Bild der Startseite
Nr. 1 / 2022
Ein schwarzweiß Foto. Zwei zerknüllte Papierstückchen, eines davon gräulich, das andere weiß
pro&contra

Sollen Denkmäler als Lernorte erhalten bleiben?

pro

Denkmäler werden von ihrem Sockel gestürzt, Schulen, Kasernen, Straßen und Plätze umbenannt, wenn die Personen, denen sie gewidmet sind, aus unserer heutigen Sicht keine Ehre verdienen. Dazu gehören zum Beispiel Otto von Bismarck, Karl Peters, Richard Kaselowsky Senior, Erwin Rommel, Wladimir Iljitsch Lenin, Max Raebel und Bernhard Bavink. Sie sind im Begriff, fast vollständig aus dem öffentlichen Raum zu verschwinden. Die Ereignisse, für die sie stehen, treten uns noch in Geschichtsbüchern oder in Museen gegenüber, also in einem Diskurs, der unserem Alltag weitgehend enthoben ist. Wenn wir uns mit ihnen konfrontieren wollen, müssen wir uns bewusst dafür entscheiden, sie aufzusuchen. Was dort an Narrativen vorgehalten wird, dringt in der Regel nicht nach außen. Solange die zu Recht anstößigen Denkmäler und Namen im öffentlichen Raum da waren, sind wir auf dem Weg zur Arbeit oder in unserer Freizeit immer wieder über sie gestolpert. Ihrer Zudringlichkeit konnten und können wir nur entgehen, indem wir wegschauten. Darin sind wir zwar gut. In ihrer Materialität verstellen uns Denkmäler jedoch den Weg und zwingen uns, sie zu umgehen. Wir haben Umgang mit ihnen. In ihrer Fremdheit heben sie sich von ihrem Kontext ab und lassen stutzen. Sie befremden uns. In ihrer Unbekanntheit machen sie uns neugierig, so dass wir uns mit ihnen beschäftigen. Sie lassen sich nicht so einfach vergessen, wie ein Buch, über das wir uns ärgern, oder ein Internetmedium, das wir aus dem gleichen Grund wegwischen. Denkmäler müssen wir mühsam aus dem Weg räumen, Straßen und Gebäude umbenennen, damit wir freie Bahn haben und uns das, was einmal war, nicht mehr stört.

Unabhängig von der öffentlichen Präsenz sind die Folgen von Kolonialismus, Völkermord, Diskriminierung und Ausbeutung bis heute spürbar, für uns in Form von Privilegien, für den größeren Teil der Menschheit in Form massiver Benachteiligung. Für diesen größeren Teil sind die oben genannten Denkmäler, Schulen, Kasernen, Straßen und Plätze ein Schlag ins Gesicht. Kann man guten Gewissens von ihnen verlangen, sie zu tolerieren? Was spricht für dieses düstere Erbe? So überraschend es klingen mag, für mich hat es eine aufklärerische Funktion. Auf die BRD bezogen sind solche Hinweise auf das, was die Rolle Deutschlands in der Welt war, ein Schlag ins Gesicht dessen, was man die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft nennt. Die Denkmäler und Namen weisen darauf hin, woher aktuelle Privilegien kommen. Sie sind das Erbe von Unrecht, das einmal begangen worden ist. Wenn dieses Erbe im öffentlichen Raum da ist, können wir es nur schwerlich abstreiten, wenn wir darauf stoßen oder gestoßen werden. Kritik an globalen Ausbeutungsverhältnissen kann sich an solchen Orten festmachen und befindet sich damit im Alltag. Sie holt die Menschen dann räumlich dort ab, wo sie immer schon sind. Museen und Bücher sind wichtig, aber gewissermaßen extraterritoriale Räume oder mit anderen Worten diskursive Blasen. Sie sind Friedhöfe, dessen, was war. Wenn wir Anstößiges da belassen, wo es war, bleiben nicht nur die betreffenden Personen und Ereignisse präsent, sondern auch diejenigen, die sie verehrt haben und ihnen deshalb ein Denkmal gesetzt haben. Was wir heute als Fehlentscheidung betrachten, war damals Konsens. Vielleicht können wir aus diesen Fehlern lernen, dazu müssen wir sie aber tagtäglich vor Augen haben.

