Bild der Startseite
Nr. 2 / 2020
Endzeit

Endzeit! Für eine „aufgeklärte Apokalyptik“

Alle Aussagen über das Ende der Zeit sind Inszenierungen (vgl. Beck 1997, 29-36). Keine dieser Inszenierungen ist unschuldig. Alle sind zutiefst ambivalent. Deshalb ist immer kritisch zu fragen: Welche Bilder werden mit der jeweiligen Inszenierung in die Köpfe der Menschen hineingetragen (vgl. ebd., 31)? Wenn hier von Inszenierungen gesprochen wird, so ist damit nicht gesagt, dass diese generell keinerlei Realitätsgehalt besitzen. Es heißt allerdings, dass solche Inszenierungen, wie der Soziologe Ulrich Beck schon im Blick auf die Risiken herausgearbeitet hat, immer auch „das Spiegelbild unserer selbst, unserer kulturellen Wahrnehmungen“(ebd., 36) sind. Zu fragen ist also, wer spricht wie, warum, wo, wann und mit welcher Absicht von „Endzeit“?

 

Endzeit: der Eingang des Nichts in die Zeit

Von „Endzeit“ als „Ende der Zeit“ in einem absoluten Sinn, also als Weltuntergang, als Rückführung des Seins in das Nichts (vgl. Pieper 1980, 57), als „Vernichtsung“ (ebd., 58), kann philosophisch nicht sinnvoll gesprochen werden. Für eine solche Vorstellung von Endzeit bedürfte es eines Schöpfers, der die Macht hat, alles aus dem Nichts zu erschaffen und alles in das Nichts rückzuführen (vgl. ebd., 60). Anders verhält es sich, wenn „Endzeit“ für die Vernichtung von etwas steht, für „die Zerstörung von Formen, die Rückführung von Gestaltetem in den Zustand der Gestaltlosigkeit, die Verwandlung von Städten in Trümmerhaufen [die ja keineswegs ‚Nichts‘ sind]“ (ebd.). Zwar verfügt der Mensch nicht über die Macht der creatio ex nihilo, aber er besitzt auch eine potestas annihilationis, eine Macht zu einer reductio ad nihil (vgl. Anders 1988, 239), die mit einer Destruktionskraft (Hiroshima, Nagasaki) einhergeht, die durchaus als „Vernichtsung“ zu bezeichnen ist. Zudem gibt es eine von Menschen praktizierte Vernichtung, die einen absoluten Anspruch erhebt, auf die „Vernichtsung“ Anderer zielt. Der Auschwitz-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat von dieser Vernichtung Zeugnis abgelegt:

Weshalb haben die Deutschen das getan? Warum haben sie ihre Opfer ein zweites Mal getötet? Warum haben sie die Toten getötet? Warum haben sie die Toten verbrannt? [...] Ich will ihnen sa­gen, warum: so wie der Mörder entschlossen war, das jüdische Erin­nern auszuradieren, so kämpften seine Opfer, dieses Gedenken le­bendig zu erhalten. Erst hat der Feind die Juden getötet, dann ließ er sie in Rauch und Asche aufgehen. So wurde jeder Jude zweimal umgebracht. In jedem Vernichtungs­lager mußten Spezialtrupps von Gefangenen die Leichen ausgraben und sie dann verbrennen.

Heute versucht man die Opfer ein drittes Mal zu töten, in­dem man sie ihrer Vergangenheit beraubt. Und nichts könnte nieder­trächtiger, boshafter sein als das. Ich wiederhole, nichts ist in meinen Augen so häßlich wie der Versuch, die toten Opfer ihres Todes zu berauben. Daher meine tiefe Überzeugung: jeder, der sich nicht aktiv und ständig mit der Erinnerung beschäftigt und andere mahnt, ist ein Helfershelfer des Mordens. Umgekehrt; wer auch immer dem Ver­brechen widersteht, muß sich auf die Seite der Opfer stellen, muß ih­re Berichte verbreiten, ihre Berichte über Einsamkeit und Verzweif­lung, über Stille und Trotz. (Wiesel 1986, 42f.)

Massenvernichtungen kennen eine Statistik, aber kein Narrativ (vgl. Diner 1993, 126). Sie sind „Endzeit“, da sie eine Leere schaffen, durch die „das Nichts in die Zeit“ (Wyschogrod 1998, 14) tritt. Heute von Endzeit zu sprechen heißt, von Endzeit nach und mit der Erfahrung von Endzeit zu sprechen.

