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Nr. 2 / 2020
Endzeit

„Denn was früher war, ist vergangen“. Die Unwiderstehlichkeit von Apokalypsen

Laut einer durch die Evangelische Nachrichtenagentur idea – ein evangelikal-fundamentalistisches Publikationsorgan – in Auftrag gegebenen Umfrage stellen sich 41 Prozent der Menschen anlässlich der Coronakrise häufiger als zuvor die Frage nach dem Sinn des Lebens (vgl. idea 2020). Trotz der ideologischen Funktion dieser Meldung verwundert ihr Inhalt kaum. Während der Klimawandel als zwar reale, aber im Bewusstsein vieler fast so weit in der Zukunft liegende Bedrohung erscheint wie das Verlöschen der Sonne, ist diese Pandemie eine jede*n einzelne*n bedrohende. Die Endzeitstimmung, die in Deutschland zwischen Mitte März und Ende April herrschte und deren Comeback nicht ausgeschlossen ist, ließ existenzielle Fragen aufkommen. Der Sinn des Lebens scheint erst dann eine relevante Größe zu werden, wenn eben dieses Leben sich als das darstellt, was es in Wahrheit immer schon war: befristet. Obwohl es nach wie vor wahrscheinlicher ist, an Todesursachen wie Alkoholismus, Suizid, Herz-Kreislauferkrankungen, Unfällen oder Krebs zu sterben, macht das Virus einen entscheidenden Bestandteil anthropologischer Konstitution sichtbar: Indem es (medial präsent) einen nicht unerheblichen und vor allem noch nicht abschließend einzuschätzenden Prozentsatz seiner Wirte tötet, bringt es Sterblichkeit, die Begrenztheit menschlichen Lebens zu Bewusstsein. Es stößt also einen Bewusstseinsprozess an – ein Sich-selbst-Beobachten, das in der Erkenntnis gipfelt, dass das eigene Ich begonnen hat und, das vor allem, enden wird: Selbsterkenntnis des Bewusstseins als begrenzte res cogitans.

Obwohl der Mensch, darin seinen tierischen Vorfahren gleichend, ein Wesen ist, dessen Handeln in der Welt sich damit beschreiben lässt, dass er vom Tag seiner Geburt bis zu seinem Tod Dinge tut, die ihm aus dem einen oder anderen Grund notwendig erscheinen, hebt er sich von seinen Verwandten doch dadurch ab, dass er (zumindest manchmal) ein Bewusstsein darüber entwickelt, dass er im Tun dieser Dinge ein Bedürfnis danach befriedigt, ihnen über den Augenblick hinaus Sinn zu verleihen. Diese Form des Bewusstseins, eines Bewusstseins, das sich selbst beobachtet (und sich in seinem Beobachten erneut beobachtet) (vgl. Husserl 2012, 41), nennt die phänomenologische Tradition ‚reflexiv‘. Natürlich erfüllt reflexives Bewusstsein viel grundständigere Aufgaben als Sinnstiftung; es ermöglicht kontinuierliche Erinnerungen, Bindungen, Entscheidungen jenseits des Reiz-Reaktionsschemas, Kommunikation, Intersubjektivität usw. So ließe sich sagen, es sei erst in letzter Instanz für Sinnstiftung, bzw. etwas abgeschwächt, für das Fragen nach dem Sinn, zuständig.

Diese letzte, höchste oder, je nach Blickwinkel, vielleicht auch nutzloseste Funktion, die Suche nach einer Wahrheit, die die phänomenologische Begrenztheit des Individuums weit übersteigt, d. h. es transzendiert, ist aber zugleich mit dem bereits beschriebenen, den Menschen als Gattung geradezu definierenden Bewusstsein über die eigene Sterblichkeit verbunden. Dies sagt auch die eingangs zitierte Studie. Das Bedürfnis nach Transzendenz entsteht, wenn der Blick sich für die letzten Dinge öffnet und das Ich erkennt, dass jedes Dasein unweigerlich auf das Nicht-Sein zusteuert.

Befristung ist eine zeitliche Größe, die, wie uns die Erkenntnisse der Physik des 20. Jahrhunderts gelehrt haben, nicht nur das Leben selbst betrifft, sondern schlechterdings alles Existierende. Nicht einmal das sich ausdehnende Universum kann Unendlichkeit für sich in Anspruch nehmen, auch wenn sich seine Existenz über einen unvorstellbar langen Zeitraum erstreckt. Alles beginnt und alles endet. Obwohl dies also ein Kriterium von Existenz überhaupt zu sein scheint, jedenfalls sofern wir (vorerst noch) nicht ins theologische Spektrum ausweichen wollen, ist es dem Menschen als – soweit wir wissen – einzigem Wesen, vorbehalten, sich mit dieser Befristung fragend auseinanderzusetzen.