Das heißt jedoch nicht, dass wir das Anstößige nicht deutlich als solches kennzeichnen. Dazu gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die von Initiativen vor Ort bereits kreativ durchgespielt werden. Ein Denkmal könnte für Graffitis freigegeben werden. Eine von ihrem hohen Sockel geholte Statue sollte neben ihm liegen bleiben. Warum nicht Lettow-Vorbeck in Ketten legen? Mit kleinerer Münze werden anstößige Straßennamen kontextualisiert, indem man auf einer kleinen Tafel darauf hinweist, dass es sich bei der betreffenden Person um einen Kolonialverbrecher handelt, den die Stadtväter einmal haben ehren wollen. In einem Wettbewerb ließe sich durchspielen, welche Lösung geeignet ist, aus einem Ort der Verehrung einen Ort des Nachdenkens zu machen. Ein positives Beispiel für lebendige Geschichtskultur ist der Umgang der reformierten Süstergemeinde Bielefelds mit den Gefallenentafeln, die sich im Kirchenschiff über drei Wände ziehen. Sie reichen zeitlich von den sogenannten Befreiungskriegen 1813, die euphemistisch Einigungskriege genannten Aggressionen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich sowie den Kolonialkrieg im heutigen Namibia bis zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Anstatt die kriegsverherrlichenden Tafeln zu entfernen, wie es andern Orts geschehen ist, wurden vor die Wandtafeln verschiebbare, raumhohe Glasscheiben gesetzt, deren graphische Gestaltung den Blick auf die Tafeln brach. Zum Beispiel steht dort das Wort Friede in den Sprachen aller Beteiligten. Die Besucher*in entscheidet selbst, ob sie direkt oder indirekt auf die Tafeln schaut, indem sie die Glasscheiben entsprechend bewegt. Das Glas macht den Unterschied zwischen damals und heute transparent. Es wird mit der Tradition gebrochen, ohne das verstörende Erbe zu verleugnen. Zuhandenes wird vorhanden. Eine solche Geschichtskultur motiviert, sich mit Unrecht hier und heute auseinanderzusetzen. Das ist der eigentliche, entscheidende Schritt. Ohne ihn bleibt die Auseinandersetzung mit den verstörenden Überresten kontraproduktiv, denn sie bleibt eine Ersatzhandlung. /jvn

contra

Historische Ereignisse wie auch Denkmäler und Erzählungen sind Gegenstand vielfältiger und miteinander streitender Interpretationen, die von der Position des Subjekts, sozialen und politischen Kontexten, der Gestaltung des umgebenden Raums usw. abhängen. Unser sozialer Standpunkt bestimmt, wie wir ein Denkmal betrachten, sowohl intellektuell – welche Bedeutung schreiben wir ihm zu? Wofür steht es unserer Meinung nach? – als auch emotional – Welche emotionalen und körperlichen Reaktionen löst das Denkmal in uns aus? Diese Tatsache ist das eigentliche Problem, wenn es darum geht, potenziell störende Denkmäler und andere öffentliche Darstellungen der Geschichte als Bildungsangebote oder »Lernorte« zu betrachten.

In der Yale University wurde auf einer Glaswand John C. Calhoun (nach dem das College damals benannt wurde) mit einem gefesselten Schwarzen dargestellt, der zu seinen Füßen kniet, während eine kleinere Tafel zwei Schwarze zeigte, die lächelnd Baumwolle pflückten. In einem exklusiven Restaurant im Tate Museum in London begleitete Rex Whistlers Wandbild The Expedition in Pursuit of Rare Meats die Gäste mit Bildern gefesselter schwarzer Kinder und karikierter chinesischer Schriftzeichen. In Bariloche, Argentinien, müssen indigene Völker, die vor dem Regierungsgebäude demonstrieren, dies neben einem Denkmal für Julio Roca tun, der die Expedition zur Vernichtung ihrer Vorfahren und zur »Eroberung der Wüste« im späten 19. Jahrhundert. Kann unsere Gesellschaft legitimerweise von historisch unterdrückten Gruppen erwarten, dass sie ihr Leben neben solchen Darstellungen weiterführen, damit wir alle »niemals vergessen«?

