Bild der Startseite
Nr. 2 / 2020
Philosophie am Kröpcke

Was gibt Halt in haltlosen Zeiten?

Philosophie am Kröpcke – Corona-Edition

Sokrates bleibt Zuhause

Philosophie – eine Wissenschaft im Elfenbeinturm? Weit gefehlt! Das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover macht es sich für jede neue Ausgabe des Journals zur Aufgabe, herauszufinden, was die Menschen auf der Straße von den philosophischen Fragen halten, die im Institut erforscht werden. Pünktlich vor Redaktionsschluss führen wir dementsprechend eine streng wissenschaftlich kontrollierte Studie durch: Wir schreiten zum Kröpcke, der Agora Hannovers, und stellen allen Passant*innen, die uns über den Weg laufen, dieselbe Frage – jedenfalls normalerweise. In Zeiten der Pandemie haben wir den Marktplatz kurzerhand virtualisiert und Menschen im digitalen Raum auf ein kurzes Gespräch angehalten. Auf den Spuren des Sokrates, aber bar jeder Ironie.

Welche Auswirkungen die Coronakrise noch in der Zukunft haben wird, ist nicht abzusehen. Was sich aber sehr früh abzeichnete, war die existentielle Dimension der Erschütterung des Alltags. Mit den gewohnten Abläufen waren auch die inneren Ordnungen ins Wanken geraten, und damit etwas, das erst sichtbar wird, wenn es fehlt oder gestört wird: der Halt. Woran halten sich Menschen, wenn sie den Boden unter den Füßen zu verlieren drohen? Also: Was gibt Halt in haltlosen Zeiten? Im Folgenden lesen Sie Auszüge aus den zwischen Basel, Essen und Hannover geführten Gesprächen.

 

weiter denken: Was gibt Ihnen Halt in haltlosen Zeiten?

Rebekka: Mir gibt meine Familie Halt, meine Freunde und vor allem Gewohnheiten und Rituale. Das sind häufig Dinge, die ich schon von meinen Eltern übernommen habe, aber auch welche, die ich mir selber angeeignet habe, zum Beispiel Sport machen, Lesen, Tagebuch schreiben, Gespräche, Essen kochen, so etwas. Ganz normale Dinge.

weiter denken: Ist es vielleicht gerade die Normalität, die den Halt gibt?

Rebekka: Ich denke, wir denken bei „haltlosen Zeiten“ jetzt alle erstmal an Corona, wo vieles außenrum ganz anders war und so viel Normalität weggebrochen ist. Diese ganzen außerhäusigen, die ganzen gesellschaftlichen Aktivitäten, und deswegen blieben halt die persönlichen Beziehungen und alltäglichen Gewohnheiten übrig. Die haben dann, glaube ich, den Halt gegeben. Wenn man die Frage jetzt allgemeiner versteht und nicht nur auf Corona bezieht, sondern z.B. auch auf Phasen des Abschieds und der Trauer, wie es bei mir im letzten Jahr der Fall war, dann haben mich vor allem alltägliche Gewohnheiten durch den Tag getragen: Frühstücken, Kinder wegbringen, Spazierengehen, Kaffeetrinken, das hat dem Tag Struktur gegeben. Man hatte immer etwas, was man als Nächstes macht. Ich glaube, sowas ist ganz wichtig, wenn ansonsten der große Halt, die großen Zusammenhänge wegbrechen.

 

Claudia: Was gibt mir Halt? ... Freunde, die Familie. Sei das jetzt bei einem Spaziergang oder auch einfach durch ein Telefonat. Dann Sachen, die ich auch sonst mache wie Lesen, Musik hören, mit jemandem zusammen ein gutes Essen haben. Aber auch der Glaube, muss ich sagen. ... Und da ich ja immer gearbeitet habe, habe ich mich aber auch nie so haltlos gefühlt, also ich hatte immer eine gewisse Struktur dadurch.

weiter denken: Und Beziehungen, der Glaube, das Lesen und Musikhören, geben die auch über die Arbeit hinaus noch einen zusätzlichen Halt?

Claudia: Ja, das, was mir auch sonst, in „normaleren“ Zeiten, wichtig ist, wird mir dann umso wichtiger.

 

Oskar: (Überlegt lange.) Konstanten in meinem Leben.

weiter denken: Was für Konstanten sind das?

Oskar: Meine Partnerin, meine Arbeit und meine Hobbies.

weiter denken: Aber sind diese Konstanten in haltlosen Zeiten brüchig geworden?

Oskar: Nein, eigentlich nicht. Ich hatte das Glück, dass die Arbeit nicht brüchig geworden ist. Das ist ja bei vielen Leuten anders gewesen. Auch mein musikalisches Hobby hat sich etwas verändert, aber ist teilweise sogar intensiver geworden.

weiter denken: Was Ihnen also sonst Halt gegeben hat, ist Ihnen jetzt noch bewusster geworden?

Oskar: Das ist jetzt sehr suggestiv. Aber ja, so würde ich das beschreiben.

 

Melek: „Haltlose Zeiten“ ist eigentlich schon für die Zeit vor Corona der richtige Begriff.

weiter denken: Woran denken Sie dabei?

