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Nr. 2 / 2023
Wurzeln
Vielfalt und Kompromisse

Auf nichts gestellt und doch tragfähig. Kompromiss und Meinungsbildung

 

Werden ‚Meinung‘ und ‚Kompromiss‘ zum Thema, gerät man auf schwieriges Terrain. Meinungen erscheinen als zu vage, um damit etwas anfangen zu können, Kompromisse werden als zu unverbindlich wahrgenommen, um sich darauf zu verlassen. Es scheint sich um flüchtige Phänomene zu handeln, die keine Sicherheit erlauben, die immer wieder in Frage gestellt und von Dritten nicht anerkannt werden, so dass ihre Verlässlichkeit prekär bleibt.

Wittgenstein beschrieb einmal die Funktion des Meinens und der Meinung als »Gelegenheitsarbeiter« (Wittgenstein 2010, 74; vgl. Bermes 2022, 19-33.) in den unterschiedlichsten Sprachspielen. Meinen und Meinung sind sozusagen nicht fest angestellt, quasi vertraglich an ein Sprachspiel gebunden und mit einer klaren Aufgabe in den Praktiken unserer Sprache betraut. Und doch, so Wittgensteins Hinweis, kommt solchen Gelegenheitsarbeitern eine gewichtige Aufgabe zu. Sie halten den Betrieb am Laufen und sorgen dafür, dass es weitergeht. Von Kompromissen wird man ähnliches sagen können. Auch Kompromisse sorgen dafür, dass das Geschäft oder die Maschinerie, wenn man ein solches Bild nutzen möchte, nicht ins Stocken geraten. Das Suchen bzw. Eingehen von Kompromissen ist eine Tätigkeit, die ‚bei Gelegenheit‘ eine Rolle spielt. Sie ist nicht festgelegt auf bestimmte Ordnungen wie etwa das Feld des Politischen, der Wirtschaft, der Öffentlichkeit, der Moral oder anderes. Auf Meinung und Kompromiss trifft man in den unterschiedlichsten Kontexten, unter den verschiedensten Umständen und unter den wechselhaftesten Bedingungen.[1]

Aufgrund ihrer konstitutiven Ungebundenheit geraten solche Gelegenheitsarbeiter, die in der menschlichen Lebenswelt aktiv sind und diese auch in Gang halten, unter Verdacht. Es umgibt sie die Aura des Zufälligen und des Unsicheren. Solche Unwägbarkeiten lassen den Hinweis plausibel erscheinen, dass man sich doch besser mit anderem beschäftigen solle, etwa mit ‚Wissen‘ oder ‚Verträgen‘, die Klarheit und Sicherheit in Aussicht stellen. Erst mit diesen beiden, so ließe sich vermuten, befinde man sich nicht mehr – um das Wittgensteinsche Bild weiter auszuführen – bei den Gelegenheitsarbeitern, sondern im Milieu der Angestellten in Organisationen, die durch ihre Regelwerke Halt und Sicherheit versprechen. Mit Wissen und Verträgen erst eröffne sich ein rational erschließbares Terrain, das nach klaren Gesetzen beschrieben werden könne, so dass die bloßen Provisorien der Meinung und des Kompromisses beiseite geräumt oder gar überwunden werden könnten. Und wenn selbst das nicht möglich sei, dann müsse man doch wenigstens angeben können, welches die exakten Kriterien für ‚richtige Meinungen‘ seien oder aber die unverrückbaren Maßstäbe für ‚gute Kompromisse‘.

Abgesehen davon, dass man auch in den Fällen des Wissens und der Verträge auf neue, keineswegs triviale Unsicherheiten stößt, da auch hier Revisionsoptionen, Aussetzungen und Unsicherheiten im Spiel bleiben, steht letztlich die Frage im Raum: Wozu sich mit den Petitessen der Kompromisse und Meinungen beschäftigen, wenn doch anderes wichtiger sei? Eine einfache Antwort darauf könnte in der Abwandlung einer anderen Bemerkung Wittgensteins liegen: ‚Diejenigen, die hier immerfort wozu fragen, sind wie Museumsbesucher, die beim Gang durch eine Ausstellung durch das Studieren der Preise in Auktionskatalogen, daran gehindert werden, die Bilder zu sehen.‘[2] Wer die Bilder sehen will, muss hinschauen. Und wenn ‚Meinung‘ und ‚Kompromiss‘ als Teil der menschlichen Lebenswirklichkeit zum Thema werden, hilft es nicht, blinzelnd an ihnen vorbei auf etwas anderes zu schauen. Sie selbst sind in ihrer je eigenen Verfassung und Dignität in den Fokus zu rücken. Denn ganz offensichtlich ist die menschliche Praxis in einem grundlegenden Sinne durch das Engagement in und mit Meinungen sowie das Schließen von Kompromissen ausgezeichnet. Beide Tätigkeiten lassen sich nicht einfach ersetzen. Sie sind Teil der menschlichen Praxis und als solche auf nichts anderes gestellt, aber als Praktiken sind sie dennoch tragfähig.

