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Nr. 1 / 2022
Ein Foto von dem Kröpckeplatz in der Innenstadt Hannover, im Vordergrund rechts eine Uhr, im Hintergrund zwei große Gebäude
Philosophie am Kröpcke

Glauben Sie an die Wissenschaft?

Philosophie – eine Wissenschaft im Elfenbeinturm? Weit gefehlt! Das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover macht es sich für jede neue Ausgabe des Journals zur Aufgabe, herauszufinden, was die Menschen auf der Straße von den philosophischen Fragen halten, die im Institut erforscht werden. Pünktlich vor Redaktionsschluss führen wir dementsprechend eine streng wissenschaftlich kontrollierte Studie durch: Wir schreiten zum Kröpcke, der Agora Hannovers, und stellen allen Passant*innen, die uns über den Weg laufen, dieselbe Frage – jedenfalls normalerweise. In Zeiten der Pandemie haben wir den Marktplatz kurzerhand virtualisiert und Menschen im digitalen Raum auf ein kurzes Gespräch angehalten. Auf den Spuren des Sokrates, aber bar jeder Ironie.

Spätestens die Klimakrise und jüngst die Corona-Krise haben die Wissenschaften in den Fokus gesellschaftlicher Debatten gerückt. Angesichts dieser Krisen scheinen Gesellschaften auf hochspezialisiertes Wissen und dessen Vermittlung angewiesen zu sein. Welche Rolle geben wir der Wissenschaft dabei? Welche Fragen kann sie überhaupt beantworten? Welche Erwartungen und Hoffnungen tragen wir an sie als Problemlösungsinstanz heran? Und welches Vertrauen haben wir gegenüber wissenschaftlichen Institutionen und Expert*innen. Gerade dort, wo die Entstehung wissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr vollständig und kritisch von uns nachvollzogen werden kann. Bleibt dann nur der Glaube an die Wissenschaft? Und um was für einen Glauben handelt es sich dabei?*

* Alle Namen sind frei erfunden.

 

weiter denken: Glauben Sie an die Wissenschaft?

Tamara: Ja.

weiter denken: Sie scheinen sich sehr sicher zu sein.

Tamara: Die haben ja schon einiges herausgefunden. Ganz egal, zum Beispiel mit dem Impfstoff und so.

weiter denken: Heißt das, der Erfolg gibt ihnen Recht?

Tamara: Ja. Ohne die Wissenschaft gäbe es ja vieles nicht, nicht nur Impfstoffe, auch dass wir zum Mond fliegen können.

 

Lasha: Ja und Nein. Glaube ich der Wissenschaft und vertraue ich auf wissenschaftliche Arbeiten und Überzeugungen? Ja, denn die Wissenschaft bringt eben Aussagen hervor, die alles abdecken. Zum Beispiel: Warum verhalten wir uns, wie wir uns verhalten? Wieso brauchen wir Nahrung? Eben diese Fragen des Lebens. Danke Wissenschaft.

Aber glaube ich an die Wissenschaft als Weltanschauung? Nein, die Wissenschaft ist für sich so vielfältig, dass sie mehr Disziplinen abdeckt, als dass ich an sie Glauben kann wie an eine Weltanschauung. Die Wissenschaft findet sich in diversen Disziplinen wieder, die jeweils für sich stehen und mit anderen kooperieren. Das sollte, für mein Verständnis, für ein freies Denken und Handeln sorgen. Hier liegt mein Vertrauen auf die Wissenschaft. Woran glaube ich? Ich glaube an etwas Namens Gott, eine Person namens Jesus Christus und an den heiligen Geist.

weiter denken: Was heißt dann »Glauben«?

