Bild der Startseite
Nr. 1 / 2020
Buchempfehlung

Jacques Rancière: Das Verfahren der Szene. Gespräche mit Adnen Jdey

Das Werk des französischen Philosophen Jacques Rancière, der zu einer der kanonischen Figuren der radikalen Demokratietheorie geadelt wurde und als einer der innovativsten Denker auf dem Feld der Ästhetik gilt, ist seit mindestens zehn Jahren auch für das deutschsprachige Publikum in seiner Breite erschlossen. Dementsprechend finden sich unter den jüngeren Übersetzungen zunehmend kleine Schriften, die eher ergänzend und sortierend auf das Œuvre des Philosophen schauen. Das Verfahren der Szene (frz. La méthode de la scène, 2018) bildet hier keine Ausnahme. Die Gespräche, die der tunesische Philosoph Adnen Jdey mit Rancière führt, sortieren sich in sechs Kapiteln locker um die verschiedenen Stationen seines Denkens, ohne dabei einer festen Systematik zu folgen. Es sind die – als bekannt vorausgesetzten – Schlüsselwerke wie La Nuit des prolé­taires. Archives du rêve ouvrier (dt. Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums, 2013), La Mésentente: Politique et philosophie (dt. Das Unvernehmen, 2002)und das jüngere Aisthesis. Scènes du régime esthétique de l'art (dt. Aisthesis. Vierzehn Szenen, 2013),anhand denen Jdey fragend das Denken Rancières abklopft. Dieser nutzt die Gelegenheit, zentrale Motive seines Denkens zu konturieren und möglichen Missverständnissen entgegenzuwirken, was durchaus erhellend ist, gerade dann, wenn es Rancière gelingt, einen Gedanken auf eine Formel zu verdichten. Mitunter zerfranst sich allerdings ein Gedanke in Bezügen und terminologischen Wendungen, die auch von Jdey nicht eingeholt werden. Doch obschon die entwickelten Gedankenstränge nicht immer verbunden werden, deckt das Gespräch thematisch – obgleich kursorisch – weite Teile des Schaffens Ran­cières ab.

Entgegen dem Titel handelt es sich also keineswegs nur um eine Abhandlung über die „Szene“ als Verfahren, obzwar die Paradigmen des Dramatischen und des Theatralen den Einstieg und Bezugspunkt für verschiedenste Probleme bilden. Durch die Hinwendung zur Szene entzieht sich Rancière einer ganzen Tradition, der gemäß es in der Philosophie in erster Linie um Begriffsbestimmungen geht. Zwar hält Rancière an der Diskursivität der Philosophie fest, stellt sie aber, wenn man so will, auf die Bühne. Die Spannung und Unschärfe, die in Begriffen steckt, ist für ihn kein defizitärer Zustand, der durch Analyse und Deduktion überwunden werden müsste, sondern selber Ausdruck einer konstitutiven Polemik, die Ranciére letztlich auf das Feld des Politischen führt. Besonders deutlich wird dies an dem Begriff der Sprache, der in der Philosophie als Bedingung des Politischen gesetzt wird. Einer politischen Philosophie könne es nicht darum gehen, den Menschen als sprechendes Tier zu verstehen, sondern zu fragen, inwiefern durch solche Definitionen der politische Raum bereits absteckt wird – nämlich in sprechende und stumme Wesen. Rancière sieht nun gerade in den antagonistischen Auseinandersetzungen und Verschiebungen um solche Konzepte den Einsatz der Philosophie. Insofern sich also Dramaturgie und Begriff die „Hand reichen“ (8), wie es in der Einleitung heißt, gälte es, die Konfliktlinien von Distinktion und Exklusion zu inszenieren. Durch diese Inszenierungen erst könnten Ungleichheit und Exklusion sichtbar gemacht und verschoben werden.

Das Paradigma der Szenen impliziere allerdings keine zweigeteilte Sphäre, einerseits der von Subjekten umkämpfte Erscheinungsraum auf der Bühne, andererseits die subjekt-konstitutive Realität oder Struktur hinter der Bühne. Die Inszenierungen seien gerade nicht Mittel für etwas, das hinter dem Schein liege, sie seien keine Abbildung, sondern Herstellung von Realität. Damit steht Rancière in gewisser Opposition zu Subjekt-Theorien, in denen Subjektivität primär als Effekt diskursiver Strukturen (mit Foucault: Dispositiv) gedacht wird. Rancière, der, wie er selber bekundet, keine Subjekt-Theorie im engeren Sinne verfolgt, möchte politische Subjektivität demgegenüber als etwas deuten, das „auf der Bühne“ und durch Begegnung überhaupt erst entstehen könne. Es bedürfe also nicht einer Bühne, damit in Szenen eine eigentliche Wahrheit erscheinen könne. Diese nach Rancière „marxistische“ Raumaufteilung führe letztlich nur zu einer Hierarchisierung zwischen Wissenden und Unwissenden. Vielmehr treten immer nur verschiedenen Erscheinungswelten auf und gegeneinander an.

