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Nr. 2 / 2020
Buchempfehlung

Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel

Die Notwendigkeit einer neuen Weltpolitik scheint dem chinesischen Philosophen Zhao Tingyang evident: Die technischen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ließen sich nicht nationalstaatlich lösen, da Staaten letztlich immer ihre Interessen durchsetzen würden. Die Überwindung dieses Problems erfordere eine Weltpolitik, die im radikalen Sinne inklusiv und integrativ ist und Welt selbst als politisches Subjekt denke. Keine geringere Aufgabe hat sich Zhao mit seinem jüngst übersetzten Werk Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung gegeben. „Alles unter dem Himmel“ ist eine mögliche Übersetzung des chinesischen Begriffs Tianxia, den Zhao für die von ihm avisierte Weltpolitik ins Spiel bringt. Dabei will Tianxia keine Utopie sein, sondern eine realistische Weltordnung, die Sicherheit biete, Konflikte verhindere und die Vielfalt von Lebensformen toleriere.

Ein Hauptteil des Werkes rekonstruiert den konfuzianistischen, historischen Kontext des Konzepts des Tianxia, dessen Ursprung in der Zhou-Dynastie (1100–256 v. Chr.) liegt. Nach der überraschenden Niederlage des Herrscherhauses der Ying-Shang im Konflikt mit dem Kleinstaat Zhou sah sich dessen König Wu von Zhou gezwungen, von der Strategie der militärischen Überlegenheit abzuweichen und stattdessen eine Art konzentrischen Staatenbund mit reziproken Abhängigkeiten und Pflichten zu etablieren. Dabei galt es, eine umfassende politische Ordnung zu schaffen, der sich hunderte von Lehn- und Vasallenstaaten freiwillig anschließen. Das so entstandene Tianxia-System markiere den Umschwung Chinas von einer Offenbarungs- zu einer Geschichtsgesellschaft, in der Herrschaft nicht mehr durch spirituelle Führer und Ahnen oder militärische Macht, sondern gemäß einer Theorie des „Mandats des Himmels“ durch die Tugendhaftigkeit der Herrschenden legitimiert wird. Die Stabilität des Tianxia wiederum wurde durch die Befriedung der Bevölkerung sichergestellt, nicht durch eine hegemoniale Vormachtstellung gegenüber den umliegenden Staaten. Tianxia muss dabei in einem geographischen, sozialpsychologischen und politischen Sinne verstanden werden: Es umfasst territorial die „ganze“ Welt, es ist auf eine prinzipielle Zustimmungsfähigkeit aller Menschen angewiesen und bildet selbst eine politische Ordnung.

Den möglichen Vorwurf, dass sich hinter der Theorie des Tianxia nur die Allmachtsphantasie eines chinesischen Superstaats, ein Pax Sinica für das 21. Jahrhundert verberge, versucht Zhao zu entkräften. Spätestens mit Beginn der Republik 1912 dominiere in der chinesischen Politik eine politische Logik der Nationalstaatlichkeit; wie auch immer die konkrete Ausgestaltung einer inklusiven Weltordnung aussehe, sie habe wenig mit der Politik der Volksrepublik China zu tun. Auch die zeitliche Distanz zum historischen Tianxia – das vor etwa 2.000 Jahren zerfiel – verhindere eine simple Kontinuitätsthese des Reiches der Mitte. Im Gegenteil: Zhao betont den Bruch zwischen dem Narrativ des Tianxia und dem Narrativ China. Allerdings wirke das Konzept des Tianxia subkutan in der Geschichte Chi­nas. Hierfür zeichnet Zhao mit dem Bild der „Jagd auf den Hirschen des Tianxia“ die zentripetale Geschichte der fruchtbaren nordchinesischen Zentralebene als Abfolge von Herrschaftsansprüchen, die sich nur durch eine partielle Übernahme vorhandener kultureller Bezugssysteme und damit durch soziale Integration und Assimilation und nicht durch totale Unterwerfung etablieren konnten. Dadurch erhielt sich durch die Jahrhunderte eine Art inneres Tianxia, das die Ausbildung eines nationalstaatlichen Paradigmas bis zur Moderne aufschob.

Ausgehend von diesem historischen Vorbild formuliert Zhao ein politisches Konzept für die Weltordnung für die heutige Zeit. Neben der historischen Distanz ist es der konfuzianistische Hintergrund, der Grundkategorien des westlichen politischen Denkens herausfordert. Zhao bemüht zunächst einen neuen Typus von Rationalität, der zwar noch spieltheoretische Anleihen hat, aber nicht mehr das Individuum als kleinste politische Entität setzt, sondern gemäß einer Ontologie der Koexistenz jede Existenz als je schon abhängig und verbunden beschreibt. Die daraus entwickelte relationale Rationalität schließt eine individuelle Rationalität nicht aus, setzt diese aber an zweiter Stelle. So erklärt sich auch Zhaos Kritik an einem hobbesianischen Modell des kriegerischen Naturzustandes. Dieses schärfe zwar den Blick für die Konfliktgefahr anarchischer Zustände, übersehe aber, dass vor jedem Konflikt bereits elementare Formen der Kooperation vorhanden sind. Zhaos Politikbegriff steht damit im scharfen Kontrast zu antagonistischen und bellizistischen Theorien des Politischen, die das Politische gerade in instabilen Momenten der Konflikte und der Widersprüche verorten. Nach Zhao führen alle diese Theorien nur zu einer Verlängerung der Konflikte und nicht zu ihrer Bewältigung. Ziel ist für ihn eine gesellschaftliche Ordnung, in der ein „konfuzianistisches Optimum“ herrscht, also der Nutzen von Kooperation den von Konkurrenz übersteigt und damit jede Nutzungsverbesserung eine „Verbesserung des Nutzens aller Beteiligten mit sich bringt (120)“.