Dazu gehört kulturhistorisch nicht nur, sich des eigenen Todes oder der Tode der anderen bewusst zu werden, sondern auch über dieses Bewusstsein hinaus verschiedene Arten von Ewigkeitsphantasien zu entwickeln. Diese sind häufig, aber nicht immer, religiöser oder spiritueller Natur. Sobald also das Wissen um die eigene Sterblichkeit aufkommt, beginnen umgehend metaphysische Überlegungen eine Rolle zu spielen. Anthropolog*innen sehen beispielsweise in den ersten, der Vermutung nach bewusst vorgenommenen, Bestattungen, die vor etwa 90.000 bis 120.000 Jahren stattfanden, die ältesten Zeugnisse von Jenseitsvorstellungen. Der Leichnam der*des geliebten Verstorbenen wird mit der Person, die der tote Körper einmal beinhaltet hat, in Verbindung gebracht. Er wird an einen sicheren Ort gelegt, wo er nicht von wilden Tieren gefressen werden kann oder ungeschützt der Witterung ausgeliefert ist. Grabbeigaben, aber auch beieinander bestattete Familienmitglieder und Freund*innen zeugen von einem Glauben an ein “Leben danach“.

Natürlich lässt sich über den Tod auch nachdenken, ohne an das Jenseits, das Eschaton, Wiedergeburt, sich erhaltende Energien oder Spuk zu glauben. Die in der zunehmend religiös indifferenten westlichen Welt des 21. Jahrhunderts vorherrschende Einstellung zur Sterblichkeit ist eine Geste des Abfindens, vielleicht des Hedonismus, mitunter der Ratlosigkeit und Trauer. Der Glaube an ein wie auch immer geartetes Jenseits schwindet zunehmend. Vor der Apokalyptik steht die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod, die bei vielen schon im Kindesalter beginnt. Als Kind übte ich mich immer wieder an einem Gedankenexperiment, um mir den Tod, vor dem ich mich entsetzlich ängstigte – nicht das Sterben –, begreiflich zu machen. Ich schloss die Augen und blickte in das Dunkel hinter meinen Lidern. Dann versuchte ich, mir vorzustellen, dass es keine Lider mehr gäbe, keine Augen, die blicken, kein Ich, das denkt, ja nicht einmal mehr das Dunkel. Ich tat das jeden Abend vor dem Einschlafen, um die Angst vor dem Unbekannten zu vertreiben. Ich wollte das Nichts erfahren. Gerade Kindern drängt sich die Sinnfrage schmerzhaft auf, wenn sie erleben, wie ihre Haustiere oder, schlimmer, die Großeltern für immer verschwinden. Vielleicht ist es aber auch ein Irrtum, dass wir den Tod durch das Verschwinden unserer Lieben kennenlernen; vielleicht weiß niemand besser als ein Kind, das fast noch am Abgrund des Nichts steht, aus dem es bei seiner Geburt gekommen ist, dass das Ich auftaucht und enden wird.

 

Begrenztheit und Endlichkeit sind aber nicht nur essenzielle Thematiken jeder Biographie, sie sind auch Untersuchungsgegenstand der Philosophie – obwohl: nicht so umfassend und umfangreich, wie es angesichts der existenziellen Dramatik dieses Problems zu erwarten wäre. Das cartesianische Cogito beispielsweise, res cogitans im Gegensatz zur res extensa, ist zwar „ein Ding, das denkt, d. h. zweifelt, bejaht, verneint, einiges wenige erkennt, vieles nicht weiß, will und nicht will, auch bildlich vorstellt und empfindet“ (Descartes, 1986, 99), aber seltsamerweise ist es nicht beginnend und endend. Das Ich-Bewusstsein kann im solipsistischen Strudel des Zweifels (vgl. Descartes 1986, 77) die Welt um sich, den eigenen Leib, ja sogar Gott verlieren, aber eben nicht sich selbst. Die Erste-Person-Perspektive ist zunächst endlos – und dient damit ganz nebenbei auch als Grundlage für einen angedeuteten Beweis der Unsterblichkeit der Seele (Descartes, Briefe, die Meditationen betreffend. In: Descartes 1986, 219).

Bei Kant findet sich unter dem Stichwort „Begrenzung“ vor allem ein umfassendes, beinahe rührendes Bewusstsein über die Begrenztheit seines Lieblingsuntersuchungsgegenstandes, der menschlichen Vernunft. Sie ist zugleich das Vermögen, das uns zu Transzendenz, d. h. dem Übersteigen des Selbst, im höchsten Sinne befähigt (vgl. u. a. Kant, AAV, § 32), aber auch „anmaßend“, indem sie ihre Grenzen verkennt (Kant, AA VIII, 255). So entwickelt Kant beispielsweise einen Theodizee-Begriff, der gerade nicht drauf fußt, das Wirken Gottes mit den Mitteln der Logik für vernünftig und damit für gut zu erklären, sondern im Bewusstsein der Endlichkeit der eigenen Vermögen das Gottvertrauen für eine „authentische Theodicee“ (Kant, AA VIII, 264) in Anschlag bringt. Die Pointe, dass gerade Kant, der große Apologet der Vernunft, selbige für derart beschränkt hält, setzt sich übrigens fort. Auch die Apologet*innen Kants stoßen bei der Auslegung seiner Schriften an die Grenzen ihres Vernunftvermögens, so beispielsweise Georg Christoph Lichtenberg, der notierte: „Es wäre möglich, daß manche Lehren der Kantischen Philosophie von Niemand gantz verstanden würden und jeder glaubte, der andere verstünde sie besser als er, und sich daher mit einer undeutlichen Einsicht begnügte oder gar mitunter glaubte es sey seine eigene Unfähigkeit, die ihn verhinderte so deutlich zu sehn als andere.“ (Lichtenberg, 1837, 41)