 

Erhitzungskatastrophe

Die Rede von „Endzeit“ bezieht sich heute zunächst auf das Ende einer Zivilisation, die in einem Machbarkeitswahn gründet, der einen exzessiven Extraktivismus gebiert, der das Leben vieler Menschen vernichtet und die Vernichtsung ganzer Arten nicht-menschlicher Lebewesen zur Folge hat. Diese Endzeit trägt Züge eines Infernos: Mehr als eine Milliarde Tiere sollen Anfang des Jahres in den Flammen Australiens umgekommen sein. Der Biologe Mike Lee von der Flinders University in Adelaide prognostizierte am 24. Januar 2020 in der „ZEIT“, „dass Australien ‚eines der größten Artensterben der Neuzeit‘ bevorsteht“. „Selbstverbrennung“ ist das Stichwort, mit dem der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber diese Endzeit beschreibt (vgl. Schellnhuber 2015, 3). Diese Rede von der „Endzeit“ steht nicht nur für eine Diagnose und Prognose, sondern auch für einen Appell, der darauf abzielt, die „Endzeit“ durch eine neue Zeit abzulösen. Voraussetzung dafür ist die Abschaffung des „Brachialkapitalismus“, […] „um den Exponentialwachstumskurs ins Verderben unserer Zivilisation, die Selbstverbrennung auf dem Altar mit der Inschrift ‚MEHR!' zu stoppen“ (ebd.,703f.).

Angesichts der Erhitzungskatastrophe breiten sich in unserer Gesellschaft Ängste vor dem Ende aus: eine Angst davor, dass das Ende der gegenwärtigen Zivilisation bevor­steht, und eine Angst davor, dass dieses Ende nicht der Anfang einer neuen Zeit, sondern der Anfang einer Endzeit sein könnte, die durch Vernichtungen und Vernichtsungen in Permanenz geprägt ist. Insbesondere die Aussicht auf diese Endzeit macht Angst. Auf solche Ängste kann mit einer abgeklärten Katechontik oder einer aufgeklärten Apokalyptik reagiert werden.

 

Katechontik

Bereits in den biblischen Traditionen war die Ansage der Endzeit mit dem Aufruf zur Konversion verbunden. „Endzeit“ ist Entscheidungszeit: Es ist fünf Minuten vor Zwölf – die Uhr tickt. Entscheidungszeit sprengt die Vorstellung von Zeit als leeres Kontinuum auf. Endzeit ist befristete Zeit.[1]

Die befristete Zeit, von der heute zu reden ist, enthält jedoch keine präzise Terminierung ihres Endes. Und weil die Befristung einer präzisen Terminierung mangelt, wird der Befristungscharakter immer wieder unterlaufen. Aus diesem Grund breiten sich Kräfte aus, die darauf abzielen, das Ende hinauszuschieben (vgl. Spaemann 1996, 565). Endzeit avanciert so zur Aufschubzeit, zur gewährten Zeit, zur Gnadenzeit oder „Galgenfrist“ (vgl. Schmitt 1950, 98). Diese Kräfte haben Volkswirtschaftler*innen, andere Expert*innen und Politiker*innen auf ihrer Seite, die darauf hinweisen, dass eine sofortige große Transformation der Gesellschaft nicht machbar sei. In dieser Zeit des Aufschubs nistet sich ein Zweckoptimismus ein: Eine hochtechnisierte Gesellschaft werde schon Technologien erfinden, die die Risiken durch Anpassungsstrategien kalkulierbar und steuerbar machen würden. Ein solches Versprechen gründet in einem Narrativ von Geschichte als Fortschrittsgeschichte. Dieses Narrativ kennt keine Katastrophen, sondern nur Risiken und Herausforderungen. Und so lautet die Antwort auf die Erhitzungskatastrophe: „Umweltfreundlichkeit“, „Umweltverträglichkeit“. Damit soll Zeit erkauft werden. Die Vertreter*innen dieses Paradigmas sind Aufhalter*innen, Katechont*innen.