Zhao scheut nicht die Auseinandersetzung mit den westlichen Großtheorien der politischen Philosophien, um auf die Überlegenheit des Tianxia-Konzepts hinzuweisen. Huntingtons Diagnose des Clash of Civilizations beispielsweise beschreibe zwar treffend die grundlegenden Differenzen gewisser Kulturen und auch Zhao bezweifelt, dass westliche Wertvorstellungen sich umfassend durchsetzen können, ohne massive Gegenbewegungen auszulösen. Allerdings folge daraus nicht, dass sich kulturelle Differenzen automatisch zu unauflösbaren kriegerischen Konflikten verhärten. Diese Tendenz sei vielmehr das Resultat monotheistischer Religionen, allen voran des Christentums. Das kantische Modell des Ewigen Friedens wiederum erkenne zwar die Notwendigkeit einer überstaatlichen Ordnung in Form einer Friedenskonföderation und warne vor dem Ideal eines Weltstaats. Kants multilaterales Modell bleibe jedoch angewiesen auf die Gleichartigkeit der Staaten, wie sie vielleicht auf der EU-Ebene gegeben sei, nicht aber auf Weltebene. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie schließlich biete zwar für die nationale Ebene ein plausibles Entscheidungsprinzip zur Einrichtung einer Gesellschaftsordnung, ein Äquivalent auf der völkerrechtlichen Ebene dagegen bilde eine klaffende Lücke in seiner Theoriebildung, sodass Rawls hier mit seiner Politik der Interventionen gegen die „Schurkenstaaten“ sogar hinter Kant zurückfalle.

Zhaos gedanklicher Umweg über das antike China bietet Potential für eine Neubestimmung einer internationalen Politik. Jedoch darf dabei nicht übersehen werden, wie Zhao auch liebgewonnene Werte und Ideen des Westens herausfordert. Entgegen der nationalistischen und liberalistischen Traditionen geht Tianxia nicht von Individuum und Staat aus, sondern vom ethischen Dreiklang Sippe – Staat – Tianxia und seiner politischen Umkehrung Tian­xia – Staat – Sippe. Auch die Forderung nach Gleichheit wird mit Verweis auf eine notwen­dige Hierarchie in allen Gesellschaften relativiert. Die Menschenrechte wiederum werden in seinen Augen insbesondere von den USA imperialistisch instrumentalisiert. Generell steht Zhao der Demokratie als Regierungsform skeptisch gegenüber und traut dem Urteil einer*s tugendhaften Herrscher*in eher als der wechselhaften Masse. Dem Verfall der Demokratie hält er nicht – wie zeitgenössische radikal-demokratische Theorien – eine vertiefende Demokratisierung der Demokratie entgegen, sondern betrachtet ihn als ein ihr inhärentes Defizit. Letztlich scheinen weder politische Partizipation noch Individualrechte eine prominente Stelle in dieser Weltordnung einzunehmen, die ihr meritokratisches Erbe nicht verhehlen kann.

Eine konkrete Beschreibung der rechtlichen oder institutionellen Ausformung des Tianxia bleibt Zhao der Leserschaft schuldig. Ebenso vage bleibt der Weg zum Tianxia. Klar sei nur, dass die UN als bloße Verhandlungsplattform weit davon entfernt ist, ein neues Tianxia auszubilden. Gleichermaßen diffus bleiben am Ende des Buches die ominösen Warnungen vor Technologien, die in Händen von Unternehmen systematisch die nationalstaatliche Macht ablösen würden. Umso frappierender klingt diese Diagnose, wenn an die Einrichtung umfassender Überwachungstechnologien wie dem social score in China gedacht wird. Auch wenn es überzogen erscheint, Zhao zu unterstellen, er würde unter einem philosophischen Deckmantel chinesische Staatspropaganda intellektualisieren, ist es auffällig, wie er sich jeder konkreten Kritik an der chinesischen Politik enthält und sich auf historische und abstrakt-theoretische Überlegungen beschränkt.

Mit Alles unter dem Himmel findet sich ein philosophischer Wurf, der nicht nur einen genuin außereuropäischen Philosophiestrang in seiner Eigenständigkeit freilegt, sondern zugleich das westliche Inventar politischer und gesellschaftlicher Werte mit seinen universalistischen Ansprüchen verunsichern sollte.

 

Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung, aus dem Chinesischen übersetzt von Michael Kahn-Ackermann, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.