Über die Grenzen der akademischen Philosophie hinaus wurde Martin Heidegger mit seinem Begriff des „Seins zum Tode“ (Heidegger 2006, S. 234) vielfach zitiert. Heideggers Terminologie wurde in diesem Punkt (und in vielen anderen) populärwissenschaftlich allerdings – in unterschiedliche Richtungen – meist falsch ausgelegt. Ihm wurde entweder unterstellt, sich darauf zu kaprizieren, der Welt erstmals die Sterblichkeit des Menschen zu verkünden oder aber, dass seine gesamte Existenzialhermeneutik darauf fuße, in höchst pessimistischer Manier immer wieder an die Endlichkeit und Vergeblichkeit allen Strebens zu erinnern. So beispielsweise urteilte Martin Buber, als er schrieb: „Heidegger schnürt den Bereich, in dem der Mensch sich zu sich selbst verhält, von der Ganzheit des Lebens ab, weil er die zeitlich bedingte Situation des radikal vereinsamten Menschen verabsolutiert, weil er aus dem Alptraum einer mitternächtigen Stunde das Wesen des menschlichen Daseins bestimmen will.“ (Buber 1954, 103) Buber und andere irren hier. Heidegger versteht seine Philosophie als Korrektiv zum zwar unendlichen aber an der Frage der Existenz der Außenwelt verzweifelnden cartesianischen Cogito. Er setzt den Menschen, den er „Dasein“ nennt, in den Kontext seiner Wesensbedingungen, zu denen ohne Zweifel nicht nur das „Sein zum Tode“, sondern auch die Angst vor dieser „unüberholbaren Möglichkeit des Daseins“ (Heidegger 2006, 258f) gehört: der Tod als äußerste und damit erhabenste unserer Möglichkeiten, die wir zu verwirklichen eines Tages gezwungen sein werden.

 

Eine sehr komplexe und umfassende Auseinandersetzung mit der Begrenztheit menschlichen Strebens – in diesem Fall tatsächlich! – findet sich im sehr viele Bände umfassenden Werk des Philosophen Hans Blumenberg. Angesichts der Gravität der Fragestellungen, mit denen Blumenberg sich nicht nur befasst, sondern mit denen er geradezu ringt, ließe sich die folgende These aufstellen: Sein gesamtes Werk ist Trauerarbeit über das ständige Schwinden, dem das sich selbst reflektierende Bewusstsein hilflos ausgeliefert ist, Trauerarbeit, aber auch die sich in Theorie niederschlagende Selbstbehauptung angesichts der Endlichkeit. Anders als viele kanonische Philosoph*innen, anders als Descartes, Heidegger und Kant, arbeitet Blumenberg aber nicht linear und systematisch. Die Schauplätze seiner Gedankenspiele sind Mythen, historische Ereignisse, theologische, literarische, autobiographische Texte. Er bedient sich dieser Quellen, ebenso wie der kanonischen Philosophie insbesondere Husserls, in eklektischer Manier. Auch wenn diese Vorgehensweise methodologisch immer wieder zu Problemen führt, bringt Blumenberg doch durch gezieltes Assoziieren Theorie- und Erzählungsbruchstücke zueinander, die Wege zu neuen Formen des Denkens eröffnen.

Blumenbergs große Vorliebe für die Arbeit mit Mythen, gepaart mit dem mitunter existenzialistischen Pathos seiner Schriften, erklärt sein immer wieder hervorbrechendes Interesse für Apokalypsen aller Art. In der Religionswissenschaft bezeichnet der mit ‚Enthüllung‘ zu übersetzende Begriff Schriften, die das kommende Weltende beschreiben. Blumenberg benutzt den Begriff jedoch umfassender; er bezeichnet damit nicht etwa Texte, sondern den Weltuntergang selbst. Das lässt sich nicht etwa auf Unkenntnis der religionshistorischen Terminologie zurückführen; die hermeneutische Tradition, in der er sich bewegt, versteht Wirklichkeit als Text. Da wir von Weltuntergängen nur durch diejenigen wissen, die sie ankündigen, sind diese aber ohnehin stets sprachlich und narrativ verfasst und können also wie Texte gelesen werden. So erklärt sich Blumenbergs Begriffsverwendung, die hier adaptiert werden soll. Er befasst sich in seinen Vorlesungen über Eschatologie u. a. mit Hans Jonas‘ Monographie Das Prinzip Verantwortung, mit dem Wärmetod der Welt, mit dem von der Umweltbewegung befürchteten, durch den Menschen selbst herbeigeführten Weltuntergang durch Verschmutzung und sogar mit der Frage nach einer Welt ohne Menschen. Apokalypsen hat es in Form drohender Naherwartungsphantasien immer schon gegeben, schlussfolgert Blumenberg. Der bei den Studierenden für seinen Witz berühmte Philosoph malte diese Szenarien oft in schönster Pointiertheit aus: „Es fällt zum Beispiel alles Mögliche herunter, Steine oder Sterne. Die Griechen ließen Steine fallen, in der Bibel fallen Sterne“ (Blumenberg, Vorlesung vom 12.04.1985).