Konsequent erklärt sich daraus, dass Emanzipation keine Frage des Wissens sein könne. Und darin zeigt sich Rancières Kritik an Althusser und Bourdieu. Ersterer identifiziere die Funktionsweise von Herrschaft vor allem mit der Verbergung der Herrschaft, kurz: Ideologie. Dass Menschen nicht wissen, dass sie beherrscht werden, sei gerade die Bedingung von Herrschaft. Und auch Bourdieu begeht in Rancières Augen den Fehler, dass er allein die Erklärung der Wirkweisen von Macht mit der politischen Praxis selber verwechsele und dadurch gerade die Hierarchie zwischen den Wissenden und den Unwissenden verstärke. Im Resultat würden beide Annahmen zu einer fast schon platonischen Arbeitsteilung im Politischen führen, die für Rancière nicht haltbar ist. Durch den Rückgriff auf das dramaturgische Paradigma unterläuft Rancière einen schlichten Gegensatz von Wort und Tat, der je nach philosophischer Tradition in die eine oder andere Richtung gewendet werden kann. Mal seien die Arbeiter*innen Subjekt der Revolution, insofern sie als Träger*innen einer stummen Praxis erklärt werden, mal seien sie die geistlosen und verblendeten Subjekte, die von dem theoretischen Rüstzeug der kritischen Soziologie und Philosophie abhängig sind. Dagegen hält der Jacotot-Schüler Rancière die Gleichheit für die Bedingung, nicht Ziel einer jeden Politik.

An dieser Stelle liegt der Vorwurf nahe, dass sich Rancières Politikbegriff in einzelnen disruptiven Ereignissen erschöpft und berechtigterweise gefragt werden muss, was nach dem Spektakel bleibt. So sehr zwar das Moment der Unterbrechung von Bedeutung ist, gehe jede Inszenierung einher mit der Aufdeckung anderer Wahrnehmungsweisen, einer veränderten Aufteilung des Sinnlichen. Dies erfolge nicht als momenthaftes Aufblitzen, sondern schreibe sich als Möglichkeit in die Wahrnehmung ein. Dabei grenzt sich Rancière allerdings von der Kantischen Ideen des Geschichtszeichens ab, denn die Szenen seien nicht historische Ereignisse, die, wie die Französische Revolution, als Orientierungspunkt aus der Vergangenheit in die aktuelle Lage strahlen und auf eine generelle politische Entwicklung verweisen würden – ein kritischer Seitenhieb auf Lyotard, der in dem letzten Kapitel von Le Différende gerade mit Kants Geschichtszeichen vorsichtig die Möglichkeit einer negativistischen Geschichtsphilosophie abtastet.

Rancière ist ein Denker der Konkretion, das wird auch in dem vorliegenden Werk deutlich. Seine Philosophie vollzieht sich im Modus der Fallstudien, die in Szene gesetzt werden, ohne dadurch den Anspruch zu erheben, tiefer liegende Strukturen freizulegen, sondern die jeweilige Verschiebung als Gleichheitspotential offenzuhalten. Dabei stoßen die Lesenden auf bereits bekannte Beispiele, wie der Sezession der Plebejer auf dem Berg Aventin, bei der sich die Stimmlosen das Gehör der Patrizier verschaffen wollen. Oder aber die Szene, in welcher der Schreiner Louis-Gabriel Gauny darüber zu schreiben beginnt, dass er keine Zeit zum Schreiben hat. Just in diesem paradoxen Moment werde er quasi zum plebejischen Philosophen, der den ihm zugewiesenen Platz nicht einhalte und damit die etablierte Ordnung durcheinanderbringe. Es ist sein schweifender Blick aus dem Fenster, der zur zweckfreien Beobachtung wird und damit den ästhetischen Blick als Ausdruck bürgerlicher Distinktion unterläuft. Seine Emanzipation vollzieht sich als Praxis, die sein Milieu eigentlich verunmöglicht.

Genau diese Verschiebung fand Rancière bekanntermaßen nicht nur bei seinen Recherchen in den Arbeiterarchiven, sondern auch bei seinen Streifzügen durch die Kunstgeschichte, allen voran in der Ausbildung der modernen Kunst und dem „ästhetischen Regime“, wie Rancière es nennt. Entgegen der gängigen Kanonisierung modifiziert er die Erzählung der Moderne und der Avantgarde allerdings. Sie ist in seinen Augen keine skandalöse Revolution der Formen, die sich an Werken wie Manets Olympia, Malewitschs schwarzen Quadraten oder Duchamps Fountain kristallisiere, sondern die Erneuerung und vertiefte Befragung des Zusammenhangs zwischen Kunst und Leben. Das Potential der Kunst liege damit in der Bearbeitung des stets umkämpften Erscheinungsraums selbst.

Rancières philosophische Inszenierung dieser gegenstrebigen Subjektivierungen, die auf die Gleichheit als Nahtstelle des Politischen verweisen, fragen dabei immer nach der Möglichkeit neuer Aufteilungen und dadurch nach geteilten Welten. Auch dies betont er: Jede Wortergreifung braucht immer das Gespräch. Es geht nicht nur darum, Wörter anders zu verwenden, sondern diesen neuen Gebrauch in einem – wie radikal auch immer geführten – Dialog zu erproben.

Es ist das Fehlen solch einer Schärfe, was schließlich die Schwäche des Buches erkennen lässt. Bei aller Vertrautheit, die zwischen den Gesprächspartnern herrscht, hätte man sich an der einen oder anderen Stelle durchaus mehr kritische Nachfragen und Einwände statt einvernehmlicher Bekräftigung gewünscht. Somit finden die Lesenden letztlich ein Buch, das gerade für jene, die mit Rancières Arbeit vertraut sind und die Fülle an kunsthistorischen Anspielungen zu deuten wissen, neue Verbindungen und ergänzende Perspektiven aufzeigt.

 

 

Jacques Rancière:Das Verfahren der Szene. Gespräche mit Adnen Jdey
Aus dem Französischen von Thomas Laugstien
Diaphanes, Zürich 2019.
ISBN: 978-3-03580-187-3