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Nr. 1 / 2020
Blumenberg

Der Mensch und seine Wirklichkeiten. Hans Blumenberg über die Eigendynamik der Kultur

I) Wirklichkeiten in denen wir leben

Das Denken Hans Blumenbergs läuft schon in seinen umfänglichen ideengeschichtlichen Abhandlungen zur neuzeitlichen Philosophie (Blumenberg 1966; 1975) systematisch auf eine Anthropologie hinaus. Das war nicht immer offensichtlich. Zwar findet sich schon in Die Legitimität der Neuzeit dieser Satz: „Selbsterhaltung ist ein biologisches Merkmal, und insofern der Mensch als ein mangelhaft ausgerüstetes und angepasstes Lebewesen auf die Bühne der Welt getreten ist, bedurfte er von Anfang an der Hilfsmittel, Werkzeuge und technischen Verfahren zur Sicherung seiner elementaren Lebensbedürfnisse.“ (Blumenberg 1966, 151) Doch die Aufmerksamkeit der Leser war konsensuell und nicht von ungefähr auf andere Fragen fokussiert als auf die, ob der Autor hier ein mehr als beiläufiges Interesse an Begriff und Theorie des Menschen artikuliere. Eines der stärkeren unter den zahlreichen Indizien dafür ist die 1981 erschienene kleine Auswahl von zuvor verstreut – auch entlegen – veröffentlichten Texten unter dem Titel Wirklichkeiten in denen wir leben. Auffällig ist prima facie der Titel, der den Anschein erweckt, als hätte Blumenberg, der wohl doch erhaben ist über den Verdacht, mit der Sprache umzuspringen, sich hier einmal als Trendsetter des modischen Jargons betätigt. Es ist die Rede von Wirklichkeiten, die diesen Verdacht nährt. Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, steht uns der Trend der Zeit, dass der Sinn für den generativen Singular ebenso verlorengeht wie der für das Plusquamperfekt, in nahezu peinlicher Aufdringlichkeit vor Augen. Es fing vor ein paar Jahren damit an, dass die Fachbereiche der Universitäten Aufforderungen aus der Verwaltung bekamen, sie möchten ihre technischen Bedarfe anmelden, und es kulminiert gegenwärtig zum Beispiel darin, dass sich Menschen in Podiumsdiskussionen zusammensetzen, um über ihre Zukünfte zu spekulieren[1] – obwohl doch alle in derselben generalisierbaren Lage sind, nämlich: Bedarf und Zukunft zu haben. Aus dem generativen Singular, den die Grammatik unserer Sprache dafür vorsieht, kann zum Glück kein Einzelner herausfallen.

Bei dem Sprachkritiker Eike Christian Hirsch findet sich die folgende Beschwerde: „Fachleute setzen schon lange Materialien in einen Plural, den es vorher nicht gab: Stäube, Sande, Mehle, Quarze… Das scheint ein Vorbild geworden zu sein. Damit wir uns richtig verstehen: Früher war es anders. Da wurde der Singular im Deutschen vielfach empfohlen: Um einige Wendungen aufzuzählen: Alle hoben die Hand. Dieser Kummer brach uns beiden das Herz. Manche haben ihr Leben verloren. Alle drei bekamen einen roten Kopf. Sie schüttelten sich die Hand. Mehrere Blätter brachten das Bild auf der Titelseite. Heute stünde das wohl alles im Plural – ‚die Hände‘, ‚die Herzen‘, ‚die Köpfe‘ und ‚die Titelseiten‘. Schade. Auch heute würde der Singular reichen. […] Ein Politiker forderte, ‚die Genehmigung neuer Tagebaue genau zu prüfen‘. Man könnte ja auch sagen, jede Genehmigung eines neuen Tagebaus genau zu prüfen.“ (Hirsch 2019, 68f.)

Was also soll man davon halten, dass ein Denker wie Blumenberg schon früh von Wirklichkeiten spricht – obwohl es völlig außer Zweifel steht, dass er sich über den Charakter von „Wirklichkeit“ als Singulare tantum, als eines totalisierenden und insofern spekulativen Reflexionsbegriffs im Klaren war; auch dem Missverständnis, mit dem Plural müsse dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich die Wirklichkeit eben aus jeder subjektiven Perspektive als eine andere zeige, dürfte er kaum erlegen sein. Ihm war klar, dass aus demselben Grund, mit dem Ludwig Wittgenstein geltend machen konnte, dass es keine Privatsprache gibt, wir uns auch alle auf eine gemeinsame Realität beziehen, selbst wenn die Blickwinkel darauf divers und different sind. Es dürfte hier anders als in den ungezählten Beispielen, die sich heute tagtäglich in jeder Presseschau finden, kein Fall von ahnungsloser Begriffsstutzigkeit vorliegen – und nicht die Gefahr bestehen, dass die in der Vielfalt der Phänomene Einheit stiftende und generalisierende Funktion des Begriffs nicht mehr erkannt würde.

