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Nr. 2 / 2020
Interview

Die Angstmechanik durchbrechen. Ein Gespräch mit Kathrin Röggla

In Ihrem Stück „worst case“ beschäftigen Sie sich laut eigenen Aussagen mit dem „Katastrophismus“ und der „Katastrophengrammatik“. Durch welche Schlüsselbegriffe und Figuren zeichnet sich diese Grammatik aus? Was unterscheidet die Katastrophen- von der Risikogrammatik? Und welche Dynamiken bringt eine solche Grammatik hervor, welche Art des Verhältnisses von Normalität und Ausnahme?

Das Sprechen über Katastrophen, dieser Diskurs unterliegt einer gewissen Regelhaftigkeit und Dramaturgie, die ich mit Katastrophengrammatik bezeichnet habe. Wenn man diesem Bild folgen würde, wäre die Risikogrammatik eine Sprache, die stets versucht, Gefahren in Risiken zu übersetzen, das wissen wir von Niklas Luhmann. Sie enthält eher mathematische Vokabeln: Prognostik, Statistik, Stochastik. Sie ist eine der möglichst genauen Vorhersage und der Messbarkeit. Die Katastrophengrammatik folgt in gewissen Momenten dem Erzählmodell der Tragödie mit dem Versprechen der Katharsis. Entscheidend ist, dass natürlich das Schicksalshafte, die göttliche Bestimmung neoliberal gewendet wird. Am Ende geht es um Heldenfiguren, die die Katastrophe momenthaft beherrschen können. Die Kontrolle ist ebenfalls zentral, allerdings finden wir hier eher ein Spiel zwischen Entgrenzung und der zurückzugewinnenden Kontrolle. Es ist ein theatrales Sprechen, spektakulär. Insofern ist die Katastrophengrammatik auch nicht auf Individuen bezogen, das Subjekt spielt in ihr keine Rolle, es ist stets schon verlorengegangen in dem übergroßen Bild der Katastrophe oder in der übergroßen Figur des Helden, mit der es sich arrangieren muss. Die Diskursteilnehmer sind Zuschauer, Betroffene, sehr selten Akteure. Normalität und Ausnahme bilden eine Klammer, sind ein Vexierbild, d.h. die ständige Ausnahmesituation wird „normal“, was dann politisch instrumentalisiert wird. Es gibt, das hat Naomi Klein in der „Schock-Strategie“ gezeigt, Profiteure dieser Katastrophengrammatik. Hervorgebracht wird sie von der Melange aus politischen und medialen Interessen, einem gewissen Mindset eines tabula-rasa-Kapitalismus.

Wie können wir uns einen Horizont jenseits von allzu festgelegten Katastrophenszenarien bewahren, ohne tatsächliche Krisen und Katastrophen aus den Augen zu verlieren? Welche Rolle können künstlerische, literarische und philosophische Perspektiven dabei spielen, mit der Unplanbarkeit, der Möglichkeit des (individuellen wie gesellschaftlichen) Kontrollverlusts, den Kontingenzen der Zukunft umzugehen?

Wäre ich Soziologin, würde ich jetzt sagen, dass es immer eine soziale Konstruktion ist, wie wir Katastrophen fassen, d.h. die tatsächlichen Katastrophen gibt es so nicht, unabhängig von ihrem Sprechen über sie. Der Begründer der Katastrophensoziologie, Lars Claussen, sprach von „entsetzlichen sozialen Prozessen“, d.h. dasselbe Geschehen kann kulturell völlig anders beschrieben werden. Das birgt ungemeine Chancen. Die Dinge anders zu beschreiben, Handlungsstrategien zu zeigen, politische Möglichkeitsräume zu skizzieren, sowie Zukünftigkeit zurückzugewinnen wären künstlerische Strategien. Wenn die Welt in einer „breiten Gegenwart“ und die Medien in einem persistierenden „jetzt jetzt jetzt“, einer Liveticker-Kultur verloren gehen, dann kann hier mit künstlerischer Arbeit enorm viel bewegt werden. Ob Kunst jetzt präfigurativ handelt oder gleich als politisch agierend zu sehen ist, mag man diskutieren. Klar ist, dass hier derzeit viel geschieht. Gerade der Verlust eines offenen Zukunftsgefühls, eben von Zukünftigkeit ist hier zentral.

