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Nr. 1 / 2020
pro&contra

Ist unsere Lebenswelt technisiert?

pro

In seinen Betrachtungen über Technik schrieb Ortega y Gasset vor knapp 100 Jahren davon, dass die technischen Errungenschaften dem Menschen selbst zur „Übernatur“ geworden sind. Ortega y Gasset warnt vor den Gefahren der Verbergung und der Verdunklung, die mit dieser vom Menschen geschaffenen Übernatur Technik für den Menschen Hand in Hand gehen, und er zieht Bilanzen. Eine Bilanz besteht darin, dass Ortega y Gasset auf eine verhängnisvolle Verwechslung aufmerksam macht. Das Technische, das vom Menschen Erschaffene, wird dem Menschen zum selbstgegebenen Nächsten, das ein Eigenleben entwickelt. Für Ortega y Gasset bedeutet dies: „daß ihm die Technik und ihre Bedingungen, zum Beispiel die ethischen, gar nicht mehr bewußt sind, und [er] wie der Primitive dazu übergehen [wird], in ihr nichts anderes zu erblicken als natürliche Gaben, die man von vorneherein hat“. Und ich möchte ergänzen, mit denen er, der Mensch, sich abzufinden hat, mit den ganzen Wechsel- und Rückwirkungen, die dies für den Menschen und seine Stellung in der Lebenswelt zu bedeuten hat. Rückblickend erscheinen Ortega y Gassets Zeilen wie eine prognostische Diagnose, die sich gegenwärtig vollends erfüllt. Technisches kommt in der gegenwärtigen Lebenswelt nicht einfach vor, die Technisierung hat die Lebenswelt so tief durchdrungen, dass diese selbst nur noch als technisierte Lebenswelt begriffen werden kann. Sie ist nicht nur eine zweite Natur, sie ist Übernatur, sie ist Lebenswelt. Vielleicht erscheint dies auf den ersten Blick als Fortschritt: Internet, Smartphone, intelligente Kleidung, virtual reality, Drohnen, der selbsttätige Rasenmäher, der Sexroboter – dies alles erleichtert das Leben, entlastet von körperlichen und leiblichen menschlichen Aufgaben und Tätigkeiten. Nahezu paradiesische Zustände verspricht die ubiquitous computing Lebenswelt, in der das menschliche Leben sich mit Hilfe artifizieller Systeme perfekt optimiert und organisiert vollzieht. Keine lästigen Tätigkeiten sind mehr von Menschenhand zu erledigen, die Widerständigkeiten des Lebens sind endlich bald vollends überwunden. Es ist nun jedoch auch kein Geheimnis, dass diese medien- und werbe­wirksamen Paradiesversprechungen einen Haken haben. Dass mein digitaler Zwilling im Internet, von dessen Recherchetätigkeiten her ich unendlich viele Angebote bekomme, die angeblich meine Interessen und (materiellen) Bedürfnisse widerspiegeln, nicht mit mir identisch ist und mich auf ein datenbasiertes Faktizitätsbild reduziert und/oder meine Privatsphäre außer Kraft gesetzt wird, sofern ich nicht auf Datensicherheit achte, ist nur ein Beispiel aus der langen Reihe an unangenehmen Nebenwirkungen der fortschreitenden Technisierung. Der Verlust des Arbeitsplatzes, die Überwachung, das Abhören, die Beschleunigungsspirale sind einige weitere. An Phänomenen, anhand deren man Vor- wie auch Nachteile der Technisierung der Lebenswelt beschreiben kann, mangelt es nicht. Die Technisierung betrifft den Menschen jedoch nicht nur äußerlich. Sie hat die menschliche Lebenswelt so tief durchdrungen, dass eine transformierte Lebenswelt gegeben ist, deren Rückgrat Technisches ist, und diese Transformation schlägt auf den Menschen, auf die menschliche Lebenswelt, selbst zurück. In seiner 2008 erschienenen Studie Invasive Technisierung. Technikphilosophie und Technikkritik schreibt Gernot Böhme: „Die Technik […] lässt die menschlichen Beziehungen und Interaktionen, für deren Vollzug man sich ihrer bedient, nicht einfach so […], sondern verändert sie strukturell.“ Und diese fundamentale Strukturveränderung meint, dass die althergebrachte Bedeutung von Lebenswelt durch die Technisierung fundamental getroffen wird. Mit der Wendung „Lebenswelt“ ist traditionell ein nicht in einem theoretischen Mensch-Welt-Verhältnis aufgehendes fundamentales Gefüge umschrieben, in dem die Rede von Mensch und Leben (mit der Gebürtigkeit und dem Tod), von Sinn, von Erkenntnis, von Erschließen, von Zeitlichkeit, von Befinden, von Handeln ihre Verortung findet; einem vorreflexiven immer gegebenen Gefüge, in dem die Leiblichkeit des Menschen als das „Vehikel des Zur-Welt-seins“ (Maurice Merleau-Ponty) als die primäre Zugangsweise des Erschließens und als relationales Medium, als Mitte, als Zwischen im Gefüge fungiert. Blickt man auf die gegenwärtigen sich immer flächendeckender vollziehenden Technisierungen, betreffen sie das Mark des Mensch-Welt-Verhältnisses und -Gefüges, sie transformieren die Lebenswelt fundamental. Erschlossen wird diese Lebenswelt primär durch mathematisierte, digitalisierte und algorithmenbasierte Zugangsweisen. Das theoretische wie praktische Weltverhältnis des Menschen ist immer mehr von Technischem bestimmt. Smart wearables geben die Maßstäbe für ein gutes Leben vor, indem die Körperfunktionen – wie Puls, Atem, Bewegungsabläufe – des Menschen kontrolliert werden – mit Angabe dessen, was körperlich zu tun sei, um die Optimierung zu perfektionieren. Die Bemühungen um eine technische Optimierbarkeit der menschlich eingeschränkten sinnlichen Wahrnehmung zeigen sich überall. Kurz gefasst: Der Horizont und die Grenzen der (ehemals) leiblich menschlichen Er­schlie­ßungsfunktionen und Bewältigungsmöglichkeiten werden technisch erweitert, technisch optimiert und technisch verändert, wodurch die Leiblichkeit schwindet.