Lasha: Glaube als Begriff des religiösen Glaubens. »Glaube« kann sprachlich auch anderweitig benutzt werden. Ich glaube, dass der Himmel blau, die gescheite Bierflasche braun und ein Spiegel hellgrün ist. Ich glaube auch, dass der FC Bayern München wieder mal deutscher Meister sein wird. Ich glaube, dass die Spritpreise weiter explodieren. Und ich glaube, dass wir bald ziemlich doll mit der Erderwärmung zu kämpfen haben. Glaube ist für mich ein Begriff des Vertrauens, der Vermutung und der eigenen Meinung.

weiter denken: Wenn Glauben auch das Vertrauen auf die Wissenschaft bedeuten kann, was bedeutet dann Wissen? Und wie unterscheidet es sich von Glauben?

Lasha: Also nach meinem Empfinden benötigt man Vertrauen um zu glauben. Also liegt kein Vertrauen vor, so glaube ich ja nicht. Die Bedeutung von Wissen, naja, es gibt dieses Sprichwort »Wissen ist Macht« — darüber könnte man anderweitig diskutieren — aber ich empfinde es so. Wissen ist Macht und Glauben ist Hoffnung. Weil einen der Glaube auffängt. Deswegen Hoffnung.

weiter denken: Kann Wissenschaft also auch eine Quelle von Hoffnung sein, obwohl sie uns häufig vor Katastrophen warnen will, wie beim Klimawandel zum Beispiel?

Lasha: Ja. Also man könnte auch zum Beispiel sehr Sci-Fi-gestützt argumentieren und wir stellen uns vor, wir müssen diesen Planeten irgendwann verlassen. Dann suchen wir auf anderen Planeten nach Quellen für Wasser und Sauerstoff. Die Wissenschaft hofft hier auf der Suche nach Ergebnissen. Also ja, auch Wissenschaft kann Quelle von Hoffnung sein, jedoch ist dann zu fragen, ob für jedermann die Wissenschaft als Glaubensträger zählen kann. Was also Atheisten für die Theologie sind, wird also auch in der Wissenschaft aufkommen und dann fängt es an, kritisch zu werden. Was wir ja auch bereits sehen. Querdenker, »die Erde ist eine Scheibe«, »Echsenmenschen existieren«, Xavier Naidoo und co. würden hier dazu zählen.

weiter denken: Kann man Querdenker mit Atheisten vergleichen? Könnte man das nicht umdrehen und fragen: Steckt darin nicht eigentlich genau der Unterschied zwischen der Wissenschaft und dem, was einige bloß glauben: dass die Erde eine Scheibe ist? Oder dass sie von Gott geschaffen wurde?

Lasha: Nein, schlechtes Beispiel. Atheisten halte ich für zu vernünftig und argumentativ, um darüber eine Entscheidung zu treffen, Querdenker sind einfach hirnlos.

Also ein Glaube wird ja immer weiterhin ein Glaube sein, etwas Sprachliches und ein anderes Wort für Vertrauen und Hoffnung. Der Glaube an sich, also ein religiöser Glaube, hat zwar auch was mit Vertrauen und Hoffnung zu tun, steht aber in einem anderen Kontext. Der Wissenschaft Glauben schenken? Ja, definitiv. Dem Glauben Glauben schenken? Muss jeder für sich selbst entscheiden. Der Wissenschaft mit Vertrauen und Hoffnung begegnen? Ja, weil die Wissenschaft eine theoretische und praktische Hand über uns legt. Dem Glauben mit Vertrauen und Hoffnung begegnen? Muss jeder für sich selbst entscheiden und sollte auf einer Ebene von Toleranz begegnet werden.

Vor jeder wissenschaftlichen Disziplin muss halt immer ein Funke Glauben existieren.  Irgendjemand glaubte ja erstmal etwas, bevor diese Person einen wissenschaftlichen Beweis runtergeschrieben hat: »Ich glaube man kann Körper und Konstrukte berechnen« — zack, bumm, Mathematik.

 

Dunya: Generell ja.

weiter denken: Generell?

Dunya: Eigentlich kann ich für mich sagen, dass ich schon an die Wissenschaft glaube, weil ich auch an Forschungsergebnisse glaube. Natürlich kann auch mal was widerlegt werden, in meinen Augen, wenn man neue Erkenntnisse hat, so.

weiter denken: Also kein blinder Glaube?