Ein Blick in die traditionelle Lehre vom Katechon zeigt, dass dieser eine paradoxale Figur ist: Hatte Paulus noch im 1.Thessalonicherbrief formuliert:

Über die Zeiten und Fristen brauche ich euch, Schwestern und Brüder, nicht zu schreiben. Denn ihr wißt selbst genau: Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Wenn die Leute sagen: ‚Frieden, Sicherheit!‘[2], dann wird plötzlich das Verderben über sie kommen wie die Wehen über eine schwangere Frau. Da wird es kein Entrinnen geben! Ihr aber, Schwestern und Brüder, seid nicht im Dunkeln, so daß euch der Tag wie ein Dieb überraschen könnte. (1 Thess 5,1-5)

So lautet die Entschärfung im 2. Thessalonicherbrief, der wohl nicht von Paulus stammt und als die „Stiftungsurkunde des Katechon“ (Meuter 1994, 213, Anm. 7) bezeichnet werden kann:

Was aber nun das Kommen unseres Herrn Jesus Christus und unsere Vereinigung mit ihm angeht, so bitten wir euch, Schwestern und Brüder: Laßt euch nicht so schnell von der Besonnenheit abbringen und euch Angst einjagen, weder durch einen Prophetengeist noch durch ein angeblich von uns kommendes Wort oder einen Brief, als stehe der Tag des Herrn unmittelbar bevor. Keiner soll euch auf irgendeine Weise betrügen! (Der Tag des Herrn wird nicht kommen), bevor nicht der große Abfall gekommen ist und der Frevelmensch sich offenbart hat, der Sohn des Verderbers, der Feind, der sich gegen alles erhebt, was Gott und Gottesverehrung heißt, und der zuletzt sogar im Tempel Gottes Platz nimmt, indem er vorgibt, er sei Gott. Erinnert ihr euch denn nicht daran, daß ich euch dies gelehrt habe, als ich bei euch war? Und jetzt wißt ihr auch, was (das Kommen dieses Tages) jetzt noch aufhält, damit er sich erst zu seiner Zeit offenbaren kann. Denn das Geheimnis des Frevels ist schon jetzt wirksam, nur muß zuvor der, der es noch aufhält, beseitigt werden. Doch dann wird er hervortreten, der Frevler, und der Herr Jesus wird ihn durch den Hauch seines Mundes töten und durch sein Erscheinen vernichten, wenn er kommt. (2 Thess 2,1-8)

Der Katechon hält das Ende auf, rettet damit aber vor dem Chaos, zumindest für eine gewisse Zeit. Allerdings hält er mit dem Chaos auch das Kommen des Neuen, die Rettung auf. Das Bild zeigt: Im Blick auf die Erhitzungskatastrophe könnten gerade die Aufhalter*innen am Ende zu Beschleuniger*innen wider Willen avancieren, da sie große Transformationsprozesse verhindern oder aber hinauszögern und dadurch das Entstehen von Kipppunkten forcieren.

 

Abgeklärte Katechontik

Zu dieser zweckoptimistischen Katechontik gesellt sich gegenwärtig eine abgeklärte Katechontik. Sie ist abgeklärte Negativität. Sie vermag das Ende aufzuhalten, aber in dem Bewusstsein, es nicht abwenden zu können. Für diese Katechontik steht das Plädoyer einer heiteren Hoffnungslosigkeit des Philosophen Gregory Fuller – 1993 erstveröffentlicht und 2017 in aktualisierter Version neuaufgelegt. Diese Großerzählung beansprucht nichts Geringeres, als den kausalen Nexus des zukünftigen Gattungstodes offenzulegen. Den Gattungstod könne man nicht mehr verhindern, dazu wäre ein Super-Paradigmenwechsel notwendig – und zwar hier und jetzt, „(e)in Ding der Unmöglichkeit“ (Fuller 2017, 595-597). Fuller sieht das Desaster als Ergebnis einer evolutionären Entwicklung, die durch „das Überhandnehmen unseres Verstandes, unseres Großhirns“ (ebd., 739) eingetreten und als solche natürlichen Ursprungs sei. Fullers Plädoyer mündet schließlich in eine universale Absolution: „Sogleich dringt freilich ins Bewusstsein, wie überflüssig die Suche nach dem Schuldigen ist. Niemand trägt Schuld.“ In Anbetracht des Geschichtsverlaufs sei es unsere Aufgabe, „reformierend unterzugehen“ (ebd., 758-761).