Melek: Also, allein die Dinge, die mit dem Klima passieren, verändern alles. Und so alte Ideen, wie man sein Leben lebt, sind auch hinfällig. Tatsächlich ist Corona jetzt das letzte Ding, das einem dazu die Sicherheit im sozialen Nahfeld genommen hat. Aber eigentlich habe ich das Gefühl, dass auch alle anderen Sicherheiten verloren gegangen sind. Zumindest im Vergleich zu dem, was in meiner Kindheit an Werten und Normen galt, davon ist nichts mehr da. Also zum Beispiel hat man früher einfach Dinge gegessen. Mittlerweile esse ich keine Tierprodukte mehr, weil das völlig unmoralisch ist mit all dem, was da dranhängt. Früher war klar: Man geht zur Schule, die Lehrer wissen, was man lernen muss und was es zu lernen gibt, was wichtig ist für die Zukunft und womit man gerüstet ist. Das stimmt alles überhaupt nicht mehr. Es gibt keine Sicherheit oder keine wirkliche Wahrheit darüber, wie man lernt und was man richtigerweise lernen sollte. Alle Sicherheiten sind quasi übern Haufen geworfen. Jetzt habe ich die Frage begründet, aber nicht die Antwort gegeben. (Lacht.)

weiter denken: Und haben Sie eine parat?

Melek: Ich weiß es tatsächlich selber nicht. Aber ich glaube, es hilft, sich genau über diese Unsicherheiten mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, zu gucken, wie man mit der Unsicherheit und mit der Haltlosigkeit umgeht und was Werte oder die Stützen sein können, dass man trotzdem weiter macht.

weiter denken: Das klingt so, als wäre der Wunsch nach festem Halt und Sicherheit heutzutage illusionär. Weil man jetzt viel mehr über bestimmte Dinge nachdenken muss und wir sehen, dass die Welt zu komplex ist.

Melek: Ja, das stimmt. Also das, was früher den Halt gegeben hat, das hat real Halt gegeben. Nur die Basis, auf der das funktioniert hat, war eine Illusion. Wenn man sich dann der Realität stellt, fällt natürlich der Halt weg. Trotzdem ist es besser, sich der Realität zu stellen und mit der Freiheit umzugehen, als an dieser Illusion festzuhalten. Vielleicht ist es das, was uns alle so ein bisschen retten kann. Ein bisschen die Realität anzuerkennen und sich einzugestehen, es gibt keinen Halt. Wir müssen selber gucken, wie wir ohne Halt und Sicherheit klarkommen, um zivilisiert in die Zukunft zu gehen.

 

Jutta: Spontan fällt mir ein: Meine Lernerfahrung ist, dass Stabilität eigentlich Flexibilität bedeutet. Offenheit war bei mir immer ausreichend da, aber ich musste Beweglichkeit lernen, indem ich von Erwartungen Abstand nahm und die Dinge auf mich zukommen lasse, was kommt. Ganz wichtig ist: Ich habe in Corona-Zeiten überhaupt keine Panik gehabt. Ich habe von Anfang an in diesem ganzen Kontext mitgespielt. Wenn Masken angesagt waren, habe ich sie benutzt. Sie belasten mich nicht; ich verwende keine Energie darauf. Ich nehme es, wie es ist.

Was mir Orientierung, Halt gibt, ist der Blick in die Geschichte. In der ersten Woche wurde ich auf eine Ausstellung aufmerksam: Die schwarze Pest. Ich habe dann im Internet gegoogelt und verfolgt, wie man über die Jahrtausende mit Pandemien umgegangen ist. Als erstes traf mich, als es in Norditalien ausbrach, die Maßnahmen begannen. Ich fragte mich: Was geht hier ab? Wir sind in Europa! Dann sagte ein hochrangiger Mediziner: „In Norditalien sind die Päpste der Beatmung, und die bekommen es nicht hin. In Deutschland ist es vor allem Bundeskanzlerin Merkel, die alle zusammenhält.“ Deutschland hat die geringsten Todeszahlen, ich bin dafür sehr dankbar, dankbar für unsere Politiker, dankbar, wie gut es uns geht.

Zuhause war es mit 4 Kindern sehr herausfordernd (neben den 3 eigenen war auch noch die Freundin des Ältesten anwesend). Zum einen war es beeindruckend gut, wie es gelaufen ist (Mithilfe und Unterstützung der Kinder, gegenseitige Fürsorge und Unterstützung; wir haben sehr viel gespielt; Fernsehen spielte keine Rolle), deutlich bewusst wurde mir aber auch: ein fremdes Kind ist anstrengend!

Was mir definitiv Halt gibt, ist meine Arbeit. Homeoffice war nicht möglich, da die Konkurrenz um den Internetzugang in der Familie zu groß war; in meinem Büro konnte ich in dieser Zeit sehr gut arbeiten. Die ruhige Umgebung tat mir gut. Meine Arbeit hat ohnehin einen sehr hohen Stellenwert für mich. Mein Mitgefühl ist bei denen, die in Kurzarbeit sind oder ihre Arbeit verloren haben.