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Nr. 2 / 2023
Wurzeln
Vielfalt und Kompromisse

Politische Parteien und die Moral der Kompromisse

 

Kompromisse sind in der Politik alltäglich – am augenfälligsten, wenn mehrere politische Parteien sich in einer Regierungskoalition zusammentun. Wie sind solche Kompromisse zu bewerten? In diesem kurzen Beitrag möchte ich skizzieren, wie sich die Moral der Kompromisse zwischen politischen Parteien für mich darstellt. Um sie zu verstehen, scheint mir wichtig, sich zunächst über die Natur der politischen Moral insgesamt klar zu werden. Ich beginne deswegen mit der Darstellung eines „naiven“ Bilds politischer Moral, das uns dann in einem zweiten Schritt besser verstehen lassen wird, was die Moral der Kompromisse zwischen politischen Parteien ausmacht.

 

Das naive Bild politischer Moral

Unter politischer Moral kann man zunächst einmal die Gesamtheit aller moralischen Prinzipien, Rechte, Pflichten und Werte verstehen, die für politisches Handeln relevant sind. Ein umfassendes Bild der politischen Moral beschreibt außerdem die relevanten begründungstheoretischen Zusammenhänge sowie die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Institutionen und Maßnahmen, die der politischen Moral gerecht werden würden.

Natürlich ist die politische Moral nicht nur von theoretischem Interesse, sondern auch von praktischer Relevanz. Damit sie praktische Relevanz haben kann, muss man nicht glauben, dass die Welt irgendwann vollständig die im Lichte politischer Moral idealen Institutionen und Maßnahmen umsetzen wird. Die politische Moral kann schlicht als Folie zur Beurteilung der politischen Wirklichkeit verwendet werden, und als Zielvorstellung, der wir uns zumindest anzunähern versuchen sollten.

Aus der Perspektive eines naiven Bilds politischer Moral ist die Existenz politischer Parteien mit einander widerstreitenden Visionen politischer Moral bedauernswert, da eine wirkliche Annäherung an die korrekte Vision politischer Moral nicht zu erwarten ist, solange es signifikante Uneinigkeit darüber gibt, worin diese Vision besteht. Liberale, konservative und sozialistische politische Parteien und ihre Visionen politischer Moral können schließlich nicht gleichermaßen richtig liegen. In einer idealen Welt, so das naive Bild politischer Moral, herrschte weitgehend Einigkeit über politische Moral.

In der Tat kann man John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ von 1971 – das wohl einflussreichste Werk der politischen Philosophie im 20. Jahrhundert – lesen, ohne irgendetwas über politische Parteien zu erfahren. Stattdessen wird eine komplexe Theorie idealer Gerechtigkeit entwickelt, und eine „wohlgeordnete Gesellschaft“, so Rawls, würde sich durch Einigkeit über diese Theorie der Gerechtigkeit auszeichnen. (Fairerweise sollte ich betonen, dass Rawls seit den 1980er Jahren und in seinem Buch „Politischer Liberalismus“ von 1993 ein anderes Bild von der Aufgabe politischer Philosophie zeichnet).

In Jean-Jacques Rousseaus „Vom Gesellschaftsvertrag“, einem Klassiker der politischen Philosophie von 1762, werden politische Parteien sogar explizit abgelehnt. Nach Rousseau wird eine freiheitliche Gesellschaft vom „Gemeinwillen“ regiert, den die Bürger in direktdemokratischen Versammlungen finden sollen, und wenn sie richtig informiert und motiviert sind, sind einstimmige Abstimmungsergebnisse zu erwarten. In einer solchen Gesellschaft sind politische Parteien nach Rousseau fehl am Platz, da sie nur Partikularinteressen repräsentieren können.

 

Parteien und Kompromisse aus Perspektive des naiven Bilds politischer Moral

Aus Perspektive des naiven Bilds politischer Moral haben politische Parteien bestenfalls in nicht-idealer Theoriebildung einen Platz. In den bedauernswerten Umständen, in denen Uneinigkeit über politische Moral besteht, können Parteien für die Organisation demokratischer Willensbildung nützlich sein: Sie dienen der Rekrutierung politischen Personals, sie erleichtern die Strukturierung demokratischer Wahlen, und sie ermöglichen das Regieren mit stabilen Mehrheiten. Aber, um es zu wiederholen, sie haben diese nützliche Funktion nur vor dem Hintergrund einer Uneinigkeit über politische Moral, die es in einer idealen Welt nicht gäbe.