Weltuntergangsähnliche Geschehnisse werden ständig, mitunter zurecht, von den unterschiedlichsten Personen angekündigt, von Weisen, Prophet*innen, Wahrsager*innen, Politiker*innen, Klimaforscher*innen oder Virolog*innen. Stattgefunden hat bisher keines der angedrohten Ereignisse. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht trotzdem in Bälde zum Weltuntergang kommen könnte. Die Verwirklichung des Befürchteten steht in Blumenbergs Interesse allerdings weit hinter der Feststellung der ewig andauernden Endzeit. Der Mensch ist ein Wesen, das sich stets am Ende aller Tage wähnt. Warum ist das so?

Während das Sterben als Bewusstseinsprozess in Form von Befürchtung, Erwartung, Verdrängung, Bewusstwerdung etc. ein inneres Geschehen ist, ein Geschehen, mit dem jedes Ich sich alleingelassen findet – der einzige Tod, der erfahren (nicht erlebt!) werden kann, ist der eigene –, spielt die Apokalypse sich für alle Individuen gleichermaßen in der Außenwelt ab. Sie ist nicht nur die am wenigsten einsame Form des Sterbens, indem sie die gesamte Menschheit betrifft, sondern sie ist auch endgültig. Der je nach charakterlicher Disposition mitunter als unangenehm empfundene Gedanke, dass das Leben der anderen nach dem eigenen Tod weitergehen wird, kann anlässlich eines echten Weltunterganges nicht aufkommen. Die “Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit‘ (Blumenberg 2016, 71ff) – um es in Blumenbergs Terminologie auszudrücken –, zwischen Innen und Außen, schließt sich. Als ‚Lebenszeit‘ bezeichnet Blumenberg jene Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, die jedem Menschen gegeben ist. Die Weltzeit dagegen ist die Gesamtheit der Zeit von ihrer Entstehung bis zu ihrer Nicht-Existenz (falls sie entstanden ist und falls sie tatsächlich aufhören sollte, zu vergehen) – vulgärphysikalisch gesprochen: vom Urknall bis zur Implosion des Universums. Blumenbergs ‚Welt‘-Begriff umfasst die Gesamtheit dessen, was (insbesondere außerhalb des eigenen Bewusstseins) existiert. In diesem Sinne ist auch die Zusammensetzung des Terminus ‚Welt-Zeit‘ zu verstehen: die Zeit der Welt, die sich nicht mit der jedem Individuum zugemessenen Lebenszeitspanne deckt.

Lebenszeit und Weltzeit lautet sprechend der Titel des sich eben diesem Komplex widmenden Werkes. Die Monographie erschien 1986, also zehn Jahre vor Blumenbergs Tod. Viele andere seiner Schriften wurden und werden posthum publiziert. Noch heute werden Werke aus seinem umfassenden Nachlass, verwaltet durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach, veröffentlicht. Ein Autor, der so unermüdlich dachte und produzierte, dass seine eigene Lebenszeit nicht ansatzweise ausreichte, seine Gedankenerzeugnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – schon dieser Umstand lässt erahnen, wie sehr Blumenberg selbst, in diesem Fall ganz praktisch, mit der unüberbrückbaren Differenz zwischen Lebenszeit und Weltzeit rang. Er nannte das einen „Urkonflikt“, das „Bewusstsein, von der Welt bleibe etwas vorenthalten, was denen zufallen würde, die eine Zeit jenseits der eigenen nutzen könnten“ (Blumenberg 2016, 72). Es bleibt nie genug Zeit – alle Bücher zu lesen, alle Gedanken zu denken, alle Fragen zu stellen, alle Worte zu notieren. Das große Werk endet durch Abbruch. Blumenberg empfand diese Tragik nicht nur am eigenen Leib. So wies er in einer seiner Vorlesungen beispielsweise darauf hin, dass es nach wie vor ungeklärt sei, ab welchem Zeitpunkt Kants Werk von dessen Demenzerkrankung beeinflusst und verunklart wurde (vgl. Blumenberg, Vorlesung vom 18.04.1985).