 

Was bedeutet die Fiktionalisierung der Realität durch omnipräsente Katastrophen und Endzeit-Szenarien und Endzeiterzählungen für Sie (Ihre Arbeit, Ihr Selbstverständnis) als Künstlerin und (dokumentarische) Autorin? Welche Katastrophennarrative fehlen Ihnen im gegenwärtigen (kulturellen und politischen) Diskurs?

Oh, da gibt es viel zu sagen. Aber vorneweg: Mir fehlen keine Katastrophennarrative. Auch keine Krisenerzählungen: Von Klimawandel, Artensterben, Ressourcenvernichtung, bis hin zu sozialen Katastrophen ist alles medial präsent, vielleicht Letzteres am undeutlichsten, obwohl es unsere soziale Welt am deutlichsten bestimmt. Es sind allerdings meist Erzählungen, die Angst machen, die einem stets das Gefühl vermitteln, es wird nicht nur zu wenig gehandelt, sondern gar nicht, es existiert ein geschichtsloses Gefühl von „uns bleibt keine Zeit mehr“, aber dass es eine Geschichte des politischen Handelns gibt, verschwindet. Und ja, wir müssen handeln. Unklar ist allerdings oft, wer wie handeln soll, vieles bleibt abstrakt. Wenn Greta Thunberg sagt: „Ich will, dass ihr in Panik geratet!“, hat das zwar seine Berechtigung, aber es wird nicht weit führen. Tatsächlich ist das beherrschende politische Gefühl derzeit, dass viel geredet wird, aber wenig geschieht, was wieder von Rechtspopulisten ausgenutzt wird. Nicht umsonst wenden sie in ihrer Rhetorik stets die „Alternative“ an, als stünden sie einem einheitlichen Block gegenüber, was ja so gar nicht stimmt. Aber es existiert eine Lücke zwischen Diskurs und politischer Entscheidung. Dazu kommt, dass vieles in einem moralischen Duktus formuliert wird, als gehe es um persönlich zu verantwortende Haltungen und eben nicht um politische Rahmenbedingungen. Was folgt daraus? Wir brauchen sowohl Erzählungen der Geduld, der solidarischen Arbeit, des Aufbruchs und der Hoffnung, wie Erzählungen des Zorns und des Protests. Vielleicht kann Komik helfen, die Angstmechanik zu brechen. Es geht letztlich auch um ein Wieder-ins-Verhältnis-setzen und um Verbindungen von realen Erfahrungsräumen und realer Arbeit. Um die Verbindung von medialer und realer Ebene. Man muss das übergroße Katastrophenbild in ein Bild der gemischten Distanzen verwandeln und der Konfrontation. Dabei dürfen keine Opfer gemacht werden, um das Überleben des Helden zu feiern. Konkret mache ich das in der literarischen Arbeit, indem ich diese Ebenen miteinander verbinde, die realen Erfahrungsräume mit den medialen Diskursen, mit der Infragestellung von Kommunikationsräumen und einer fiktiven literarischen Tradition. Ich weiß, das klingt ebenfalls sehr abstrakt – wie gesagt: Da gäbe es noch viel zu sagen.

 

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

 

Kathrin Röggla ist Schriftstellerin und Professorin für Literarisches Schreiben an der KHM Köln. Sie verfasst Prosa (u.a. „disaster awareness fair“ 2006; „Nachtsendung“ 2016) sowie Stücke für Theater und Radio (z.B. „wir schlafen nicht“ 2004, „Geschäftsführersitzung“ 2019). Röggla hielt Poetikdozenturen an den Universitäten Saarbrücken (2014), Zürich (2016) und Bamberg (2017) sowie 2019 die Translit-Professur in Köln. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem österreichischen Kunstpreis für Literatur und dem Wortmeldungen-Preis (beide 2020). Darüber hinaus ist Röggla seit 2012 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin (und seit Juni 2015 deren Vizepräsidentin), seit 2015 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt sowie seit 2019 Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

 

Die Fragen stellten Julia Rüegger und Ana Honnacker.