Ortega y Gasset schrieb davon, dass die Technik dem Menschen zur Übernatur geworden ist. Auch er bestimmt Technik als Lebensform des Menschen, wie dies viele Autoren vor und nach ihm schon getan haben. Die Wendung „Übernatur“ zeigt aber eine Veränderung an, die Ortega y Gasset noch nicht deskriptiv im Blick hatte. In der technisierten Lebenswelt ist Technik, Technologie nicht mehr zu begreifen als eine Lebensform unter anderen, zwischen denen der Mensch wählen kann oder die er auch lassen kann. Die Wendung „technisierte Lebenswelt“ hat zum Ziel, dies zum Ausdruck zu bringen. In der technisierten Lebenswelt ist Technisches Übernatur, an deren Maß und Ziel sich der Mensch selbst anzupassen hat. Die gegenwärtigen Reflexionen über den unterlegenen Menschen, dessen (natürliche) Fähigkeiten mit den Errungenschaften des technischen Fortschritts nicht mithalten zu können scheinen, lassen sich der Deutung anschließen. Immer fraglicher wird die Bedeutung des Leibes in der technisierten Lebenswelt. In dieser wird die leibliche Dimension des Menschseins in ihren vermittelnden und relationalen Funktionsweisen des Denkens, Fühlens, Wollens, Hoffens und Erleidens u. a. im Sinne des traditionellen Lebensweltbegriffes reduziert auf eine optimierbare Körpergröße, eine Funktionalität unter anderen. In Anlehnung an eine Wendung Edmund Husserls lässt sich schließen: Die Technisierung macht technisierte Menschen(bilder). (nt)

 

 

 

contra

Ein TED-Talk aus dem Jahr 2016 beginnt mit dieser Behauptung des Vortragenden: „Everyday we as humans are integrating more and more with the technologies around us“ (Jordan N., Technology Is Reinventing Humanity). Die Voraussetzung dieses Ansatzes, der fast allen transhumanistischen Denkern gemeinsam ist, ist die Vorstellung einer ursprünglichen Trennung zwischen Mensch und Technik oder zwischen natürlichem (= vortechnischem) und technischem Menschen. Am Anfang gäbe es so was wie einen natürlichenMenschen, der dann allmählich seine Naturalität durch die kulturelle Entwicklung der Technik verliert. Für die Transhumanist*innen ist diese Entwicklung als durchaus positiv zu bewerten, d.h. als Enhancement (Verbesserung und Erweiterung) der menschlichen Natur. Gegen den transhumanistischen Optimismus erheben sich die Stimmen derjenigen, die üblicherweise in den Medien als Konservative gekennzeichnet werden und die die Menschheit vor der Gefahr einer Enthumanisierung des Menschen durch die Technik warnen. Dazwischen finden wir die gemäßigte Position derjenigen, die sagen, die Technik sei an sich neutral, d.h. weder gut noch böse, alles komme darauf an, wie wir sie benutzen. Die theoretische Grundvoraussetzung, die diese drei Standpunkte teilen, ist der Gegensatz zwischen einer unberührten bzw. vortechnischen Natur des Menschen einerseits und der künstlichen Überwindung dieser Natur durch die Technik und die Kultur andererseits: Die Technik gehört nicht zur Natur des Menschen und zur Lebenswelt, sondern ist an sich nichts anderes als ein äußerliches Mittel, das entweder den Menschen befreien oder ihn zerstören kann oder ihm zunächst wertfrei zur Verfügung steht, damit er entscheiden kann, wie und in welchem Umfang er sie verwenden will. Ich möchte zeigen, dass diese theoretische Annahme nicht so selbstverständlich ist, wie es scheint, und schlage dazu zunächst ein anderes Technikverständnis vor.