Der Vorteil eines nahenden Weltunterganges ist aus dieser Perspektive, dass sich die Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit unwiderruflich schließt. Ganz gleich, wie viel jeder oder jedem einzelnen allein deshalb vorenthalten ist, weil sie oder er an einem bestimmten Zeitpunkt der Weltgeschichte geboren wurde und daher den größten Teil Geschichte der Menschheit nicht persönlich erleben konnte, was die Zukunft betrifft, sind im Augenblick der Apokalypse alle Menschen gleich. Es kann keine Überlebenden und damit keine Konkurrenz um Erlebtes geben. Den Abschnitt über die „Öffnung der Zeitschere“ leitet Blumenberg aber nicht mit der Erörterung dieses offensichtlichen „Vorteils“ des Weltunterganges ein. Er beginnt seine Ausführungen mit der These über den für die Endzeit charakteristischen Mangel an Zeit als „Wurzel des Bösen“ (Blumenberg 2016, 71). Dabei bedient er sich biblischer Motivik und paraphrasiert die Offenbarung des Johannes (Offb 12,12): „Der Teufel weiß, dass er wenig Zeit hat.“ (Blumenberg 2016, 71) Luzifer, der die herannahende Apokalypse, also den durch Gott herbeigeführten Weltuntergang, fürchtet, leidet unter akutem Zeitmangel. Die Welt, deren Fürst er ja bekanntlich ist, wird in Kürze nicht mehr existieren. Er treibt es umso ärger, je näher er die Apokalypse wähnt. Alle Übel müssen angerichtet sein, bevor das Jüngste Gericht einberufen wird.

Den Ursprung des Bösen im Problem der Befristung zu suchen, ist historisch betrachtet eine eher ungewöhnliche theoretische Volte. In der Theologie- und Philosophiegeschichte herrscht eine relative Einigkeit darüber, die Wurzel des Bösen in der Peripherie der Entstehung der menschlichen Freiheit zu verorten: Als Geschöpf, das Gott ein echtes Gegenüber sein soll, eine imago dei, ist der Mensch frei geschaffen – frei zum guten und zum bösen Handeln. Er ist gerade keine Marionette, die von Gott als Puppenspieler geführt wird. Er soll sich frei für oder gegen den Bund mit Gott entscheiden. Angefangen mit den ersten theologischen Schriften des Christentums bis in die Religionshermeneutik des 20. Jahrhunderts hinein wird diese Genese der Fehltat immer wieder wiederholt, vergegenwärtigt und variiert. Umso auffälliger ist die abweichende Deutung Blumenbergs.

Im nächsten Schritt seiner Argumentation versteht er Zeitmangel ebenfalls als vorherrschendes und schließlich zum Sündenfall führendes Problem Adams und Evas im Garten Eden. So bringt er Apokalypse und Paradies, Ende und Anfang, in erzählerischer Manier zueinander und möchte so zeigen, dass Paradiese sich qua ihrer Konstitution immer selbst zerstören müssen (Blumenberg 2016, 74). Der Mensch, postuliert er, litt auch im Paradies zwangsläufig an einem Mangel – um genau zu sein, sogar an mehreren. Zum einen existierte neben dem Baum des Lebens, der den Menschen unendlich ernähren sollte, ein weiterer Baum, dessen Früchte aber unter Androhung schwerster Strafen – nämlich des Todes – nicht gegessen werden durften. Die Früchte vom Baum der Erkenntnis waren mithin das erste, was dem Menschen vorenthalten worden war. Das zweite Vorenthaltene war, trotz potentiell ewigen Lebens, die Fülle der Zeit. Blumenberg erzählt den Mythos auf eigene Faust weiter: „Vier Jahre nach dem Tage 0 taucht am Himmel des Paradieses der erste Fixstern auf – Alpha Zentauri mag Adam ihn genannt haben –, und vielleicht gab er das erste Gefühl davon, die Welt könne Vorbehalt auch in der Zeit sein. Da war ein Stück Wirklichkeit, das sich nicht um den Menschen zu kümmern schien, nicht war wie die Tiere, die er bei ihren Namen genannt hatte und die sich rufen ließen. War das ein Symptom für Weiteres?“ (Blumenberg 2016, 74) Daraus schlussfolgert Blumenberg: „Die Welt war dagewesen, als der Mensch zum ersten Mal erwachte; sie bestand fort, als er zum ersten Mal einschlief. Sie scheint nicht nur Garten zu sein: Unbekümmertheit um den Menschen ist ihr wie eine ‚Qualität‘ eigen. Es war leichtfertig gewesen, die Sache mit dem Rufen der Tiere bei ihren Namen für das Ausschließliche oder auch nur Exemplarische zu halten: Wünsche, die doch nichts anderes sind als das Rufen von Realitäten bei ihren Namen, werden nicht wahr, und Wahres erweist sich als Ungewünschtes.“ (Blumenberg 2016, 75)

Es ist ein tragisches Bild, das Blumenberg hier zeichnet. Gern möchte man sich den paradiesischen Menschen, sowohl Mann als auch Frau, als unbeschränkt glücklich oder wenigstens zufrieden vorstellen. Aber auch diese beiden litten nach Blumenbergs beklemmender Interpretation bereits an Mängeln – der Begrenztheit von Zeit, der Begrenztheit von Raum –, die schließlich, das ist Blumenbergs Pointe, zur verheerenden Verbotsübertretung führten.

