XXX.1, 10). Im Freudschen Text bleibt allerdings nur ein „säkularisierter Überrest“ der Genialität übrig, die Aristoteles dem Melancholiker zugeschrieben hat: Er besitze die außerordentliche Gabe, die Wahrheit über sich und andere zu erkennen und ihr gnadenlos Ausdruck zu verleihen.

Diese unerbittliche Klarheit sich selbst und anderen gegenüber – argumentiert weiterhin Freud – soll jedoch nicht als „normal“, selbst wenn sie der Wahrheit entspräche, sondern eher als pathologisches Symptom eingestuft werden. Auf diese Behauptung von Freud sei am Ende noch einmal eingegangen, um einen Interpretationsvorschlag zu bieten. Davor soll der zweite Begriff eingeführt werden, dem diese Untersuchung gewidmet ist, nämlich der von ‚Apokalypse‘.

 

2. Apokalypse: Zerstörung oder Revolution?

Vergleicht man die düsteren Bilder von Zerstörung, die das Wort ‚Apokalypse‘ in der zeitgenössischen Leserschaft hervorruft, mit einer Definition aus der Fachliteratur, wird eine gewisse Diskrepanz offensichtlich:

A genre of revelatory literature with a narrative framework, in which a revelation is mediated by an otherworldly being to a human recipient, disclosing a transcendent reality which is both temporal, insofar as it envisages eschatological salvation and spatial insofar as it involves another supernatural world. (Collins 1979, 9)

Der Grund für diese Diskrepanz liegt aller Wahrscheinlichkeit nach darin, dass Apokalypse heute weniger mit dem Konzept der ‚Offenbarung‘ verbunden wird – ein Begriff, der die ursprüngliche griechische Bedeutung des Wortes widerspiegeln würde (vgl. Chantraine 1999, 487f.) – als vielmehr mit einer Kombination von Offenbarung und Visionen vom Ende aller Dinge. Der entsprechende Fachbegriff für diese Vorstellung ist weniger ‚Apokalypse‘ als vielmehr ‚Eschatologie‘: die enge Verbindung zwischen den beiden Konzepten verdankt man erst dem biblischen Kontext[3]. Beide Konzepte sind so eng miteinander verzahnt, dass eine Trennung der beiden erhebliche konzeptuelle Probleme hervorrufen würde. Zieht man die Eschatologie von der Apokalypse ab, also ihrem Befreiungs- und Veränderungspotential, so erhält man sozusagen eine Apokalypse mit nihilistischen Zügen, wie Jacob Taubes in seiner Abendländischen Eschatologie aufzeigt:

Das apokalyptische Prinzip enthält in sich eine gestalt-zerstörende und eine gestaltende Macht vereinigt. Je nach Situation und Aufgabe tritt eine der beiden Komponenten hervor, keine aber darf fehlen. Fehlt das dämonisch zerstörende Element, so kann die erstarrte Ordnung, die jeweilige Positivität der Welt nicht überwunden werden. Wenn aber im zerstörenden Element nicht der „neue Bund“ durchscheint, so sinkt die Revolution unvermeidlich ins leere Nichts. (Taubes 1991, 10)

In der soeben zitierten Textpassage dreht sich das Argument um einen Begriff, der auf den ersten Blick in diesem Zusammenhang fehl am Platz erscheinen mag: ‚Revolution‘. Dieses Konzept kann auf zwei verschiedene Arten verstanden werden: mit einer „schwachen“ oder „starken“ Konnotation. Wenn ‚Revolution‘ in einem schwachen Sinn als Synonym für ‚totale Veränderung‘ verstanden wird, dann ist es nicht unmöglich, diese Veränderung in den Begriffen der von Taubes beschriebenen Apokalyptik zu denken. Wenn stattdessen in der Verwendung des Begriffs ‚Revolution‘ eine starke, d.h. politische Deutung implizit enthalten ist (wie sich vermuten lässt, da Taubes am Ende seines Buches die Apokalyptik mit der Philosophie von Karl Marx in Verbindung bringt), erscheint die Gleichstellung von Apokalypse und Revolution problematischer. Taubes stellt in seiner Marx-Interpretation schließlich die Koinzidenz von Revolution und Apokalypse her, wobei er sich insbesondere auf das Konzept des Kapitals konzentriert:

Wie die alten Apokalyptiker, glaubt Marx, daß man die Phasen der Endgeschichte „weder überspringen noch wegdekretieren“ kann, aber gleich den Apokalyptikern will Marx „die Geburtswehen abkürzen und mildern“. Dieser letzten Dinge Enthüllung, diese sozialökonomische Apokalypse ist „das Kapital“. Durch das Inventar der sozialökonomischen Analysen tönt das dumpfe Grollen einer unausbleiblichen Katastrophe. Von Kapitel zu Kapitel steigert sich die dramatische Spannung. (Taubes 1991, 186)

Das Subjekt der marxistischen Apokalyptik sei paradoxerweise weniger das Proletariat als das Kapital selbst: Aus seinem Wachstum erwachse jene Anhäufung von Ungerechtigkeit und Ausbeutung, die dank des revolutionären Umsturzes zu seinem eigenen Ende führen wird. Diese revolutionäre Handlung ist jedoch nicht das Ergebnis einer historisch-konkreten Bewegung des Proletariats. Wenn man der Interpretation von Taubes folgt, wird die Revolution, in ihrem Zusammenfallen mit der Apokalyptik, zu einer fast automatischen Konsequenz – das notwendige Ausbrechen der nicht mehr erträglichen innewohnenden Widersprüche des Kapitals – und nicht das Ergebnis des konkreten, politischen Tuns des Proletariats. Taubes’ Argument bringt einen reaktionären Aspekt des apokalyptischen Denkens zum Ausdruck: Wenn die Apokalypse kommt, d.h. notwendigerweise geschieht, dann besitzt der Mensch weder eine faktische Freiheit noch echten politischen Handlungsspielraum. Er kann nur die Leiden, die der zur Apokalypse führende Prozess mit sich bringt, „abkürzen und mildern“, er ist allerdings kaum fähig, den Pfad der Geschichte zu ändern oder zu lenken. In diesem Sinne wird die Apokalyptik zu einer politisch konservativen Theorie. Indem sie die totale Umwälzung des Bestehenden unausweichlich macht, entzieht sie dem menschlichen Subjekt die ethische und politische Verantwortung, die als ungerecht und unerträglich betrachtete Welt selbst zu verändern.

Als Pendant zum politisch-konservativen Umbruch der Apokalyptik lässt sich die Theorie, die dem apokalyptischen Diskurs in der politischen Theologie normalerweise entgegengesetzt ist, in eine andere Richtung interpretieren: die des Katechons. Mit diesem Konzept, das in den Debatten über die politische Theologie[4] in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sehr präsent war, bezieht man sich auf die folgende Passage aus dem zweiten Paulusbrief an die Thessalonicher[5], welche auf eine „aufhaltende Macht“ hinweist:

Lasst euch von niemandem verführen, in keinerlei Weise; denn zuvor muss der Abfall kommen und der Mensch des Frevels offenbart werden, der Sohn des Verderbens. Er ist der Widersacher, der sich erhebt über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, sodass er sich in den Tempel Gottes setzt und vorgibt, er sei Gott. Erinnert ihr euch nicht, dass ich euch dies sagte, als ich noch bei euch war? Und jetzt wisst ihr, was ihn noch aufhält, bis er offenbart wird zu seiner Zeit. Denn das Geheimnis des Frevels ist bereits wirksam; nur muss der, der es jetzt aufhält, erst hinweggetan werden; und dann wird der Frevler offenbart werden. Ihn wird der Herr Jesus töten mit dem Hauch seines Mundes und wird ihm ein Ende machen durch seine Erscheinung, wenn er kommt.(Thessalonicher 2; 2: 3-8. Kursiv des Verfassers)

Laut Carl Schmitt beschreibt diese Textpassage eine weltliche „Macht“ (d.h. eine Institution, eine Partei, einen Staat, eine besonders prominente Persönlichkeit usw.), die den Beginn der Apokalypse „aufhält“:

Der entscheidende geschichtsmächtige Begriff […] ist der des Aufhalters, des Katechon.[…] [D]ie geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des gegenwärtigen Äon aufzuhalten vermag, eine Kraft, qui tenet, gemäß den Worten des Apostels Paulus im 2. Thessalonicherbrief, Kapitel 2. (Schmitt 1974, 28)

Diese Macht hat jedoch ein paradoxes Statut: Wenn sie einerseits durch ihre aufhaltende Wirkung die apokalyptische Zerstörung verhindert, verhindert sie andererseits auch die anschließende Erlösung.