Trost findet Fuller beim Philosophen Michel de Montaigne. Dieser habe uns gelehrt, dass Philosophieren sterben lernen heiße: „Beim Gattungstod verhält es sich nicht anders, nur dass der Lernprozess ein kollektiver ist. Wir haben die Verhältnisse zum Tanzen gebracht, und nun ist ausgetanzt. […] Wir haben gelebt und geliebt. Es naht die Stunde des Abschieds. Lernen wir – zu akzeptieren“ (ebd., 784-796). Und er fährt fort: „Ein leicht gebremstes Voranschreiten wird das Ende, wenn wir Glück haben, um ein bis zwei Jahrhunderte hinauszögern. Sich ökologisch zu verhalten heißt den Gattungstod verzögern“ (ebd., 807-809). Fullers abgeklärte Katechontik ist im Vergleich zur traditionellen Katechontik in zweifacher Weise kupiert: Nicht nur fehlt der Aspekt der Rettung. Es fehlt auch der Aspekt der Empörung über das endzeitliche Chaos. Fullers heitere Hoffnungslosigkeit ist eine philosophische „Lehre der Angstlosigkeit“ (Sternberger 1981, 50).

 

Apokalyptik

Die Gegenkraft zur Katechontik ist Apokalpytik.[3] Die frühjüdische Apokalyptik entstand angesichts der „radikalen Verfinsterung des Zukunftshorizontes“ (Müller 1991, 56), grob gesagt zwischen dem 2. Jh. vor und dem 1. Jh. n. Chr. Bekannt sind v.a. das Buch Daniel im Ersten und die Johannes-Apokalypse im Zweiten Testament (vgl. Müller 1991). Apokalyptik ist Ansage einer Endzeit, des Endes dieser Erde, und gleichzeitig Ankündigung einer neuen Zeit, eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Diese Ansage darf aber nicht dualistisch gedeutet werden. Der neue Himmel ist Teil der Geschichte, wird aber von der alten Erde verdeckt: „‚Erde‘ meint die Welt, so wie sie erscheint, die empirische Welt, die Welt, in der die Menschenmächte, die Ungerechten, die Gottlosen herrschen. ‚Himmel‘ dagegen bezeichnet die Tiefendimension der Welt, die der politischen Herrschaft der Gottlosen entzogen ist“ (Richard 1996, 46-47). Dem römischen Imperium wird das Ende angesagt, welches in kosmischen und mythischen Visionen ausgemalt wird. In der Ansage des Endes liegt Hoffnung für diejenigen, die durch das Imperium unterdrückt werden. Die Apokalyptik ist deshalb nicht „eine Form der Seelsorge an Geängstigten“ (Körtner 1988, 5). Eine solche Auslegung ist Ausdruck der Reduktion auf das subjektive Erleben und den apokalyptischen Deutungen völlig unangemessen, „deren theoretisch-objektivierende Anstrengungen zur Bewältigung konkreter geschichtlicher Situationen meistens offen zutage liegen“ (Müller 1991, 17).

Apokalyptiker*innen weigern sich, das Sinnlose mit Sinn zu belegen. Der Religionsphilosoph Jacob Taubes hat die apokalyptische Maxime prägnant auf den Punkt gebracht: „I have no spiritual investment in the world as it is. Aber ich verstehe, daß ein anderer in diese Welt investiert und in der Apokalypse, in welcher Form auch immer, die Gegnerschaft sieht und alles tut, um das unterjocht und unterdrückt zu halten“. (Taubes 1987, 72f.) Apokalyptiker*innen protestieren gegen den Wahn, dass die Geschichte Vernunft und Sinn, Fortschritt und Gerechtigkeit widerspiegelt. Die Apokalyptik ist nicht teleologisch ausgerichtet. Sie kennt keinen Fahrplan, und die Geschichte ist für sie keine Fortschrittsgeschichte (vgl. Ebach 1985). Es sei denn eine zum Schlechteren hin:

Der Kulminationspunkt der liberalen und pluralistischen Ideen fällt mit dem Moment zusammen, in dem die Menschheit die Verheerungen der industriellen Wirtschaft feststellt, sich nur noch zu ihrem Überleben aufraffen kann und zu gemein­samen Lösungen greifen muss, will sie nicht untergehen. […] die Welt [ist, J.M.] ein riesiges, vom Aussterben bedrohtes Museum geworden […]. Millionen Jahre menschlichen Treibens enden nicht in einer Forderung des Menschen nach dem Recht auf Gesundheit oder Bildung, sondern allein nach dem Recht auf Leben. Was für ein Fortschritt! (Bruckner 1991, 21f.)