Um die Qualität der Abweichung der in Lebenszeit und Weltzeit niedergeschriebenen Argumentation nachvollziehen zu können, lohnt es sich, einen kurzen rekapitulativen Blick in den „Originalmythos“ (Gen 3) zu werfen: Natürlich hält sich der Mensch nicht an das Gebot Gottes. Es ist die Frau, die sich vom klügsten aller Tiere, der Schlange, dazu verführen lässt, in den verbotenen Frucht zu beißen, und dann ihren Mann zur Mittäterschaft überredet. In der Einheitsübersetzung verspricht die Schlange: „Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“ (Gen 3,4–5) Die Schlange lügt nicht. Der nun sündige Mensch stirbt nicht (zumindest nicht an Ort und Stelle), sondern wird erkennend. Gott überführt ihn schließlich des Vergehens, weil der Gefallene sich plötzlich seiner paradiesischen Nacktheit schämt.

Blumenberg versteht das Versprechen des Baumes der Erkenntnis bzw. der Schlange aber völlig anders. Für ihn bedeutet das Essen der verbotenen Frucht die Überwindung des Mangels, der bereits bestand: ‚Sein wie Gott‘ wäre in diesem Fall nicht nur das Schließen der Schere von Lebenszeit und Weltzeit, sondern auch die Negierung jeder Möglichkeit des Vorenthaltenen in der Zeit. „Nur diese Rivalität von Verbot und Versuchung ist denkbar: das Wissen von der Differenz zwischen Weltzeit und Lebenszeit einerseits, das Angebot ihrer endgültigen Identität andererseits.“ (Blumenberg 2016, 75)

Im Text der Genesis ist kein Hinweis auf die Richtigkeit dieser These zu finden. Der Baum des Lebens, der dem Menschen vor seinem Fall jederzeit zugänglich war, ist es, der Unsterblichkeit ermöglicht, der die Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit, jedenfalls was die Zukunft betrifft, nahezu schließt. Anlässlich der Vertreibung des Menschen spricht Gott zu sich selbst: „Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er Gut und Böse erkennt. Aber jetzt soll er nicht seine Hand ausstrecken, um auch noch vom Baum des Lebens zu nehmen, davon zu essen und ewig zu leben.“ (Gen 3,22) Der Baum der Erkenntnis verspricht, die Welt nicht sorgenlos bewohnen zu dürfen, sondern sie zu verstehen, zu sehen wie Gott, zu wissen, zu unterscheiden, zu urteilen. Das ist eine ganz andere Art von Mangelbeseitigung als das Erlangen von Ewigkeit. Und zugleich ist die Möglichkeit des Erkennens, ohne genügend Zeit dafür zu haben – denn der Baum des Lebens ist dem Menschen ja von nun an nicht mehr zugänglich –, der schlimmste Fluch.

Der Mensch begeht, anders als Blumenberg es argumentiert, nicht etwa die erste Sünde, weil er zu wenig Zeit hat, sondern weil ihm die Fülle der Zeit zur Verfügung steht und er noch kein Bewusstsein für seine Endlichkeit entwickelt hat. Es ließe sich sogar postulieren, mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis sei der Mensch nicht nur sterblich geworden, sondern habe auch das reflexive Bewusstsein entwickelt, dass die Quelle des eigentlichen Leids an der Begrenzung ist – und zugleich die Möglichkeit birgt, mit ihr produktiv umzugehen. Adam und Eva handeln in Eden also keineswegs als Ebenbilder des großen Widersachers, der die Welt vor ihrem Untergang schlimmer als je zuvor mit Übeln bedroht. Paradoxerweise sind sie gerade in der Ausübung dieses größtmöglichen Aktes der Freiheit, des Sündenfalls, Ebenbilder Gottes.

Der theologische Ertrag der Deutung Blumenbergs fällt demnach eher gering aus. Trotzdem ist seine Interpretation aus hermeneutischer Sicht durchaus interessant. Abgesehen davon, dass die These von der Begrenzung in der Zeit, von der Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit, Blumenbergs intensive Heidegger-Lektüre erahnen lässt, gehört sie zu den seltenen ernsthaften philosophischen Auseinandersetzungen mit dem unlösbaren Problem der Sterblichkeit. Blumenberg hilft seinem Leser nicht, den biblischen Text verstehend zu durchdringen, er bedient sich vielmehr der Motivik des Mythos, um eine Geschichte zu erzählen, die in der Größe ihrer Selbstbehauptung selbst schon die Qualität eines Mythos hat. „Es geht um das Nichtertragenmüssen der Gleichgültigkeit der Welt in ihrem Vorbestand und Fortbestand als der Sinnverweigerung.“ (Blumenberg 2016, 79)

Nachdem Blumenberg innerhalb des jüdisch-christlichen Mythos die Endzeit und den Beginn der Zeit behandelt hat, wendet er sich einer ganz anderen Art des Weltunterganges zu: dem apokalyptischen Wirken Hitlers. An diesem gewagten Sprung vom Mythos in die Historie – kein methodologischer Sprung, wohl aber eine Wandlung der Prämissen – lässt sich ermessen, wie eklektisch dieser Philosoph mit seinem Material verfährt.