Mit seiner sprachlichen Entscheidung transportiert Blumenberg eine kulturphilosophische Einsicht von einiger Relevanz. Es gibt genau besehen zumindest eine Situation, die wir alle kennen (in dem Sinne kennen, dass wir in ihr leben), die es rechtfertigen kann, im methodischen Blick auf ihre Eigenart den Terminus „Wirklichkeit“ doch auch in den Plural zu setzen: die Kultur, Inbegriff der verfeinernden Gestaltung alles dessen, was wir bloß vorfinden und daraus erst unsere, die menschliche Welt bauen. Kultur begreift auch Blumenberg – wie die großen Protagonisten der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert – als das Generalmedium des produktiven menschlichen Wirkens und humanen Selbstverständnisses, als das vielgestaltige System der menschlichen Weltbeziehungen mit seiner inneren Systemvielfalt und – entscheidend für die Pointe der Pluralisierung von „Wirklichkeit“: der Eigendynamik seiner Sphären. Tatsächlich bezieht sich der Titel Wirklichkeiten in denen wir leben auf die Kultur als System von spannungsreich interagierenden und dabei synergetischen Sphären, die als Subsysteme funktionieren – und als solche zwar alle das Ihre beitragen zu dem Ganzen der Wirklichkeit, dessen Element sie sind, dabei aber auch ihre Eigendynamik entwickeln und sich gegeneinander verselbständigen. In einer berühmt gewordenen Reflexion heißt es bei Blumenberg: „Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämiierung der Umwege. […] Die Umwege sind es aber, die der Kultur die Funktion der Humanisierung des Lebens geben. Die vermeintliche ‚Lebenskunst‘ der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei.“ (Blumenberg 1987, 137) Dass er am Menschenwerk in allen seinen Dimensionen metaphorisch den Charakter des Umwegs herausstreicht, ist nur auf den ersten Blick verblüffend; tatsächlich kann man als ein gemeinsames Merkmal alles produktiv Hervorgebrachten den Charakter der Gestaltung und damit der Verfeinerung des vorgefundenen Rohstoffs festhalten – und im Vergleich zur naturbelassenen Realität daran die Umwegigkeit als Komplikation in der Handlungsintention, als umständliche Vermittlungsleistung betonen, auf die sich jeder einlässt, der zu der vergleichsweise aufwändigen Investition von produktiver Energie bereit ist, anstatt die Dinge und Verhältnisse so zu belassen, wie wir sie vorfinden. Wieviel Aufwand etwa kostet es doch in jeder Phase (für den Produzenten wie den Verbraucher), an ein Glas zu kommen und es zu benutzen, anstatt direkt aus der hohlen Hand zu trinken. Und solcher Aufwand, den man eben auch in der Metapher des Umwegs fassen kann, kann sich jederzeit verselbständigen zu einer Lebenssphäre mit eigenen Insiderregeln (Welches Glas zu welcher Gelegenheit? Wo hat man ein Glas anzufassen, wenn man nicht gegen die Konventionen des unendlich steigerungsfähigen menschlichen Feingefühls verstoßen will? u. ä. m.)