Das Ende der Zeit, das die Apokalpytik ansagt, wird nicht als Erfüllung der Geschichte gedacht, sondern als Unterbrechung und Abbruch: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen, und das Meer ist nicht mehr“ (Offb 21,1). Diese Perspektive entstammt der Gefahr. Von ihr aus nehmen Apokalyptiker*innen den Lauf der Zeit wahr: Zeit ist für sie nicht abstrakt, Zeit ist für sie Ausdruck von Verhältnissen. Apokalyptik ist deshalb nicht nur Ansage eines katastrophischen Endes der Zeit, auch nicht nur Lehre von der Zeit als Frist, sondern zuerst Aufdeckung (vgl. Ebach 1985, 11). Das Wort apokalyptein bedeutet „enthüllen“, „aufdecken“. Die Ansage der Zukunft ist Aufdeckung der gegenwärtigen Unrechtsverhältnisse – ein Erbe der Prophetie (vgl. ebd., 19):

Von daher läßt sich der Doppelaspekt der Apokalypse beschreiben: Die apokalyptische Erwartung muß sich auf die Realisierung richten, soll sie nicht bloße Ideologie bleiben und zur falschen Vertröstung herhalten. Zugleich muß sie gegen jede vorgebliche Erfüllung streiten, d.h. die Nicht-Realisierung offenlegen, solange nicht eine neue Erde steht, auf der alle Tränen abgewischt sind. Gegen die Verdoppelung in zwei Welten und gegen die Behauptung der Herstellbarkeit der Identität der einen gleichzeitig zu streiten, bedeutet Zerrissenheit in Permanenz. (ebd., 57)

Apokalyptische Texte sind Dokumente, die nicht ohne Gewaltphantasien auskommen. Hier zeigt sich eine tiefe Verstrickung in die Gewaltgeschichte. In den Texten wird deshalb auch von Rache phantasiert, aber die Ausführung der Rache wird exterritorialisiert, der jenseitigen Instanz überlassen: „Die Rache ist mein“, spricht der Herr (vgl. ebd. 25f.).

Apokalyptik lässt in einer hoffnungslosen Situation einen Sinn aufblitzen, der diese radikal relativiert und so zum Handeln motiviert. Apokalyptik ist letztlich ein handlungsorientierter Aufstand gegen das Negative in der Welt. Sie hält die Welt für negativ genug, um revolutionäre Veränderung als legitim auszuweisen. Endzeit, apokalyptisch gedacht, ist Entscheidungszeit: Zeit wird hier als ein moralisches Problem aufgefasst, d.h., dass es nicht unendlich lange so weitergehen kann: „Man kann doch nicht diskutieren und diskutieren, endlos, irgendwann kommt doch, daß man handelt. [...] Und wer das leugnet, ist unmoralisch, versteht nämlich die menschliche Situation nicht, die endlich ist und, weil endlich, scheiden muß, d.h. entscheiden muß“ (Taubes 1987, 62). Apokalyptik steht für ein Empowerment zu einem humanen Handeln trotz der Erkenntnis des Endes der Zeit. Taubes betont, dass das apokalyptische Prinzip

in sich eine gestalt-zerstörende und eine gestaltende Macht [enthält, J.M.]. Je nach Situation und Aufgabe tritt eine der beiden Komponenten hervor, keine aber darf fehlen. Fehlt das dämonisch zerstörende Element, so kann die erstarrte Ordnung, die jeweilige Positivität der Welt nicht überwunden werden. Wenn aber im zerstörenden Element nicht der „neue Bund“ durchscheint, so sinkt die Revolution unvermeidlich ins leere Nichts. Sinkt das Telos der Revolution aber ab, so daß die Revolution nicht mehr Mittel, sondern zum einzig schaffenden Prinzip wird, dann wird die Lust des Zerstörens zur schaffenden Lust. Weist die Revolution nirgends über sich hinaus, so endet sie in einer formal-dynamischen Bewegung, die ins leere Nichts verläuft. Eine Revolution des Nihilismus strebt keinem Telos zu, sondern findet in der „Bewegung“ selbst ihr Ziel und nähert sich damit der Satanie. (Taubes 1991, 10)

 

„Aufgeklärte Apokalyptik“

Der Technikphilosoph Günther Anders warnte vor einer Apokalypse-Blindheit, die die Menschen zu Voyeuren ihres eigenen Untergangs werden lässt (vgl. Anders 1988, 267). Diese Blindheit offenbart sich gerade angesichts der Erhitzungskatastrophe. Dagegen braucht es eine „aufgeklärte Apokalyptik“[4]. Ohne den apokalyptischen Blick wird es nämlich nicht gelingen, die Katastrophen-Blindheit aufzubrechen. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass Apokalyptik nicht katastrophenverliebt ist, sondern katastrophensensibel. Und: Sie erteilt jeglicher Katastrophendidaktik eine strikte Absage, die davon ausgeht, dass Menschen, wenn sie schon nicht Lehren aus positiven Ereignissen der Geschichte zögen, wenigstens aus den Katastrophen lernen würden.