Diese aufhaltende Macht hat aber noch eine weitere Funktion: Sie hält den Raum offen, in dem menschliches Handeln möglich ist. Nur in der vorapokalyptischen Zeit – „die Zeit, die bleibt“ (vgl. Agamben 2008, 102-107) vor dem Ende der weltlichen Geschichte – ist das menschliche Handeln möglich: Wo, stattdessen, die beschleunigende Kraft der Apokalypse den Lauf der Ereignisse bestimmt, gibt es keinen Raum mehr für die Handlungsfreiheit, für die Widersprüche, für die Irrtümer, die das menschliche Tun kennzeichnen.

Die Tatsache, dass die Apokalypse unausweichlich ist, dass sie nicht als Ergebnis menschlichen Handelns verstanden werden kann, sondern vielmehr als ein Ereignis, bei dem die Menschen nur Zuschauende sind, wurde von Mark Fisher auf eine ebenso ikonische wie prägnante Weise auf den Punkt gebracht: „It is easier to imagine the end of the world than it is to imagine the end of capitalism“[6] (Fisher 2009, 2). In dem gleichnamigen ersten Kapitel seines Capitalism Realism veranschaulicht Fisher diese Auffassung anhand des Films von Alfonso Cuaróns The Children of the Men (2006): Die wichtigste Leistung des Kapitalismus sei, sich selbst als eine Lebensweise und Weltordnung dargestellt zu haben, zu der es keine Alternative gibt. Oder besser gesagt – wie die Verfilmungen des postapokalyptischen Genres zeigen –, zu der die einzige Alternative die Barbarei ist, die die gewalttätige und unmenschliche Welt danach – nach der Abschaffung der heutigen, kapitalistischen Produktionsverhältnisse – aufzeigt.

Das postapokalyptische Genre findet seine deutlichste Darstellungsform in der Apokalyptik, die mit der Weltvernichtung zusammenfällt und die jegliche welt-gestaltende Perspektive verneint: In einer Welt, in der die Apokalypse mit der reinen Zerstörung zusammenfällt, ohne dass eine Öffnung in Richtung einer (besseren oder anderen) Zukunft stattfindet, wird die Bewahrung des status quo die einzige sinnvolle Lösung und jeglicher ethischer Handlungsspielraum verschwindet.

 

3. Eine melancholische Ethik in der Zeit der Apokalypse?

In diesem Zusammenhang kann nicht überraschen, dass ein bedenkenswerter Versuch, Melancholie und Apokalypse zu verbinden, nicht den Philosophietreibenden zu verdanken ist, sondern einem Regisseur: Lars von Trier, der 2011 seinen Film Melancholia veröffentlichte. Das Werk ist in zwei Teile gegliedert, die gerade den beiden oben genannten Themen entsprechen: Im ersten Teil des Films lässt die Protagonistin Justine (gespielt von Kirsten Dunst) nach und nach ihren Hochzeitstag scheitern und nimmt dabei eine mal dezidiert nihilistische und zynische, mal offensichtlich depressive Haltung ein, die man zu Recht als „melancholisch“ bezeichnen könnte. In diesem ersten Teil der Erzählung wird das Zusammenfallen von Apokalypse und Melancholie auf einer subjektiven Ebene beschrieben: Justine sabotiert ihr eigenes Leben und verschließt sich in einem zutiefst depressiven Zustand. Im zweiten Teil nimmt der Film eine plötzliche Wendung und projiziert, was im ersten Teil eine individuelle Apokalypse war, auf den ganzen Planeten. „Melancholia“ ist diesmal nicht mehr der Name einer Pathologie, sondern der eines Planeten, dessen Umlaufbahn unerwartet die der Erde kreuzt. Die Annäherung des Planeten – und damit die drohende Apokalypse – prägt den gesamten zweiten Teil der Erzählung, der sich mehr auf Claire, Justines Schwester (gespielt von Charlotte Gainsbourg), konzentriert. Claire, die im ersten Teil des Films auf der Seite der „Normalität“ (großbürgerlich, heteronormativ, psychisch „gesund“) positioniert war, bricht verständlicherweise unter der erschütternden Bedrohung der Zerstörung ihres (und des menschlichen) Lebens zusammen, während ihre melancholische Schwester von der bevorstehenden Apokalypse nicht nur geweckt, sondern sogar wiederbelebt wird. Justine scheint die schreckliche Tatsache ihres bevorstehenden Todes und des Todes des ganzen Planeten nicht nur zu verstehen, sondern auch ohne besonderen Widerstand zu akzeptieren: Wenn man sich nun an Freuds Beobachtungen über den melancholischen Charakter erinnert, die am Anfang erwähnt wurden, ist es an dieser Stelle möglich, im Lichte der Erzählung von Lars von Trier eine andere Interpretation davon anzubieten.