Wie sind politische Kompromisse – etwa zwischen den an einer Regierungskoalition beteiligten Parteien – aus der Perspektive des naiven Bilds politischer Moral zu bewerten? Das kommt darauf an. Die Frage, ob eine bestimmte Partei die Kompromisse machen sollte, die für eine Regierungsbildung nötig sind, wird unterschiedlich zu beantworten sein, je nach dem, um welche Partei es sich handelt. Nehmen wir an, dass es in der Regierungskoalition eine politische Partei gibt, die der korrekten Vision politischer Moral hinreichend nahekommt – ob dies die SPD, die Grünen oder die FDP ist, möge die Leserin/der Leser entscheiden –. während die anderen Parteien falsch liegen. Aus Perspektive des naiven Bilds politischer Moral wäre es falsch zu sagen, dass letztere die für eine Regierungskoalitionnötigen Kompromisse machen sollten; sie sollten diese Kompromisse vielmehr unnötig machen, indem sie ihre Auffassungen ändern und sich der richtig liegenden Partei anschließen. Das ist eine vielleicht merkwürdig anmutende moralische These, aber sie ist, soweit ich sehe, im naiven Bild politischer Moral impliziert.

Nur diejenige politische Partei, die der korrekten Auffassung politischer Moral zumindest nahekommt, sollte möglicherweise die für eine Regierungskoalition notwendigen Kompromisse machen (wenn die anderen Parteien nicht das tun, was sie eigentlich tun sollten, nämlich ihre Auffassungen ändern und diese Kompromisse unnötig machen). Sie sollte diese Kompromisse machen, wenn die Gesellschaft dadurch der korrekten Vision politischer Moral näherkommt als wenn sie diese Kompromisse verweigert. Insofern die Alternative darin besteht, dass sich eine Regierungskoalition ohne die mehr oder weniger richtig liegende Partei bildet, kann dies durchaus plausiblerweise der Fall sein. Aber es muss nicht der Fall sein. Wenn die Regierungskoalition „faule“ Kompromisse beinhalten würde, die letztlich mehr schaden als nützen, oder wenn sie die Integrität der Partei in einer Weise unterminieren, die ihre Handlungsfähigkeit in der Zukunft gefährden, dann spricht für diese Partei vieles dafür, lieber in die Opposition zu gehen. Doch dazu später mehr.

 

Legitime Meinungsverschiedenheiten über politische Moral

Was ist falsch an dem naiven Bild politischer Moral, das ich gerade skizziert (oder karikiert) habe? Es ist nicht die Annahme, dass es so etwas wie eine korrekte Theorie politischer Moral gibt. Wenn immer wir politisch diskutieren, setzen wir voraus, dass es eine korrekte oder zumindest besser begründete Position gibt, und es ist, meines Erachtens, in der Tat Aufgabe der politischen Philosophie, Visionen politischer Moral zu prüfen, argumentativ zu untermauern, Einwände zu formulieren und zu entkräften, sprich, Fortschritt zu machen in unserem Verständnis politischer Moral. Falsch ist meines Erachtens auch nicht die Annahme, dass die politische Moral den Maßstab bilden sollte für die Bewertung der Realität, oder dass sie eine Zielvorstellung für uns darstellen kann.

Das Problem ist vielmehr, dass das bislang skizzierte Bild politischer Moral unvollständig ist. Es ist unvollständig, insofern es vernünftige Meinungsverschiedenheiten über politische Moral gibt (um das Vokabular des späteren Rawls zu übernehmen). In einer komplexen Welt, die von freien Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Erfahrungen und kulturellen Prägungen bewohnt wird, ist auch eine Vielfalt von plausiblen und verständlichen Visionen politischer Moral zu erwarten. Dies ist als unvermeidlich und legitim anzuerkennen, nicht als etwas, das in einer idealen Welt überwunden wäre. Die politische Moral kann deswegen nicht nur Werte und Prinzipien „erster Ordnung“ enthalten – also Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit –, sondern muss auch Werte und Prinzipien „zweiter Ordnung“ enthalten, die unter den Umständen legitimer Meinungsverschiedenheiten über Werte und Prinzipien erster Ordnung ins Spiel kommen. Ich spreche im Folgenden von einem entsprechend „erweiterten Bild“ politischer Moral.