Blumenberg bezieht sich von Anfang an auf hochgradig komplexe Fälle verselbständigter „Insiderregeln“; in der Einleitung des Bandes spricht er mit Blick auf solche Verselbständigung, solche Eigendynamik kultureller Sphären von den „autonom gewordenen Regionen von Wissenschaft und Künsten, Technik, Wirtschaft und Politik, Bildungssystem und Glaubensinstitutionen“ (Blumenberg 1981, 4; H. v. m., B.R.). Die kulturellen Sphären, denen sich exemplarisch die hier versammelten Aufsätze widmen, sind die Technik, die Kunst und die Sprache. Die Technik, an der er einer Einsicht Edmund Husserls folgend betont, dass sie von sich aus die Tendenz zur Verselbständigung hat. Technik ist kein Gerätereservoir oder Maschinenpark, sondern, so Blumenberg: „phänomenal ein Reich von Mechanismen“ (Blumenberg 1981, 50) – genauer solcher Mechanismen, die die Menschen instrumentell, als Methode zur praktischen Problembewältigung einsetzen. Und diese Methoden haben, kaum sind sie in einem Problemkontext entwickelt, die Tendenz, sich gegen diesen zu verselbständigen und sich gleichsam weitere Anwendungsgebiete zu suchen. Die Verselbständigungstendenz gehört somit zum Charakter der Technik als solcher. Technik ist verselbständigte Methode zur instrumentellen Problembewältigung im Handeln. Der Aufsatz über „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Technologie“, dessen früheste Fassung als Vortrag in das Jahr 1959 datiert, rundet dabei Blumenbergs zwischen 1946 und 1957 datierende Beiträge zu Begriff und Theorie der Technik ab, denen sich die Gravitation seines Denkens auf eine philosophische Anthropologie am deutlichsten entnehmen lässt. (siehe Blumenberg 2015; vgl. Recki 2011; 2013) Schon 1953 formuliert Blumenberg den Satz: „Der Mensch verdankt sich wesentlich sich selbst, er ist ‚autotechnisch‘; – er ‚hat‘ nicht nur Arbeit, er ‚ist‘ auch Arbeit.“ (Blumenberg 2015, 49) In der Beschreibung des Menschen (siehe unten Abschnitt II) wird es heißen: „Der Mensch ist ein werkzeuggeschaffenes Wesen“ (Blumenberg 2006, 588).

Auch im Bereich der Kunst vollzieht sich die Bewegung zur Autonomie, die Blumenberg systematisch beschäftigt. Als eine Sphäre der Schöpfung eigenen Rechts setzt Blumenberg sie gemäß dem Selbstverständnis bereits des neuzeitlichen Künstlers gegen den Anspruch ab, die Kunst hätte Nachahmung der gegebenen Natur zu sein. Im Rekurs auf die Differenzierung zwischen natura naturata und natura naturans expliziert er die Pointe, die darin liegt, dass diese Künstler auch der schaffenden, schöpferischen Natur wie einem Vorbild nacheifern wollen. In der Auseinandersetzung mit dem Löffelschnitzer, den Nikolaus von Kues in De mente zu Wort kommen lässt, stößt Blumenberg auch hier wiederum auf die Technik und kann, indem er das schöpferische Selbstverständnis der modernen Kunstschaffenden am Fall des selbstbewussten neuzeitlichen Handwerkers prägnant werden lässt, die synergetische Spannung zwischen Technik und Kunst exponieren. Und das Potential der Rhetorik, die er ihrerseits als „Technik der Rede“ (Blumenberg 1981, 106 u.ö.) nimmt, entfaltet er auf der Folie des Handlungszwanges, unter dem der Mensch steht (108-115), nicht als wesentlich ästhetisch bestimmte Gestaltung der Sprache, sondern vor allem als exemplarischen Fall der Ambivalenz im menschlichen Selbstverständnis zwischen einer Anthropologie des armen und einer Anthropologie des reichen Wesens Mensch (104 u.ö.): Zweifellos ist Rhetorik eines der Mittel im Kampf um Selbstbehauptung – aber zu welchem sprachlichen Überfluss, zu welchem Reichtum der metaphorischen Umwege bringen es doch Menschen in der Anstrengung, den Anderen durch suggestive Rede gefügig zu machen.

Die Aufsätze handeln jeder auf seine Art von kulturellen Sphären, in denen wir leben – und die ihre Entwicklungsdynamik zu einer je eigensinnigen Sphäre der Gestaltung entwickeln. Es verdient explizit gemacht zu werden, dass die von Blumenberg so genannten Regionen, die durch ihre Autonomie die Bedingung erfüllen für die Rede von den Wirklichkeiten in denen wir leben, nicht im Sinne einer ontologischen Bestimmung zu verstehen sind. Es geht nicht um vollständige Beschreibung aller möglichen Seinsbereiche, sondern um Einsicht in die Formen der geistigen Produktivität von Menschen. Die Wirklichkeiten in denen wir leben sind nicht Gegenstand der Ontologie, sondern der philosophischen Anthropologie. Und was Blumenberg mit seiner Pluralisierung der Wirklichkeit schon im Titel seines kleinen Aufsatzbandes bekanntgibt, ist die These, dass die Kultur in ihren der Verselbständigung fähigen Geltungssphären die humane Strategie gegen den Absolutismus der Wirklichkeit ist. Wo die absolute Macht gleichsam arbeitsteilig gebrochen ist, da kann sich menschliches Leben entfalten.