Die dämonische Qualität Hitlers führt Blumenberg auf Grundlange der Erinnerung des Adjutanten Nicolaus von Below und der berühmten Bormann-Diktate ebenfalls auf einen empfundenen Mangel an Zeit zurück. Von Below berichtete erst 1980 – vorher brachte er es nicht über sich, darüber zu sprechen – von einem persönlichen Gespräch mit Hitler nach dem Scheitern der Ardennen-Offensive im Januar 1945. Dieser soll zu ihm gesagt haben: „Wir kapitulieren nicht, niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen.“ (Nicolaus von Below zitiert Hitler. In: Blumenberg 2016, 81)

Was in einem solchen Ausspruch zum Ausdruck kommt, ist der unbedingte Wille, die Weltzeit in der eigenen Lebenszeit aufgehen zu lassen. In den Bormann-Diktaten ist nachzulesen: „Ich hingegen stehe unter dem Schicksalsgebot, alles innerhalb eines einzigen kurzen Menschenlebens zu vollenden. […] Wofür die anderen die Ewigkeit haben, dafür bleiben mir nur ein paar armselige Jahre.“ (Genoud 1981, 110, 25. Februar)

Hitler hatte beschlossen, bei seinem Untergang eine Welt mitzunehmen. Was das betrifft, liegt Blumenberg völlig richtig: Der Ursprung des Bösen ist in diesem Fall die klaffende Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit. Welchen „anderen“ eine Ewigkeit für dieselbe Aufgabe zusteht, bleibt indes offen.

Für Blumenberg persönlich bedeutete Hitlers Wirken eine immense Öffnung der Zeitschere. Nachdem er 1939 sein Abitur am Katharineum in Lübeck abgelegt hatte, musste er das kurze Zeit später begonnene Studium der katholischen Theologie als Priesteramtskandidat aufgrund seines jüdischen Hintergrundes abbrechen. Arbeitsdienst, die Internierung im Arbeitslager in Zerbst, das Verstecken auf dem Dachboden im Haus der Familie der Frau, die er kurz zuvor geheiratet hatte – all das bedeutete für ihn, der immer nur denken, verstehen und schreiben wollte, vor allem Zeitverlust. Der Krieg war für ihn Weltuntergang. Über das Leiden daran sprach er später immer nur in Form der Klage über den Mangel an Arbeitszeit. Als Universitätsprofessor galt er als Workaholic; er schlief wenig und produzierte geradezu manisch Bücher, Essays und Notizen, wissend, dass er in der kurzen, ja tragisch verkürzten Zeitspanne seines Lebens sein Werk nicht würde vollenden können. Der christliche Mythos, den er immer wieder in verschiedenen Formen aufgriff, neu erzählte, abwandelte und interpretierte, war zwar Quelle von Inspiration, konnte ihm aber keinen Trost bieten. Blumenberg war kein gläubiger Mensch. Der Kern des Religiösen, der darin besteht, dass etwas Anderes, Äußeres, Umfassenderes und Wahres die eigene Begrenztheit übersteigt, war ihm verschlossen. Er blieb dabei – trostlos und zugleich ungemein produktiv –, zu arbeiten und zu wissen, dass es für ihn nie etwas anderes geben würde.

 

Der griechische Begriff ἀποκάλυψις bedeutet ‚Enthüllung‘, ‚Entschleierung‘ oder ‚Offenbarung‘. Die christlichen Apokalyptiker*innen verkünden nicht etwa das Ende von allem, sondern eine Katastrophe nie dagewesenen Ausmaßes, die zugleich als Hervorbringerin des Neuen fungiert. In der Offenbarung des Johannes heißt es: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr.“ (Offb 21,1) Das Alte stirbt, um Platz für das Neue zu machen. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament ist von solchen (wenn auch nicht so genannten) Apokalypsen immer wieder die Rede, beginnend mit dem Fall des Menschen über die Sintflut bis hin zum Auszug aus Ägypten (der dadurch besiegelt wird, dass der Geist Gottes alle ägyptischen Erstgeborenen tötet) und schließlich, als Ereignis, das zugleich der Anfang, die Mitte und das Ende der Geschichte ist, die Kreuzigung Gottes auf Golgatha. Apokalypsen halten für diejenigen, die sie erleiden müssen, immer zugleich Hoffnung und Trost bereit: „Er [Gott] wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)