Wenn bestimmte Denkmäler angefochten werden, dann deshalb, weil die Formen der Gewalt, die sie darstellen, immer noch Teil der Gegenwart und ihrer strukturellen Ungleichheiten sind. Gruppen, die durch diese Ungleichheiten an den Rand gedrängt werden, brauchen kein Denkmal, um sich an sie zu erinnern: Ihr Leben, einschließlich ihres Widerstands, ist auf diesen Unterdrückungsmatrizen aufgebaut. Wenn wir hingegen an »Lernorte« denken, die sich an jene Gruppe richten, die von solchen Ungleichheiten profitieren, gibt es eine Reihe von Problemen zu bedenken. Bei diesen Ansätzen stehen nach wie vor privilegierte Gruppen im Mittelpunkt, während die Auswirkungen, die solche Darstellungen für die übrigen Menschen haben können, außer Acht gelassen werden. Als eine Form von Mikroaggression im öffentlichen Raum wirkt sich die öffentliche Darstellung historischer Unterdrückung auf die Emotionen, die Selbstwahrnehmung und sogar die körperliche Gesundheit der Menschen aus, die von dem generationenübergreifenden Trauma betroffen sind, für das diese Denkmäler stehen. Diese Prozesse sind für privilegierte und oft auch für marginalisierte Menschen meist nicht wahrnehmbar, selbst wenn sie von den Folgen betroffen sind. Doch ob bewusst oder unbewusst, während einige Menschen lernen, zahlen andere den Preis für diese Lektion. Nicht nur, weil kein Denkmal an sich unbedingt etwas »lehrt« (Denkmäler sind weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung, um etwas über die Vergangenheit zu lernen), sondern auch, weil aktive Ignoranz eine fest verankerte epistemische und emotionale Praxis ist. Sie wird durch eine Vielzahl von Widerstandsmechanismen geschützt, die uns helfen, unsere privilegierte Position im Verborgenen zu halten. Daher ist die emotionale Arbeit, die damit verbunden ist, die Unterdrückter zu »belehren«, oder in diesem Fall dem Andenken an Täter*innen ausgesetzt zu sein, sehr wahrscheinlich nutzlos. Darüber hinaus sind Denkmäler und andere Darstellungen im öffentlichen Raum Gegenstand vielfältiger, oft sich widersprechender Interpretationen. Jede Politik, die sich mit ihnen befasst, muss berücksichtigen, dass die Bedeutung, die wir einem Denkmal beim Errichten, Beibehalten oder Eingreifen beimessen, möglicherweise nicht diejenige ist, die von anderen aufgegriffen wird, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft. Ein Denkmal für die Urheber eines Völkermordes mag für die einen eine Erinnerung an vergangene Grausamkeiten sein, für andere ist es ein Objekt der Freude oder der Nostalgie (für wieder andere ist es vielleicht kaum mehr als ein Hinweis auf eine Bushaltestelle). Wenn wir ein Denkmal mit dem Ziel aufstellen, bestimmte Botschaften zu vermitteln (z. B. »lasst uns nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft so brutal war, dass wir dies feiern«), dann verstehen wir vielleicht nicht, wie Repräsentationen im öffentlichen Raum funktionieren.

Interventionen wie die der reformierten Süstergemeinde Bielefelds sind interessante Experimente, wie wir uns zu einigen umstrittenen Denkmälern verhalten können, die wir nicht abreißen wollen oder können. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der künstlerische Wert, den sie besitzen, als wichtiger angesehen wird als ihre beleidigenden Implikationen (eine Bewertung, die sich mit der Zeit ändern kann). Aber wer entscheidet, ob die Gründe für die Beibehaltung (trotz Intervention) stärker sind als die Gründe für einen Abriss? Werden die von Traumata und Ungleichheiten betroffenen Gruppen konsultiert? Stellen wir ihnen die symbolischen und materiellen Ressourcen zur Verfügung, damit sie ihre eigenen (kulturellen, künstlerischen, politischen) Projekte in und um diese Orte diskutieren und umsetzen können? Oder reproduzieren wir einmal mehr die Trennung zwischen »uns« und »ihnen«, die viele zu der Überzeugung gebracht hat, dass diese Ereignisse es überhaupt wert sind, dass man ihrer gedenkt?

Die stille Entfernung eines geschändeten Denkmals wird oft als Mittel zum »Schlussstrich« benutzt, um das Problem in der Vergangenheit zu isolieren und jede Verantwortung in der Gegenwart zu leugnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Nachdenken über vergangenes Unrecht und dessen Zusammenhang mit der Gegenwart zwangsläufig den Erhalt alter Denkmäler als Erinnerung erfordert. Bei historischen Ereignissen, die eher einem westeuropäischen und/oder weißen Empfinden entsprechen, wie dem Holocaust oder den jüngsten Militärregimen in Lateinamerika, scheint die Aufrechterhaltung eines Denkmals sogar unvorstellbar. In diesen Fällen wurden Denkmäler und Straßennamen entfernt und oft durch Gedenkstätten oder Mahnmale ersetzt. Dies geschah nicht, um »ein neues Kapitel aufzuschlagen«, sondern als Teil eines umfassenderen Engagements für Veränderungen, einschließlich der Bildungspolitik, der Wiedergutmachung, der Inklusionspolitik und der Finanzierung von Forschung. Wir haben andere Wege gefunden, diese Verpflichtung zum Ausdruck zu bringen und der Vergangenheit zu gedenken, ohne dass die Überlebenden oder ihre Nachkommen immer wieder mit der materiellen Darstellung der Gewalt konfrontiert werden, unter der sie leiden. /mp