Es war keine willkürliche, beliebige Entscheidung, auch die Preisrede, die Blumenberg 1974 gehalten hatte, als ihm der Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg verliehen wurde und die er dem ersten Empfänger dieses Preises, dem Philosophen Ernst Cassirer gewidmet hat (1914), in diesen Band aufzunehmen. Denn Cassirer hat in seiner großen Philosophie der Kultur (1923; 1925; 1929) diese Autonomisierungstendenz ihrer Sphären als einer der ersten Denker herausgearbeitet. Und dass er einer der Kronzeugen bei der Konsolidierung des anthropologischen Interesses ist, das sich bei Hans Blumenberg im Laufe der Jahrzehnte mit zunehmender Deutlichkeit herausstellt, wird instantan erkennbar an der namenlosen Präsenz seiner Begriffsprägung in Beschreibung des Menschen: „Der Mensch als animal symbolicum ist ein auf Einsparung von Konfrontationen mit der Wirklichkeit […] angelegtes Wesen.“ (Blumenberg 2006, 614; vgl. Cassirer 1944/1991, 51 u.ö.).

 

II) Der Mensch ist möglich durch Distanz

Blumenbergs systematisches Denken und seine geistesgeschichtlichen Untersuchungen zur Situation der neuzeitlichen Philosophie zwischen Emanzipation von der mittelalterlichen Theologie und selbständiger Kultivierung der theoretischen Neugierde kongruieren in der Einsicht, dass es für den Menschen stets darum geht, sich gegen die Zumutungen einer im Zweifelsfall übermächtigen Wirklichkeit zu behaupten: den „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg 1979, 9 u.ö.) durch eigene (imaginäre oder intellektuelle) Aktivität zu brechen. Geprägt hat er diese Formel mit Blick auf den Mythos; doch die Einsicht, die er derart zuspitzt, darf als exemplarisch gelten. Blumenberg zufolge ist die poietische, gleichsam proto-kulturelle Aktivität des Erzählens von Mythen, in der Angstbewältigung, Welterklärung und Wunschdenkenzu einer produktiven Weise solcher Selbstbehauptung durch eigene geistige Aktivität zusammenwirken, als Hervorbringung von Bedeutung zugleich ein Akt des Widerstandes gegen eine übermächtige, bedrohliche Wirklichkeit. Der Mythos verdanke sich dem Umstand, „daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte.“ (Ebd.)

Das Buch Arbeit am Mythos (1979) untersucht auf dieser Folie den Prometheus-Mythos in seiner Rezeptionsgeschichte durch die Jahrhunderte. Im Fokus steht damit die große Antike und Moderne verbindende Stifterfigur eines humanen Selbstverständnisses, eines Selbstverständnisses des Menschen als produktives Kulturwesen, das sich seine eigenen Verhältnisse schafft. Dem Mythos zufolge sind die Menschen dazu nur in der Lage, weil der Titan Prometheus ihnen die Gabe des Feuers und damit die Voraussetzung für die technai, die Handwerks­künste gestiftet hat, mit denen der von Natur schlecht ausgestattete Mensch sein Überleben sichert und seine Lebensverhältnisse verbessert.

Aus derselben Zeit dieser exemplarischen Studie zum prometheischen Selbstverständnis des Menschen stammt das Werk, das erst 2006 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde: Der Beschreibung des Menschen kommt im Kaleidoskop der gelehrten Abhandlungen Blumenbergs die Funktion der (vorerst) ultimativen Umdrehung zu, durch welche die Mosaiksteinchen in die Konstellation springen, die das Muster klar und deutlich erkennen lässt. Das Buch bringt in mehr als einer Hinsicht retrospektive Klärungen. Nicht allein wird jetzt generell erkennbar, wie stark das systematische Interesse dieses zeitweilig als bloßer Historiker der Philosophie, ja: als Historist wahrgenommenen Autors war, es gibt auch sachliche und methodische Klärungen und einigen Prägnanzgewinn im Blick auf das Gesamtwerk. Vor allem eines macht Beschreibung des Menschen sichtbar: Was dieses vielseitige Programm gelehrter Forschung systematisch zusammengehalten hat, war immer schon die Frage nach der prekären Situation des Menschen zwischen Mangel und Überfluss, zwischen der Notwendigkeit der Selbstbehauptung unter widrigen Bedingungen und den Möglichkeiten der produktiven Selbststeigerung in den Wirklichkeiten, in denen es sich leben lässt.