Es mag etwas seltsam anmuten, inmitten der Erwartung des Weltendes Trost und Hoffnung zu finden. Doch dies ist letztlich die Pointe der Apokalyptik; ihre Faszination liegt in ihrem ungeheuren Trostpotential. Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich seiner Sterblichkeit und der Endlichkeit aller Dinge, die ihn umgeben und die er mit Sinn ausgestattet hat, bewusst ist. In dieser Eigenschaft ist er ungeheuer trostbedürftig – gerade, weil nichts, was er tut, seine Situation wird ändern können. Er ist das Wesen, das sich stets in der Endzeit wähnt. Und er hat Recht: Jedes Dasein ist von Beginn an begrenzt; es hat schon begonnen zu enden, wenn es gerade erst Teil der Welt geworden ist. Jedem Dasein ist nicht nur etwas, sondern beinahe alles vorenthalten in der Zeit. Jeder Augenblick vergeht, jedes Glück, jede Trauer, jeder Gedanke, jedes Verstehen. Der Mensch ist tief vertraut mit dem Vergehen, dem Verlieren und dem Enden. Er wähnt sich nicht in der Endzeit, die Endzeit ist der Ort seiner Existenz. Phantasien, Prophezeiungen und Befürchtungen von nahenden Apokalypsen sind nichts anderes als die Externalisierung dieses beinahe unerträglichen Zustandes, der doch Tag für Tag ertragen werden muss. Apokalypsen erinnern daran, dass niemand allein in seiner Endzeit gefangen ist, sondern dass die Erfahrung geteilt werden kann.

Letztlich birgt jede Apokalypse das Potential einer Erkenntnis. Wenn die Menschheit an einer Pandemie oder am Klimawandel zugrunde geht, wird sich herausstellen, dass wir falsch gelebt haben, dass wir ausbeuterisch waren, dass wir unsere eigene Spezies vernichtet haben zugunsten einiger weniger Jahrzehnte voller Annehmlichkeiten und Luxus für wenige. War es das wert? Einige werden sagen, sie hätten es immer gewusst, andere werden es im Moment des unaufhaltsamen Unterganges erst erkennen. Es wird Antworten auf die Frage nach dem „Warum?“ geben, unerfreuliche ohne Zweifel – aber auch das kann Trost sein: zu wissen, warum. Apokalypse bedeutet ‚Enthüllung‘.

In der christlichen Vorstellung sitzt Gott nach dem Untergang der alten Welt zu Gericht. Der erste Tod wird vergangen sein, aber denjenigen, die falsch gelebt haben, droht „der zweite Tod“, den Feiglingen und Treulosen, den Befleckten, den Mörder*innen und Unzüchtigen, den Zauber*innen, Götzendiener*innen und allen Lügner*innen. (Offb 21,8) Ich war immer schon gespannt darauf, wie dieses Jüngste Gericht, falls es denn tatsächlich dazu kommt, vonstattengehen wird. Werde ich zu den Glücklichen gehören, die gemeinsam mit Gott auf der neuen Erde unter dem neuen Himmel leben dürfen? (Vermutlich nicht.) Wer kommt dafür überhaupt infrage? Könnte es sein, dass der Richter sich allerlei Fragen wird gefallen lassen müssen? Im Grunde ist es – trotz aller vernünftigen Argumentationen in der Theodizee-Problematik – nicht einzusehen, dass jemand, der für sich in Anspruch nimmt, gütig und allmächtig zu sein, ein Wesen geschaffen hat, das sich ohne Entkommen einer unerträglichen Situation ausgeliefert sieht, die es zwar zu begreifen, aber nicht zu ändern in der Lage ist. Werden wir, die Feiglinge, Treulosen, Befleckten und Lügner*innen, vielleicht gemeinsam mit leeren Händen vor unserem Schöpfer stehen und bekennen müssen, dass wir nichts tun konnten, als solche zu werden, die Schuld auf sich geladen haben, weil wir, ähnlich wie der Teufel in der Johannesoffenbarung, einen so unerträglichen Mangel erlitten haben? Und wäre es möglich, dass wir dann, wenn wir endlich aufgehört haben, uns zu verteidigen, diesem Gott, der genau deshalb am Kreuz gestorben ist, näher sein werden als je zuvor? Es kann viel Trost darin liegen, sich die Apokalypse auszumalen. Apokalypse bedeutet, dass die Dinge nicht enden werden, bevor wir sie verstanden haben.

Blumenbergs große Affinität zu allen möglichen Formen von Endzeitvorstellungen erklärt sich aus dieser Perspektive leicht: Während der Tod, jedenfalls für jene, die nicht glauben können, das Ende von allem ist, erzeugt jede Apokalypse auf ihre Art etwas neues, und sei es nur Erkenntnis darüber, warum alles zugrunde gehen musste. Er, der sich selbst Trost jenseits der Unermüdlichkeit seines Arbeitens nicht zugestehen konnte, hatte Verständnis für diejenigen, die die eigene Befristung in der Vorstellung einer Endzeitoffenbarung aufgehen lassen.

 

Literatur

Blumenberg, Hans: Eschatologie: bisher unveröffentlichte Vorlesung, mtmaßl. vom 12.04.1985.

Blumenberg, Hans: Schopenhauer: bisher unveröffentlichte Vorlesung, mtmaßl. vom 18.04.1985.

Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit: Frankfurt a. M. 2016.

Buber, Martin: Das Problem des Menschen: Heidelberg 1954.

Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie: übers. v. Gerhart Schmidt, Stuttgart 1986.

Genoud, François (Hrsg.): Hitlers politisches Testament. Die Bormann Diktate vom Februar und April 1945: Hamburg 1981.

Heidegger, Martin: Sein und Zeit: Tübingen 2006.

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