In ihrer Urform kann die Technik als vorreflexive Verwendung von Mitteln zur Erfüllung der Zwecke des Lebens und zur Verwirklichung des Grundinteresses eines Lebendigen aufgefasst werden. Wir können hier offen lassen, worin dieses Grundinteresse und die Lebenszwecke bestehen, ob sie etwa das bloße Überleben oder die Steigerung der Macht sind. Jedes Lebendige verwendet Mittel zur Erfüllung seiner Zwecke und zur Verwirklichung seines Grundinteresses. Wie können wir aber behaupten, dass jedes Lebendige Mittel verwendet? Vielleicht kann diese Behauptung – außer auf den Menschen – auf einige andere Tiere wie die Primaten zutreffen, die z.B. Stöckchen zum Fangen von Termiten nutzen. Aber ein Paramecium oder eine Amöbe? Welche Mittel verwenden sie? Meine These lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Mittelbegriff, der sich nicht auf den Werkzeugbegriff beschränken lässt, ist ein zentraler Begriff zum Verständnis nicht nur der Technik, sondern auch der Leiblichkeit als Leib-Körper-Einheit des Lebens; denn das Lebewesen ist nicht nur Leib, sondern zugleich Körper, und das technische Urmittel jedes Lebewesens ist eben der Eigenkörper. Um diese These richtig zu verstehen, kann man ein Paramecium beobachten, das etwa einen seiner Körperteile (die Wimpern) benutzt, um sich in der Flüssigkeit zu bewegen und frei umherzuschwimmen. Und beim Sich-Fortbewegen verwendet es nicht nur einige Körperteile, sondern eigentlich seinen ganzen Körper: Dadurch kann es sich einen Weg durch das Wasser oder andere Lebewesen bahnen, für sich Platz schaffen und somit Lebensraum gewinnen. Oder wir können uns das Schauspiel einer Amöbe ansehen, die mithilfe ihrer Scheinfüßchen die Form ihrer fast fluiden und gestaltbaren Körperlichkeit ändert, um mit dem ganzen Körper ein Paramecium einzuspannen, zu umfangen und einzuverleiben.

Wenn wir diese oder andere ähnliche Beispiele betrachten, können wir die Urform der Technik begreifen. Dazu ist zunächst die Struktur der bidirektionalen Anpassungsrelation zwischen Leib und Umwelt zu berücksichtigen: 1) Der Leib passt sich der Umwelt an und/oder 2) passt die Umwelt sich selbst an. Technik ist ursprünglich die Vermittlungs-Struktur, die die Anpassungsrelation charakterisiert, denn die Beziehung des Leibes zur Umwelt ist immer schon durch ein Mittel und die vorreflexive Mittelverwendung vermittelt. Wie aber die oben gemachten Beispiele zeigen, ist dieses Mittel zunächst kein äußerliches oder exosomatisches (ἔξω + σῶμα: außerhalb des Körpers) – wie ein Werkzeug –, sondern ein endosomatisches Mittel (ἔνδον + σῶμα: innerhalb des Körpers). Das endosomatische Mittel par excellence, das als technisches Urmittel des Leibes fungiert, ist wie gesagt der Körper. Leib ist nichts anderes als das Grundinteresse des Lebendigen, d.h. sein affektiver Gesichtspunkt auf die Welt. Um aber in der Umwelt tätig zu sein (Anpassungsrelation), muss sich der Leib externalisieren und in der Umwelt exponieren. Das geschieht dadurch, dass der Leib sich verdinglicht, d.h. sich zum Ding bzw. Körperding herabsetzt und sich selbst als Mittel seines Tuns verwendet. Die Leib-Umwelt-Relation, welche die Lebenswelt ausmacht, ist somit immer schon eine technische bzw. vermittelte Relation innerhalb eines Leib-Körper-Umwelt-Systems.

Vor diesem Hintergrund ist die Technisierung der Lebenswelt nicht als Übergang von einer vortechnischen in eine technische Welt zu interpretieren, sondern als Feedback (Rückwirkung) der Mittelverwendung auf den Leib (d.h. auf das leiblich-tätige Lebendige). Denn der Leib ist vom Leib-Körper-Umwelt-System untrennbar und alle Änderungen eines Teils des Systems oder des ganzen Systems schlagen auf den Leib zurück. Die Verwendung des Mittels bzw. des Eigenkörpers zur Umweltanpassung verändert also nicht nur die Umwelt, sondern zugleich auch das leiblich-tätige Lebendige, das das Mittel verwendet, und seinen Sinnhorizont, d.h. seine Lebenswelt. Diese ist somit ursprünglich technisch und die Technik tritt nicht erst mit dem Menschen in die Welt ein, sondern gehört zur Leib-Körper-Umwelt-Relation und zum Leben. Alle anderen fortentwickelten Formen der Technik (bewusste Weltgestaltung, Werkzeuggebrauch, Werkzeugherstellung usw.) wurzeln in dieser Urform. (eb)