Grundlegend für diese Anthropologie ist das Distanzmotiv, das Blumenberg zwar mit allen philosophischen Anthropologien des 20. Jahrhunderts (mit Scheler, Cassirer, Plessner, Gehlen, Jonas u.a.) teilt, dem er aber mit unerhörter phänomenologischer Konsequenz besonders eindringliche Geltung zu verschaffen weiß. In Beschreibung des Menschen ist ein Gedankengang entwickelt, der für alles, woran der Mensch hängt und was ihn ausmacht: seine Selbstbehauptung, Selbstbestimmung, Selbststeigerung, die Distanz als Bedingung des Gelingens betont. „Eine Antwort auf die Frage, wie der Mensch möglich sei, könnte daher lauten: durch Distanz.“ (Blumenberg 2006, 570). In der „Fähigkeit zur actio per distans als spezifisches Radikal des menschlichen Leistungskomplexes“ (575) sieht Blumenberg mit Paul Alsberg (Alsberg 1922) den Menschen – auch dies eine Dimension der Einsicht in die Notwendigkeit von „Umwegen“ – als wesentlich ausgezeichnet durch Distanzbedarf. Dessen Komplement ist die Angewiesenheit auf Medialität – die sich von der Nutzung und Erzeugung von Werkzeug und anderen instrumentellen Hilfsmitteln über die Fähigkeit zu Begriff und Theorie, bis hin zur Ausbildung von entlastenden Institutionen entfaltet – als Kultur.

„Eine Antwort auf die Frage, wie der Mensch möglich sei, könnte daher lauten: durch Distanz. Um in dieser Antwort die systematisch-funktionale Einheit in der Leistungsvielfalt der Menschen zu begreifen – und nichts anderes kann die Arbeit einer Philosophischen Anthropologie sein – wird es unumgänglich, die genetische Ausgangssituation des Menschen in einer radikalisierten Schematik deutlicher vorzustellen.“ (Blumenberg 2006, 570)

Nach der Einsicht, die Blumenberg in den Begriff der „Kryptogenese des Menschen“ fasst, ist mit dieser radikalisierten Schematik eine prägnante Erzählung gemeint, in der sich die Elemente der Menschwerdung anschaulich versammeln lassen. „Kryptogenese des Menschen“: Die Menschwerdung ist nicht an morphologischen Merkmalen wie etwa petrifizierten Fußspuren oder Knochenfunden abzulesen. Es muss stattdessen ein intelligibler, ein rekonstruierbarer Akt gewesen sein, durch den sich der Mensch als das herausgemacht hat, was ihn ausmacht. Diesen Akt soll eben jene radikalisierte Schematik erfassen, durch die es gelingen kann, die Menschwerdung zu begreifen. Blumenberg vermutet diese konstitutive Handlung (wiederum mit Paul Alsberg) in dem Steinwurf, zu dem sich der Mensch auf der Flucht vor einem Verfolger genötigt sah. Im unvordenklichen Akt der werkzeugbewehrten Selbstverteidigung macht dieses Lebewesen den entscheidenden Entwicklungssprung. (Blumenberg 2006, 581) Das Aufheben und Gebrauchen eines Wurfgeschosses darf mit Blumenberg deshalb als die Urszene der Menschwerdung gesehen werden, weil in seiner Funktion und Bedeutung alle Momente der dem Menschen spezifischen Situation signifikant zusammentreten: die Nötigung zur Selbstaufrichtung, der prekäre Gewinn von Sichtbarkeit, die Dramatisierung von Selbsterhaltung als Selbstbehauptung, die Notwendigkeit, Prävention als Leitmotiv eines fortan konstitutiven Krisenbewusstseins zu kultivieren, und die actio per distans, die im offensiven Einsatz eines instrumentellen Hilfsmittels vollzogen wird. Der Steinwurf wird dadurch zur Ursprungsmetapher in der Rekonstruktion der Menschwerdung: eine Aktionsmetapher. „Der Mensch ist mit einem Schlage, oder genauer: mit einem Wurfe entstanden“ (582), heißt es denn auch in Beschreibung des Menschen.