Die Apokalyptik anerkennt die Geschichte auch nicht als Weltgericht. Sie begehrt dagegen auf, dass das Blut der Menschen und nicht-menschlicher Lebewesen, die dem „Fortschritt“ geopfert werden, im Sinn des Werdens trocknet (vgl. Finkielkraut 1989, 45). Apokalyptisch die gegenwärtige Gesellschaft wahrnehmen heißt deshalb, gegen den Lärm eines illusorischen Glücks in der Kulturindustrie zu protestieren, der die Seufzer der bedrängten menschlichen und nicht-menschlichen Kreatur übertönt und die Bürger*innen zu anpassungsschlauen Nischenbewohner*innen degradiert.

Apokalypse ist „die Erinnerung an die früheren Geschlechter, die im Augenblick der größten Gefahr, ohne sie zu verdrängen oder zu verschleiern, in der Enthüllung der Logik der Herrschenden Mut und Hoffnung faßten“ (Ebach 1985, 11). Das verstehen Verteidiger*innen des gegenwärtigen Status quo sehr wohl, die den Warner*innen vor der Erhitzungskatstrophe vorwerfen, bloßes Weltuntergangsgerede zu verbreiten. So wollen sie der Apokalyptik den Stachel ziehen, um ihre Privilegien zu sichern. Deshalb ist gesellschaftskritisch zu fragen: Wer hat Angst vor der Ansage der Apokalypse?

Apokalyptisch die Welt wahrnehmen heißt, die Welt sinnlich wahrzunehmen. Aus diesem Grund ist Apokalyptik auch das Gegenteil von Weltflucht: „Fühlen heißt Involviertsein“ (Heller 1980, 19). Apokalyptik steht für Leidempfindlichkeit. So heißt es in der Johannes-Apokalypse: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.“ Diese tröstende Geste Gottes gilt aber nur denen, die Tränen in den Augen haben, „denen, die mitleiden und über die Unterdrückung und die Klage des Volkes weinen und mit ihm auf das Ende hoffen“ (Richard 1996, 236). Bereits 1986 warnte der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker davor, dass wir* angesichts der „Gefahr, die Existenzbasis der Pflanzen, Tiere und Menschen im Ablauf einiger Jahrzehnte zu zerstören“, die Tränen nicht rechtzeitig weinen. Und er fuhr fort:

Tränen sind eine Gnade. Sie sind der Beginn des Trostes, der zu uns kommt, wenn wir gewagt haben, dem Schrecken in die Augen zu schauen. Solange wir den Schrecken verdrängen, leben wir in dem Krampf, in dem unsere scheinbar verständigen und entschlossenen Handlungen das Urteil herbeiführen, das sie unserer Vorstellung nach hätten verhindern sollen. Die Träne gibt die falsche Hoffnung auf, wir seien Meister unseres Geschicks. Sie eröffnet den Weg zur wachen Hoffnung auf das, was nicht in unserer Macht steht. Und damit macht sie uns frei zum wirklichen Handeln. Wir sehen dann das erste Licht des neuen Tags. Die Zeit ist reif. (Weiz­säcker 186, 117)

Tränen zu weinen vermögen nur diejenigen, die durch das, was um sie herum passiert, berührt werden, und zwar derart berührt werden, dass sie verwandelt werden. Ohne Selbsttransformation, ohne Umkehr wird sich die Gesellschaft nicht verändern lassen. Darauf hat der Theologe Johann Baptist Metz hingewiesen: „Alle großen sozialen, ökonomischen und ökologischen Fragen können heute eigentlich nur noch durch Veränderungen bei und in uns selbst, in einer Art anthropologischer Revolution gelöst werden. Es geht heute, auch und gerade politisch, darum, daß wir ‚anders leben‘ lernen, damit andere überhaupt leben können.“ (Metz 1984, 85). Es gilt heute, diese Gelegenheit zur radikalen Selbst- und Gesellschaftsveränderung zu ergreifen. Sie zu verfehlen, wäre eine Katastrophe – auch das lehrt uns die Apokalypse.[5]

Der Philosoph Jacob Taubes hat den „Sitz im Leben“ des Apokalyptikers Daniel mit folgendem Witz erläutert:

1956, nach der Niederschlagung des Volksaufstandes kommt ein ungarischer Flüchtling nach Wien und sucht ein dauerndes Exil. Daß er in Österreich, das schon viele Flüchtlinge aufgenommen hat, nicht bleiben könne, ist ihm von den Behörden sofort nach dem Grenzübertritt gesagt worden. Nun nennen sie ihm Jugoslawien über die Bundesrepublik und die Schweiz bis zu Kanada und Australien alle möglichen Zufluchtsländer, die sie dem Flüchtling auf einem bereitstehenden Globus auch zeigen. Dieser dreht selbst an der Erdkugel und fragt nach einer kurzen Bedenkpause: „Haben Sie keinen anderen Globus?“ (Faber 1997, 332)

Die Apokalyptik bietet keine Problemlösungen. Sie ist ein Problemverschärfungsverfahren. Aber sie zeigt eine Richtung an, von der aus Geschichte wahrgenommen werden sollte. Das, was Geschichte genannt wird, ist nicht so, wie Geschichte sein sollte. Angesichts der Erhitzungskatastrophe kann politisches Handeln sich nicht mehr als „Kunst des Möglichen“ begreifen; es muss zur „Kunst des Unmöglichen“ (S. Žižek) avancieren. Ausgangspunkt einer solchen Politik ist nicht die U-topie, sondern die „Heterotopie“ (M. Foucault). Mit ihr wären Orte bezeichnet, die an eine spezifische Heterochronie gebunden sind. Heterotope stehen für ein „Zerspringen der Zeit“ (E. Lévinas). Sie sind Widerlager, in denen Neues überraschend aufscheint, nicht Orte, an denen getriebene Menschen versuchen, ihren Lebensschein zu retten – ein Rettungsversuch eines Lebens, dem es schon lange um nichts mehr geht. Apokalyptik erinnert daran, dass wir* „nicht dazu verurteilt [sind, J.M.], diese Welt zu akzeptieren, auch wenn wir dieser Erde nicht entkommen können“ (Zerilli 2005, 10). Die Erde ist globus, das, was uns umschließt (vgl. Marchart 2005, 166ff.). Mundus ist die Welt zwischen uns. Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung, denn die Welt als mundus verstanden, „schließt uns nicht ein wie der Globus, sondern entsteht zwischen uns, sobald wir zu handeln beginnen“ (ebd., 89).. Und so gilt: „Eine andere Welt ist möglich heißt nichts anderes als: […] Handeln ist möglich“ (ebd., 168).

An der Zeit ist eine „aufgeklärte Apokalyptik“.[6] Diese zielt mit ihren Vorhersagen darauf ab, revolutionäre Veränderungen möglich zu machen, sodass das Vorausgesagte eben nicht eintritt: „Das Vorausgesagte war folglich nicht bloß eine leere Möglichkeit, die nie Wirklichkeit wurde, sie hat vielmehr tatsächlich gewirkt und die Geschichte verändert. Die Zeit des Entwurfs ist etwas Reales und eröffnet den Raum der Geschichte“ (Schwager 2007, 36). Es kommt dabei nicht darauf an, „Katastrophen richtig vorauszusehen, sondern daran zu glauben“ (ebd., 34). Wegen der Konsequenzen für das Fortschrittsdenken, das uns so lieb und teuer geworden ist, trauen wir* uns aber nicht, das zu glauben, was wir* wissen (vgl. ebd.). Eine aufgeklärte Apokalyptik entwirft ein Bild der Zukunft, „das einerseits genügend katastrophenhaft ist, um abstoßend zu wirken, und anderseits als genügend glaubhaft erscheint, um Aktionen auszulösen, die seine Realisierung wahrscheinlich verhindern“ (ebd., 36). Aufgeklärte Apokalyptiker*innen sind in die Welt verstrickt und suchen nach einer anderen Geschichte in dieser Geschichte. Wenn heute der Slogan der weltweiten Klimagerechtigkeitsbewegung „Extinction Rebellion“ lautet: „Hope dies – Action begins“[7], dann ist damit das Motto der Apokalyptik auf den Punkt gebracht. Apokalyptik steht für eine Überlebensform[8], die sich im widerständigen Handeln gegen das, was landläufig „Realität“ genannt wird, einstellt.

 

Literatur

G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 71988.

U. Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt 1997.

P. Bruckner: Die demokratische Melancholie, Hamburg 1991.

D. Diner: „Gestaute Zeit: Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur“, in: ders.: Kreisläufe: Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin 1993, 123-139.