Dunya: Nein, kein blinder, also nicht einfach blindes Vertrauen. Ich muss es irgendwo nachvollziehen können. Und ich würde auch nicht ausschließen, wenn man heute etwas wirklich sicher »weiß«, in Anführungszeichen, kann es ja trotzdem sein, dass man sagt, in zwanzig Jahren, das kann man widerlegen, es war doch nicht so. Das kann ja natürlich auch passieren, das würde ich auch nicht abstreiten.

 

Anja: Ich würde mit einem einfachen »ja« antworten.

weiter denken: Ein einfaches »ja«? Was ist der Gedanke dahinter?

Anja: Ja, ich glaube an die Wissenschaft, weil ich an Logik glaube, sich damit alles erklären lässt und auch einen Sinn ergibt. Irgendwie so, mehr habe ich dazu jetzt tatsächlich nicht gedacht.

 

weiter denken: Glauben Sie an die Wissenschaft?

Jannik: Ja. Es wäre dumm, nicht an die Wissenschaft zu glauben. Es ist doch das einzige, was man nicht widerlegen kann. Daraus wird das, was wir wissen, gezogen. Der Rest ist Bauchgefühl, wenn irgendwelche Leute daran nicht glauben, wenn die ihr Bauchgefühl höher stellen als bewiesene Tatsachen. Also ja, ich glaube an die Wissenschaft.

 

Iryna: Kann man »glauben« als bedingungsloses Hinnehmen definieren? Dann definitiv nicht, schließlich ist Wissenschaftskritik meiner Meinung nach ein wichtiges Mittel. In den meisten Fällen akzeptiere ich wissenschaftlichen Konsens als Tatsache, aber mit der Option, dass diese Tatsache nur temporär ist und durch neue Erkenntnisse überholt werden kann. »Glauben« gibt dem ganzen gefühlt eine spirituelle Ebene, die ich eigentlich nicht in der Wissenschaft sehen möchte. Aber das sind nur meine spontanen Gedanken, ich habe mir diese Frage noch nie so wirklich gestellt.

weiter denken: Stören Sie sich vor allem an dem Begriff oder der Konnotation von »glauben«?

Iryna: Ich schätze eher an der Konnotation, vor allem, da dieser Satz häufig im Kontext der Ablehnung eines religiösen Glaubens genannt wird.

weiter denken: Also, dass »Glaube an die Wissenschaft« religiösen Glauben ersetzen soll?

Iryna: Lassen Sie mich kurz darüber nachdenken, wie ich das formuliere … In dem Kontext »Ich glaube nicht an Gott, ich glaube an die Wissenschaft« wird zumindest sprachlich impliziert, dass Wissenschaft ein Ersatz für einen religiösen Glauben ist. Das ist meiner Meinung nach aber falsch, da Wissenschaft und Religion zwei komplett unterschiedliche Dinge sind, die anstelle von Gegensätzlichkeit, wie es in dieser sprachlichen Konstruktion betrachtet werden kann, theoretisch wunderbar koexistieren können, ohne einander zu beeinträchtigen.

Religiöser Glaube ist höchst subjektiv, während sich Wissenschaft in höchstem Maße um Objektivität bemüht. Mich stört das Wort »glauben« in diesem Kontext sehr, weil dieser Satz im alltäglichen Usus meistens Bezug zum religiösen Glauben nimmt. Das Wort »glauben« kann nur schwer neutral eingesetzt werden. Dafür ist der religiöse Kontext zu präsent.

weiter denken: Ich glaube, da könnten Sie Recht haben!

Iryna: Das war die Ausnahme, die ich gerade nennen wollte!

weiter denken: Glaube im Sinne einer vagen Vermutung?

Iryna: Wenn ich mich nicht irre, ist der Unterschied, ob man lediglich das Verb »glauben« oder »glauben an« verwendet.

weiter denken: Ich glaube an die Rechtmäßigkeit Ihrer Aussage.

Iryna: Amen.

 

Die Gespräche führte Michael Meyer.