In der tragenden Einsicht, dass der Mensch für die Bewältigung seines Daseinsproblems bei schwacher Konstitution und unter per se widrigen Verhältnissen der Medialität des Agierens bedarf, erneuert und variiert Blumenberg die von Arnold Gehlen aufgebrachte Grundlegungsthese, dass der Mensch ein auf allen Ebenen der Konstitution von Wirklichkeit aufs Handeln angewiesenes Wesen ist: Und er differenziert sie um die Entfaltung der Implikation, dass dieses Handeln der Distanz bedarf – der instrumentellen Vermittlung, durch welche die Distanz methodisch abgesichert wird. Damit wird der bei Gehlen ganz unspezifisch handlungstheoretische Ansatz zu einem Ansatz beim instrumentellen Handeln. Es ist kein Zufall, sondern eine bewusste, auch narratologisch absichtsvolle Entscheidung, dass Blumenberg seine actio-per-distans-These durch das Präparat eines Aktes der Selbstbehauptung des „ersten“ Menschen zu illustrieren sucht: Im Aufheben und Werfen eines Steines zur Verteidigung gegen einen Verfolger, das ihm als die Urszene der Menschwerdung gilt und in deren Konstruktion sich gleich drei theoretische Intentionen mit einer Klappe schlagen lassen. Erstens wird durch diese Konstruktion das Hervorgehen des spezifisch Menschlichen aus der Nötigung zur Selbstbehauptung bekräftigt, zweitens wird für die Selbstaufrichtung in die Vertikalität, in welcher Blumenberg schon immer den durch die paläoanthropologische Forschung beigebrachten Ausgang der Menschheit gesehen hat, endlich ein intelligibles Motiv genannt (wodurch kam der Hominide zum aufrechten Gang?), und drittens wird die in allem menschlichen Agieren behauptete Mittelbarkeit (Medialität) am Fall elementarer Selbstbehauptung illustriert. Damit ist aber auch das Generalmotiv dieser Anthropologie angesagt: die behauptete Medialität setzt ein mit dem Werkzeuggebrauch, das Selbstbehauptungshandeln des Menschen ist instrumentelles Handeln. Der Mensch ist ein technisches Wesen.

Es ist das narrative Präparat des Steinwurfs, das schon die konstitutive Bedeutung der Technik für alle menschliche Kultur freigibt. Diese Nutzung des Steines als Waffe versteht Blumenberg als Nukleus für die Bestimmung des Menschen als Homo faber, da hier offenbar die erste denkbare Form von Werkzeugeinsatz vorgestellt ist. „Der Mensch ist ein werkzeuggeschaffenes Wesen“ (Blumenberg 2006, 588), auch diese Inversion des Diktums von Benjamin Franklin über das tool making animal (vgl. 515) ist eine freundliche Übernahme aus Paul Alsbergs Menschheitsrätsel. Man sieht, dass mit dem Ansatz dieser Anthropologie auch Blumenbergs früh entwickelter Sinn für die Technik sich seinen systematischen Kontext schafft – und dass für den AnthropologenBlumenberg unangefochten von allen Einteilungskonventionen – Homo sapiens und Homo faber kongruieren. Der Selbstdenker denkt nicht daran, sich auf vordergründige Alternativen einzulassen.

Die Frage, wie bei Blumenberg eigentlich das Verhältnis von theoretischer und praktischer (genauer: pragmatisch-praktischer) Rationalität, von theoretischer und praktischer Einstellung auf die Realität gedacht ist, scheint von hier aus indessen auf einen irritierend uneinheitlichen Befund zu führen. In der Perspektive der Anthropologie, die in der Beschreibung des Menschen Gestalt annimmt, ist mit einiger Entschiedenheit ein genealogischer Primat der instrumentellen Vernunft geltend gemacht, insofern der erste Werkzeuggebrauch als Waffeneinsatz, gedacht als der Steinwurf gegen den Verfolger, als Modell spezifisch menschlichen Agierens fungiert und von hier aus in einer Folge von Diversifizierungen und Sublimationen (eben im Ausbau der Distanz quasi als Generalmedium) sich der instrumentelle Charakter im Dienste der Daseinsbewältigung in allen weiteren menschlichen Aktionsmodi fortzeugt. Selbst noch der Begriffsgebrauch lässt sich auf dieser Folie als instrumentelles Handeln begreifen: auch im begrifflichen Denken geht es letztlich immer darum, ein Problem zu lösen.