J. Ebach: „Apokalypse. Ursprung einer Stimmung“, in: Einwürfe 2/ 1985, 5-61.

R. Faber: „Das ist die Synagoge, in die ich nicht gehe.“ Über politisch-religiöse Witze, in: ders. (Hg.): Politische Religion – religiöse Politik, Würzburg 1997, 331-349.

A. Finkielkraut: Die vergebliche Erinnerung. Verbrechen gegen die Menschheit, Berlin 1989.

G. Fuller: Das Ende: Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe, Hamburg 22017.

A. Heller: Theorie der Gefühle, Hamburg 1980.

U.H.J. Körtner: Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988.

M. Leutzsch: „Prophetie und Politik im Urchristentum“, in: R. Faber (Hg.): Politische Religion – religiöse Politik, Würzburg 1997, 93-106.

O. Marchart: Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005.

J. B. Metz: Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, München/Mainz 41984.

G. Meuter: Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit, Berlin 1994.

K. Müller: Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, Stuttgart 1991.

J. Pieper: Über das Ende der Zeit. Eine geschichtsphilosophische Betrachtung, München 31980.

P. Richard: Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand, Luzern 1996.

H. J. Schellnhuber: Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, München 2015.

C. Schmitt: Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation. Vier Aufsätze, Köln/ Greven 1950.

R. Schwager: „Aufgeklärte Apokalyptik: Religion, Gewalt und Frieden im Zeitalter der Globalisierung“, in: W. Palaver/ A. Exenberger/ K. Stöckl (Hg.): Edition Weltordnung – Religion – Gewalt 1, Innsbruck 2007, 23-38.

R. Spaemann: „Aufhalter und Letztes Gefecht“, in: K. Stierle/R. Warning (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, Hermeneutik und Poetik Bd. XVI, München 1996, 564-577.

D. Sternberger: Über den Tod, Frankfurt 1981.

J. Taubes: Abendländische Eschatologie. Mit einem Anhang, München 1991.

J. Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987.

C. F. Weizsäcker: Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, München/ Wien 51986.

E. Wiesel: „Die Massenvernichtung als literarische Inspiration“, in: E. Kogon/ J. B. Metz: Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmords am jüdischen Volk, Freiburg 41986, 21-50.

E. Wyschogrod: An Ethics of Remembering: History, Heterology, and Nameless Others, Chicago 1998.

L. Zerilli: „Vorwort“, in: O. Marchart: Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005, 7-12.

 



[1] Wenn ich im Folgenden von Apokalyptik und von Zeit als Frist spreche, so beziehe ich mich im Wesentlichen auf Reflexionen von Johann Baptist Metz, Jürgen Ebach, Jacob Taubes und Walter Benjamin.

[2] Die Vertreter dieser Parole werden von Paulus als Falschpropheten kritisiert, vgl. Leutzsch 1997, 101.

[3] Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer überarbeiteten Version von den Textstellen aus: J. Manemann: Carl Schmitt und die Politische Theologie. Politischer Anti-Monotheismus, Münster 2002, 262-285; siehe auch: ders.: „Klimakatastrophe und Apokalypseblindheit. Ein philosophisch-theologischer Beitrag zur Klima- und Energiedebatte nach Fukushima“, in: F. Ekardt (Hg.): Klimagerechtigkeit, Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschung Bd. 2, Marburg 2012, 141-147; J. Manemann: „Zeit und Frist. Ein Plädoyer für die Not-Wendigkeit apokalyptischen Denkens“, in: G. Riedl/ M. Negele/ C. Mazenik (Hg.): Apokalyptik. Zeitgefühl mit Perspektive, Paderborn 2011, 61-82.

[4] Der Begriff stammt von Jean-Pierre Dupuy, den ich gefunden habe in Schwager 2007.

[5] Vgl. zu der damit einhergehenden Kairologie: J. Manemann, Kirche und Klimakrise. Ein theologisch-philosophischer Einspruch, abrufbar unter https://philosophie-indebate.de/3596/indepth-longread-kirche-und-klimakrise-ein-philosophisch-theologischer-einspruch/.

[6] Der folgende Abschnitt stammt aus: J. Manemann: Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014, 53f.

[7] Extinction Rebellion Hannover: „Hope dies – Action begins“. Stimmen einer neuen Bewegung, Bielefeld 2019.

[8] Ich entlehne den Begriff ohne seine posthistorischen Implikationen aus: A. Kojève, Überlebensformen, Berlin 2007.