Justine erlebt zum ersten Mal in ihrem Leben eine Apokalypse, die nicht nur ihre ganz individuelle Subjektivität betrifft, sondern die ganze Welt. Die melancholische Protagonistin ist gerade wegen ihrer ungewöhnlichen, fast unmenschlichen Klarheit im Umgang mit sich selbst die einzige, die nicht von Erschütterung oder Depression affiziert wird. Aus diesem Grund lehnt Justine jede Form von Eskapismus im Angesicht der Katastrophe ab: Sie begeht keinen Selbstmord wie ihr Schwager, aber sie akzeptiert auch nicht den Vorschlag ihrer Schwester, ihre Existenz mit einem kleinbürgerlichen Trost (ein gemeinsames Mahl und ein Glas Wein) zu beenden, und entscheidet sich auf diese Weise, den Gedanken an das schreckliche bevorstehende Ende nicht zu verdrängen. In diesem Sinne stellt sich Justine in den Handlungsraum dieser Welt: Obwohl sie – offensichtlich – nicht die kathechontische Möglichkeit hat, die drohende Apokalypse aufzuhalten, beschließt sie zu handeln, ohne ihrer luziden Vision der Ereignisse entgegenzuwirken. In der Zeitspanne unmittelbar vor der Katastrophe erschließt sich für das Subjekt ein ethischer Spielraum: Justine baut in der Schlussszene des Films, bevor der Planet und das Leben auf ihm vom Feuer, das durch den Zusammenprall mit Melancholia entsteht, hinweggefegt werden, zusammen mit ihrem Neffen Leo eine kleine „magische“ Holzhütte, in der sie Zuflucht zu finden vorgibt. In dieser offensichtlich vergeblichen Schlussgeste von Justine lässt sich ein Beispiel jener eingangs erwähnten „Minimalethik“ ablesen: eine konkrete, individuelle und kontingente Ethik – das Ergebnis einer Klarheit, die man zu Recht als „melancholisch“ bezeichnen könnte –, die auf der minimalen Annahme beruht, dass es in dieser Welt immer möglich ist, konkrete Aktionen zu unternehmen, um das Leiden anderer zu minimieren. Die Modi einer solchen Ethik können nicht im Voraus festgestellt werden, weil sie untrennbar mit den historisch-konkreten Bedingungen, in denen sich das handelnde Subjekt befindet, sowie mit seinem materiellen, sozialen und kulturellen Kontext verbunden ist.

Filme wie Melancholia, aber auch andere Medienprodukte (wie z.B. die Fernsehserie True Detective oder das Videospiel The Last of Us 2) werden aufgrund der Möglichkeit, sowohl fiktionale Ausnahmesituationen als auch mögliche ethische Antworten direkt darzustellen, in Zukunft immer mehr in der Lage sein, für die Philosophie Beispiele und Denkanstoße anbieten zu können. Die moralphilosophische Reflexion im Zeitalter des globalen Klimawandels, der Pandemien und – allgemeiner – des Anthropozäns könnte von den ethischen Gedankenexperimenten maßgeblich profitieren, die die neuen Medien auf unterschiedlichen Ebenen anbieten, wenn sie diese Medien mit der Ernsthaftigkeit betrachtet, die sie verdienen.