 

Parteien und Kompromisse aus Perspektive eines erweiterten Bildes politischer Moral

Aus Perspektive dieses erweiterten Bildes politischer Moral sind politische Parteien mehr als nur eine nützliche Institution vor dem Hintergrund andauernder Uneinigkeit über politische Moral: Vielmehr kann eine Vielzahl politischer Parteien als legitim angesehen werden, und legitime Parteien dürfen legitimerweise ihre je eigene Vision politischer Moral vertreten und weiterentwickeln, auch wenn letztlich nur eine Partei richtig liegen kann.

Man gewinnt mit diesem erweiterten Bild politischer Moral auch eine andere Perspektive auf Kompromisse. Zunächst einmal kann die oben geschilderte Merkwürdigkeit vermieden werden, wonach nur diejenige Partei, die der korrekten Vision politischer Moral nahe kommt, manchmal Kompromisse machen sollte, während alle anderen Parteien schlicht ihre Meinung ändern und damit Kompromisse unnötig machen sollten. Wenn man sich die erweiterte Auffassung politischer Moral zu eigen macht, dann kann man vielmehr von allen legitimen Parteien sagen, dass sie manchmal Kompromisse machen sollten, da alle legitimen Parteien ihre eigene Vision politischer Moral legitimerweise vertreten und nicht aufgeben müssen.

In diesem erweiterten Bild haben politische Parteien außerdem nicht nur pragmatische Gründe, Kompromisse zu machen, wenn und insofern dies die Gesellschaft ihrer je eigenen Vision politischer Moral näherbringt. Wenn man die Legitimität einer Vielzahl politischer Parteien anerkennt, dann können Kompromisse darüber hinaus manchmal als intrinsisch wünschenswert gelten, zumindest wenn sie zwischen politischen Parteien stattfinden, die als legitim gelten können. Wenn Kompromisse intrinsisch wünschenswert sind, dann haben die Vertreter politischer Parteien guten Grund, einen Kompromiss zu machen, auch wenn dies nicht pragmatisch notwendig ist. Das ist eine These, die aus Perspektive des naiven Bilds politischer Moral undenkbar wäre.

 

Demokratische Selbstbestimmung und öffentliche Rechtfertigbarkeit

Doch warum genau können Kompromisse intrinsisch wünschenswert sein? Grundannahme ist, dass wenn eine Vielzahl politischer Parteien legitim ist, auch eine Vielzahl politischer Parteien Respekt verdient. Im Folgenden skizziere ich zwei Argumentationslinien, die von der Annahme, dass verschiedene politische Parteien – und ihre politischen Visionen – Respekt verdienen, zu der These führen, dass Kompromisse manchmal intrinsisch wünschenswert sind. Die eine appelliert an den Wert demokratischer Selbstbestimmung, die andere an den Wert öffentlicher Rechtfertigbarkeit. 

Die erste Argumentationslinie wurde von Christian Rostbøll ausbuchstabiert. Demokratie ist demnach nicht als die Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit zu verstehen. Das Ideal demokratischer Selbstbestimmung besteht vielmehr darin, dass die Positionen aller legitimen Parteien ihren Ausdruck im Regierungshandeln finden sollten, so dass alle Bürger als „co-ruler“ begriffen werden können. Kompromisse können aus dieser Perspektive als Mittel der Inklusion von Minderheiten und somit als Mittel zum Erreichen demokratischer Selbstbestimmung begriffen werden. Dieses Ideal demokratischer Selbstbestimmung ist ein Ideal zweiter Ordnung: Es wird relevant, wenn und weil es Meinungsverschiedenheiten über die politische Moral erster Ordnung gibt.

Ein Problem dieser Argumentationslinie ist jedoch meines Erachtens, dass Kompromisse zwischen Regierungsparteien nur bedingt zum Erreichen dieses Ideals demokratischer Selbstbestimmung beitragen. Wenn SPD, Grüne und FDP zusammen regieren, finden typischerweise die Positionen der anderen Parteien eben nicht Eingang in das Regierungshandeln. Nur das schweizerische Modell der Konkordanzdemokratie kommt der skizzierten Idee demokratischer Selbstbestimmung vielleicht einigermaßen nahe. Ein zweites Problem jedoch besteht darin, dass eine Opposition, die nicht in das Regierungshandeln eingebunden ist, eine wünschenswerte und gesunde Institution zur Kontrolle der Regierung und zur Entwicklung von Alternativen zum Regierungshandeln zu sein scheint. Dazu kommt, drittens, dass die Gefahr inkohärenter Kuddelmuddel-Kompromisse steigt, je mehr Standpunkte in das Regierungshandeln einzubinden versucht werden. In anderen Worten: Das Ideal demokratischer Selbstbestimmung ist vielleicht weniger überzeugend, als es zunächst erscheinen mag, zumindest in der vorliegenden Interpretation.