Doch gab es nicht in Blumenbergs Werk starke Intuitionen, die dafür sprachen, dass er gerade das Genuine der theoretischen Einstellung betont? Für den genuinen Geltungsanspruch der theoretischen Einstellung hatte insbesondere der Schluss des Textes Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (Blumenberg 1979a) Partei genommen. Ganz unabhängig von dem Rahmen, in den Blumenberg seine kritischen Überlegungen hier stellt, wird deutlich, dass er Kant und seinen kongenialen Interpreten die methodische Entgrenzung des Handlungsbegriffs verwehren will. Es sind nicht alle Leistungen des Menschen als Handeln zu begreifen, befindet er hier mit Blick auf jene transzendentale Handlungstheorie, wonach schon der Verstand in der Konstitution von Gegenständlichkeit handle.

„Kant hat die Synthesis der transzendentalen Apperzeption als Verfahren des Verstandes, die Kategorien als dessen letztinstanzliche Regelung dargestellt. Darf das, mit Rücksicht auf den Handlungsbegriff der Theorie der praktischen Vernunft, schon oder noch ‚Handlung‘ genannt werden? […] Der Verstand ist nicht das Subjekt, welches sich in seinen Handlungen eines Verfahrens bedient, sondern er ist nichts anderes als der Inbegriff dieses geregelten Verfahrens. Nimmt man die sprachliche Sonderung des Verstandes von solchen ‚Handlungen‘ beim Wort, so wird die ganze Kritik der Vernunft, nicht nur die der praktischen (welche als solche natürlich auch theoretisch ist) praktisch. Wenn dann alles praktisch ist und nichts mehr theoretisch, sind zwar alle beruhigt, aber nicht belehrt.“ (Blumenberg 1979a, 93)

Wie man an dieser sarkastischen Kritik erkennt, insistiert Blumenberg auf dem genuinen Charakter von Erkennen, Denken, pauschal: theoretischer Einstellung.

Der Text Selbstverständlichkeit, Selbstaufrichtung, Selbstvergleich hingegen, ebenfalls aus der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, spricht eine andere Sprache. Dieser Text ist einschlägig für die Position der anthropologischen Bestimmung auch der theoretischen Vernunftleistungen durch pragmatisch-praktische Notwendigkeit und bestätigt derart die genealogische Tendenz in der Beschreibung des Menschen. Der Begriff wird als eine Funktion im unhintergehbaren Kontext der Selbstbehauptung gefasst. Die „Wurzel zur Fähigkeit des Begriffs“ ist die anfängliche Selbstaufrichtung des Menschen in die Vertikalität (Blumenberg 2010, 141): Wo der Mensch sich aufrichtet und damit den Horizont als den Inbegriff der Unsicherheit in den Blick bekommt, wird Beobachtung nötig und damit der Begriff erforderlich – zur Bewältigung des damit im Horizont erkennbar werdenden Unbekannten (142).

Es ist diese Situation, in der gleichursprünglich Reaktionsdruck und Distanz aufkommen, in der auch Mittelbarkeit entspringt. Das einzige im Text behandelte Mittel dieser Mittelbarkeit ist aber der Begriff: Er ist „Gegenstandsersatz“ (141) und „Möglichkeit der Hypothese“ (142).

Demnach wäre der Begriff nicht die Instanz einer rein theoretischen Einstellung. Bewältigungpräventive Konstitutionpräventive Einstellung, das sind die Begriffe, mit denen Blumenberg hier eine grundlegende Praktizität in die Konzeption menschlicher Bewusstseins- und Intelligenzleistungen hineinbringt. Prävention wird auch in der Beschreibung des Menschen eine entscheidende Struktur des menschlichen Daseins sein. Blumenberg dramatisiert sogar die im Dienst der Selbstbehauptung angelegte Begriffsfunktion durch die Rhetorik der Kriegsführung, so dass hier die stoische Sicht des Lebens, das vivere militare est, erneuert zu sein scheint. Der Angriff des Unbekannten an den Rändern der Lebenswelt muss nach seiner Konzeption zurückgeschlagen, seine Formation muss „zerschlagen“ werden. In der metaphorischen Stilisierung der begrifflichen Leistung von Erkenntnis als einen aggressiv strategischen Akt kulminiert der Gedanke der Selbstbehauptung gegen den Absolutismus der Wirklichkeit – und mit ihm eine Variante der pragmatistischen Auffassung der Erkenntnis.