 

Literaturverzeichnis

Agamben, Giorgio: Il tempo che resta. Un commento alla Lettera ai Romani, Turin: Bollati Boringhieri 2008 [2000].

Aristoteles: Problemata Physica XXX.1 (10-35), in: Aristoteles Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. v. E. Grumach, fortgeführt v. H. Flashar, Darmstadt: Akademie 1962.

Böhme, Gernot/Böhme, Hartmuth: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München: Beck 2014 [1996].

Cacciari, Massimo: Il potere che frena, Mailand: Adelphi 2013.

Chantraine, Paul: Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des Mots, Paris: Klincksieck 1999.

Collins, John J.: „Towards the Morphology of a Genre“, Semeia 14 (1979), S. 1-19.

Fisher, Mark: Capitalism Realism. Is There No Alternative?, Winchester (UK)-Washington (USA): Zero Books 2009.

Flashar, Helmuth: Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin: De Gruyter 1966.

Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie (1917), in: Ders.: Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 194-212.

Himmelfarb, Martha: The Apocalypse. A Brief History, Chichester (UK): Wiley-Blackwell 2010.

Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übers. von C. Buschendorf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 [1964].

Lucci, Antonio: True Detective. Una filosofia del negativo, Genua: Il Melangolo 2019.

Manemann, Jürgen (Hg.): Jahrbuch Politische Theologie, 3 (1999).

Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin: Duncker & Humblot1974.

Snowden, Frank M.: Epidemics and Society. From the Black Death to the Present, New Haven-London: Yale University Press 2019, S. 25-27.

Taubes, Jacob: Carl Schmitt. Ein Apokalyptiker der Gegenrevolution, in: Ders.: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin: Merve 1987, S. 7-30.

Taubes, Jacob: Abendländische Eschatologie, München: Matthes & Seitz 1991.

Tellenbach, Hubertus: Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik, Berlin-Heidelberg: Springer 1983.

 

 

 



[1] Obwohl es unmöglich erscheinen mag, den exakten Moment oder das eine Werk zu bestimmen, in dem diese Theorie ihren Ursprung fand, ist es nach Klibansky, Panofsky und Saxl möglich, sie um 400 v. Chr. zu verorten. Das Nachschlagewerk wäre das pseudo-hippokratische Über die Natur des Menschen, das zunächst eine Verbindung zwischen der medizinischen Theorie der vier Säfte und der makrokosmisch-kosmologischen Dimension herstellt (vgl. Klibansky u.a. 1990, 45).

[2] Dies gilt insbesondere für den Übergang von der Vier-Säfte-Lehre zur ‚Temperamentenlehre‘, in der das Vorherrschen eines Körpersaftes über den anderen als Ursprung der Charakteranordnung eines Subjekts identifiziert wurde. Auch heute sind Ausdrücke wie ‚Sanguiniker‘, ‚Melancholiker‘, ‚Phlegmatiker‘ und ‚Choleriker‘ in der alltäglichen Sprache noch präsent, um auf bestimmte Charakterdispositionen hinzuweisen. (Vgl. G. Böhme/H. Böhme 2014, 164-169).

[3] Es ist richtig bemerkt worden, wie sehr das Konzept der Apokalypse im allgemeinen Verständnis von der biblischen Kombination von Apokalypse und Eschatologie beeinflusst wurde (vgl. Himmelfarb 2010, 1-5).

[4] Zum allgemeinen Repertoire des Katechon-Konzeptes siehe: Schmitt 1974, 28-32 und 55; Taubes 1987, 7-30 (hier vgl. 21f.); Cacciari 2013.

[5] Für einen umfassenden Überblick über den Begriff in der Politischen Theologie sieheManemann 1999 (insb. 108-123).

[6] Die Urheberschaft des Satzes wurde laut Fisher unterschiedlichen Autoren zugeschrieben – u.a. Fredric Jameson und Slavoj Žižek –, aber sicherlich hat er bei Fisher seine systematischste Behandlung erfahren.