Eine alternative Argumentationslinie dafür, dass Kompromisse zwischen legitimen politischen Parteien manchmal intrinsisch wünschenswert sind, beginnt ebenfalls mit dem Gedanken, dass legitime Parteien Respekt verdienen. Dieser Respekt bedingt, so weiter, dass Gesetze allen legitimen Parteien gegenüber rechtfertigbar sein müssen. Eine Rechtfertigung gegenüber jemandem ist zu unterscheiden von einer Rechtfertigung, die auf korrekten Annahmen basiert. Eine Rechtfertigung gegenüber jemandem nimmt ihren Ausgangpunkt vielmehr in Annahmen, die diese Person akzeptiert. Wenn ein Gesetz allen legitimen Parteien gegenüber rechtfertigbar ist, ist es öffentlich rechtfertigbar. Man kann die Idee öffentlicher Rechtfertigbarkeit auf verschiedene Weisen interpretieren und ausbuchstabieren. In manchen Interpretationen wird sie relativ zahm sein, und eine große Menge von Gesetzesvorschlägen als öffentlich rechtfertigbar klassifizieren, in anderen Interpretationen wird sie dagegen viele Gesetze als nicht öffentlich rechtfertigbar ausschließen. Ich lasse das hier offen. Um die Grundidee zu verstehen, kann man sich jedenfalls vorstellen, dass alle legitimen Parteien eine Art moralisches Veto gegenüber Gesetzesvorschlägen haben, die zu inkompatibel mit ihren je eigenen Auffassungen politischer Moral sind. Das Vermeiden von Gesetzen, die einem solchen moralischen Veto unterliegen würden, entspricht dem Ideal öffentlicher Rechtfertigbarkeit. Wie das Ideal demokratischer Selbstbestimmung ist es ein Ideal zweiter Ordnung: Es kommt ins Spiel und wird relevant, wenn und insofern es Meinungsverschiedenheiten über Werte und Prinzipien erster Ordnung gibt.

Um die öffentliche Rechtfertigbarkeit von Gesetzen zu erreichen, muss eine politische Partei manchmal von dem, was sie im Lichte ihrer Überzeugungen erster Ordnung für die richtige politische Position hält, abweichen. Dies gilt, auch wenn sie recht hat, was die politische Moral erster Ordnung angeht. Im erweiterten Bild politischer Moral zählen eben nicht nur Werte erster Ordnung, sondern auch Werte zweiter Ordnung, die vom Umgang mit Uneinigkeit über Werte erster Ordnung handeln. Im Lichte dieser Werte zweiter Ordnung kann es aus diesem Grund intrinsisch wünschenswert sein, einen Kompromiss mit einer anderen Partei zu machen.

 

Aber können Kompromisse Pflicht sein?

Politische Parteien haben also meines Erachtens in der demokratischen Politik in der Tat manchmal gute Gründe, Kompromisse zu machen: Kompromisse können erstens aus Perspektive einer Partei pragmatisch nützlich sein, um die Gesellschaft ihrer legitimen Vision politischer Moral näher zu bringen, und sie können zweitens auch intrinsisch wünschenswert sein (selbst wenn sie nicht pragmatisch notwendig sind). Aber dass es manchmal gute Gründe gibt, Kompromisse zu machen, heißt natürlich noch nicht, dass es auch moralisch verpflichtend ist, sie zu machen, so dass man einer Partei moralische Vorwürfe machen kann, wenn sie sie verweigert.

Am augenfälligsten und bedeutendsten in parlamentarischen Demokratien sind die Kompromisse, die durch die Beteiligung an einer Regierungskoalition nötig werden. Nach den Bundestagswahlen 2017 verhandelten Vertreter der Union, der Grünen und der FDP über die Formierung einer sogenannten Jamaika-Koalition. Christian Lindner ließ diese Verhandlungen schließlich platzen und verweigerte damit die für eine Regierungskoalition nötigen Kompromisse. In weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit war die Empörung über diese Entscheidung groß. Präsident Steinmeier mahnte die beteiligten Parteien – und insbesondere die FDP –, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, und er warnte vor der Instabilität, die Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung bedeuten könnten.