Der Text, der so im Einklang mit der genealogischen Perspektive auf den Menschen Begriff und Erkenntnis scheinbar im Widerspruch zu dem konzipiert, was Blumenberg gegen die pragmatistische Tendenz der Kantischen Vernunftkritik angeführt hatte, enthält indessen auch schon den Fingerzeig auf die Auflösung des Anscheins einer Inkonsistenz in diesen zeitlich nah beieinander liegenden Vorstellungen der theoretischen Vernunftleistung. Denn tatsächlich fasst Blumenberg, wenn er schon am Anfang des Textes die „Aktionen der Bewältigung“ von der Namengebung bis zur Klassifizierung aufführt, die begriffliche Klassifizierung als methodische Verselbständigung der Begriffsfunktion. (Blumenberg 2010, 135) Und wo es um die Tendenz der Metapher zur Hypostasierung geht, dürfte auch ein Modell für die Hypostasierung und Eigendynamik der Begriffsleistung thematisch sein (140). Zu unterscheiden wäre demnach die genealogische Perspektive auf die menschlichen Erkenntnisleistungen von derjenigen auf die Eigendynamik und Autonomie, die sie im Prozess der Kultivierung entfaltet. Offensichtlich macht Blumenberg in den divergenten Perspektiven seiner Anthropologie auch die Differenz von Genese und Geltung geltend. Zu den Wirklichkeiten in denen wir leben, mit anderen Worten zu den „autonom gewordenen Regionen von Wissenschaft und Künsten, Technik, Wirtschaft und Politik, Bildungssystem und Glaubensinstitutionen“ (Blumenberg 1981, 4; H. v. m., B.R.) gehört, wie der Rückblick auf die Einleitung des gleichnamigen Aufsatzbandes zeigt, auch die Region methodischer Erkenntnis.

 

 

Literatur

Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung. Dresden 1922.

Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1966.

Ders.: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a. M. 1975.

Ders.: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979.

Ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1979a.

Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981.

Ders.: Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a. M. 1987.

Ders.: Beschreibung des Menschen. Frankfurt a. M. Berlin 2006.

Ders.: Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer. Frankfurt a. M. 2007.

Ders.: Theorie der Lebenswelt. Berlin 2010.

Ders.: Schriften zur Technik. Berlin 2015.

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923); Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925); Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (ECW): ECW 11-13, Hamburg 2001; 2002; 2002.

Ders.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg 1991 [engl. Original 1944].

Eike Christian Hirsch: Ist das Deutsch oder kann das weg? Schlimme Einfälle und schöne Reinfälle. München 2019.

Birgit Recki: „Auch eine Rehabilitierung der instrumentellen Vernunft: Hans Blumenberg über Technik und die kulturelle Natur des Menschen“, in: Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, hg. von Michael Moxter. Tübingen 2011, 39-61.

Dies.: „Technik und Moral bei Hans Blumenberg“, in: Hans Blumenberg beobachtet. Wissenschaft, Technik und Philosophie, hg. von Cornelius Borck. Freiburg 2013, 67-89.

Dies.: „Gegen die Absolutismen der Wirklichkeit. Hans Blumenberg in Münster“, in: MERKUR. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 792 (2015), 28-41.

Dies.: „Mein elftes Gebot. Du sollst Distanz wahren! Eine Kolumne“, in: Anders handeln. Ein Magazin von Andere Zeiten e.V., Ausgabe 1, 2017, 66.



[1] Die Entsprechung, die sich auch dazu erstaunlicherweise bei Blumenberg findet, gibt sich durch die eher verschrobene Pluralbildung zu erkennen als Ironie im Hinweis auf bereits historisch überholte historische Zukunftsvorstellungen: „Der Sinn für Geschichte ist zwar noch nicht Entschlossenheit für eine bestimmte Zukunft, aber es gibt überhaupt keine andere Sensibilisierung für eine Zukunft als die Einsicht in die Einzigkeit und Unwiederbringlichkeit des Vergangenen. Daß die Zukunft weder aus den Wachsfiguren der Vergangenheit noch aus den Imagines der utopischen Wünsche besteht, kann man nur an den Zukunften der Vergangenheit lernen, die schon unsere Vergangenheit ausmachen.“ (Blumenberg 1979, 113).