Steinmeier hat Recht, dass Parteien ihrer Funktion gerecht werden sollten, stabile Regierungsmehrheiten zu ermöglichen. Und in dem Fall, dass keine alternative stabile Regierungskoalition möglich ist, scheint es deswegen tatsächlich moralisch falsch, wenn eine Partei die für eine solche Koalition notwendigen Kompromisse verweigert. Mir scheint allerdings, dass dies im Fall der FDP 2017 nicht der Fall war. Denn es gab eine Alternative. Zwar hatte die SPD vorab signalisiert, dass sie sich in der Opposition erneuern wolle, aber Worte sind in der Politik bekanntlich kurzlebig, und so war es letztlich vielleicht nicht allzu überraschend, dass sie nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen letztlich doch zu einer Großen Koalition bereit war. Auch eine Minderheitsregierung und Neuwahlen sind womöglich weniger gefährlich, als die deutsche Öffentlichkeit zu denken scheint. Andere Länder haben mehr Erfahrung mit Minderheitsregierungen und Neuwahlen, ohne dass ihre Demokratie gefährdet wäre, und Belgien war 2010/2011 für einen längeren Zeitraum sogar ganz ohne Regierung.

Was ist für den Fall zu sagen, dass zwar keine tiefgreifende Instabilität des politischen Systems droht, eine Partei aber doch pragmatische Gründe hat, die für eine Regierungskoalition notwendigen Kompromisse zu machen? Meines Erachtens ist dies nicht hinreichend, um eine moralische Pflicht zu begründen, diese Kompromisse einzugehen. Es ist ein legitimes Anliegen politischer Parteien, ihre Integrität wahren zu wollen, und sie handeln deswegen moralisch legitim, wenn sie Kompromisse verweigern, die ihrer Einschätzung nach ihre Integrität bedrohen. Wenn eine Partei nicht genug Gemeinsamkeiten mit anderen Parteien findet und fürchtet, in einer Koalition auf eine Art und Weise regieren zu müssen, die sie alles in allem nicht richtig findet, dann ist verständlich, dass sie sich an einer solchen Koalition nicht beteiligen will. Im Fall der Jamaika-Verhandlungen war dies nach Christian Lindner der Fall, was er mit seiner oft zitierten Bemerkung fasste, dass es besser sei, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.

Wie steht es um das Ideal öffentlicher Rechtfertigbarkeit, das ich im vorherigen Abschnitt eingeführt habe? Wenn es intrinsisch wünschenswert ist, einen Kompromiss zu machen, wird es dann nicht auch moralisch falsch sein, einen solchen Kompromiss zu verweigern? Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, welches Gewicht man dem Ideal öffentlicher Rechtfertigbarkeit zuschreibt. Und insbesondere dann, wenn es eine eher spekulative Frage ist, ob und inwieweit das Beteiligen an einer Regierungskoalition tendenziell zu mehr oder weniger öffentlich rechtfertigbaren Gesetzen führen wird, wird das Gewicht dieser Erwägung wohl eher gering sein. Dazu kommt, dass man sich auch aus der Opposition heraus für öffentlich rechtfertigbare Gesetze einsetzen kann. Auch wenn politische Parteien also oft gute pragmatische Gründe haben, Kompromisse zu machen, und auch wenn es manchmal sogar intrinsisch wünschenswert ist, Kompromisse zu machen, so sind sie doch selten in der moralischen Pflicht, Kompromisse zu machen.

 

 

Literaturverzeichnis:

Rawls, John (1971/1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.

Rawls, John (1993/2003): Politischer Liberalismus. Frankfurt a.M.

Rostbøll, Christian (2017): »Democratic Respect and Compromise.« In: Critical Review of International Social and Political Philosophy 20, S. 619–635.

Rousseau, Jean-Jacques (1762/2001): Vom Gesellschaftsvertrag. Berlin.

Wendt, Fabian (2016): Compromise, Peace and Public Justification: Political Morality beyond Justice, London.

Wendt, Fabian (2023): »May Political Parties Refuse to Govern? On Integrity, Compromise and Responsibility.« In: Critical Review of International Social and Political Philosophy 26(3)(im Erscheinen).