Die Erörterung von ‚Kompromiss‘ und ‚Meinung‘ bzw. ‚Meinungsbildung‘ in dieser Konstellation ist von besonderem Interesse, da Schnittstellen ersichtlich werden, aber auch einige Intuitionen ins Wanken geraten können. Die Annahme etwa, dass im Falle von Meinungsbildung stets Kompromisse gefordert seien, drängt sich immer wieder auf. Und doch ist sie fraglich, wie sich im Folgenden zeigen wird. Meinungsbildung bedarf nicht notwendig und in allen Fällen des Kompromisses. Dies allerdings ist richtig zu verstehen und bedeutet mitnichten ein Plädoyer für ein blindes Verfolgen von eigenen Interessen oder Vorlieben. Es bedeutet vielmehr, dass im Falle von Meinungen, zumindest wenn sie als Meinungen in den Fokus rücken, Umgangsformen notwendig werden, die es erlauben, mit Unentschiedenheit umzugehen. Das Suchen, Eingehen und Schließen von Kompromissen setzt auf Praktiken der Befriedung unter der Bedingung von Streit. Dasjenige, was man in einem grundlegenden Sinne als Meinungsbildung beschreiben kann, setzt auf ein Bildungsprojekt, in dem das Erzielen von Orientierung unter der Bedingung von Unentschiedenheit im Vordergrund steht.

 

Der Kompromiss – »eine der größten Erfindungen der Menschheit«

Eine der bekanntesten Würdigungen des Kompromisses ist mehr als 100 Jahre alt. Sie stammt von Georg Simmel, findet sich u.a. in seiner Soziologie (1908) klar formuliert und lässt an Deutlichkeit nichts vermissen. Er verhandelt den Kompromiss als eine Erfindung, als eine Errungenschaft der Kultur, letztlich als ein zwar durch Traditionen eingeübtes, in kulturellen Institutionen verankertes, jedoch immer wieder erstaunliches Mittel der Lebensführung: »Im Ganzen ist das [sic!] Kompromiss, namentlich das durch die Fungibilität bewirkte, so sehr es für uns zu der alltäglichen und selbstverständlichen Lebenstechnik gehört, eine der größten Erfindungen der Menschheit.« (Simmel [1908] 1999, 375) Diese Erfindung kann übrigens, wenn sie nicht immer wieder kultiviert wird, wenn sie nicht in Gepflogenheiten und Traditionen verankert bleibt, in Vergessenheit geraten, letztlich sogar verloren gehen.

Simmel begreift den Kompromiss neben einerseits Sieg (oder Niederlage) und andererseits Versöhnung als eine dritte und eigenständige Form der Beendigung von Streit, dem er in seiner Soziologie ein umfangreiches Kapitel widmet und den er selbst als einen Ausdruck und als ein Mittel von Vergesellschaftung beschreibt. Bis heute ist dieser Abschnitt lesenswert, wird doch immer wieder und nicht selten vergleichsweise hemdsärmelig das Auseinanderfallen moderner Gesellschaften auf die Weise diagnostiziert, wie man etwa das Zersplittern einer Vase beschreibt, wenn sie zu Boden fällt. Doch moderne Gesellschaften sind keine Glas- oder Keramikvasen, selbst im Zersplittern können sie sich noch fügen. Nicht einfach die direkte Zusammenführung und unvermittelte Übereinstimmung, nicht schlicht und ausschließlich das gemeinsame Zusammenwirken vergesellschaftet nach Simmel, der Streit selbst verbindet. »So wenig der Antagonismus für sich allein eine Vergesellschaftung ausmacht, so wenig pflegt er – von Grenzfällen abgesehen – in Gesellschaften als soziologisches Element zu fehlen und seine Rolle kann sich ins Unendliche, d.h. bis zur Verdrängung aller Einheitsmomente steigern.« (ebd., 295)

Im Gegensatz zur Versöhnung, die von Simmel als ein rein subjektiver Modus des Beendens von Streit begriffen wird, und im Unterschied zum Sieg als der »einfachste[n]  radikalste[n] Form vom Kampf zum Frieden zu kommen« (ebd., 373), zeichnet sich der Kompromiss durch eine Besonderheit aus, die Simmel bereits in den elementaren Praktiken des Tauschs erkennt.

»Der Verzicht auf den bewerteten Gegenstand, weil man das in ihm enthaltene Wertquantum in anderer Form erhält, ist das in seiner Einfachheit wahrhaft wunderbare Mittel, entgegengesetzte Interessen anders als durch Kampf zum Austrag zu bringen.« (ebd., 376)

Verzicht auf die begehrte Sache bei gleichzeitiger Wahrung eigener Interessen durch sublimierenden Werterhalt, der sich in anderer Form manifestiert und erworben werden kann – dies ermöglicht Kompromisse. Der Kompromiss ist kein Deal im Sinne der unmittelbaren Befriedigung der dringlichsten Wünsche, Begierden und Interessen; im Kompromiss verlagert sich vielmehr das Spiel auf ein anderes, ein kulturelles Level der Auseinandersetzung. Die kalkulierende Interessenbefriedigung wandelt sich in eine ausgleichende Interessenwahrung. Damit wird Zukunft erst wieder als ein Gestaltungshorizont möglich.

Das hier von Simmel pointiert und prägnant skizzierte Bild des Kompromisses, zeigt bereits erstens, dass von einem Kompromiss nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn Streit, Konflikt, Uneinigkeit oder Differenz vorliegen. Dies ist keine Lappalie. Wenn keine Konflikte zu schlichten sind, müssen auch keine Kompromisse gesucht werden. Jenseits von Antagonismen Kompromisse zu suchen, wäre in etwa so sinnvoll, wie fortwährend auf dem Boden landen zu wollen, ohne zu springen. Einen derartigen Streit wird man zudem dadurch beschreiben müssen, dass es um etwas geht. Das Streitobjekt, so opak es auch in den unterschiedlichen Phasen eines Streits sein mag, wird nicht fehlen können. Streit ist Streit um etwas. Und zusätzlich ist es notwendig, Streitparteien, in welcher Form auch immer, zu identifizieren, um sinnvoll von einem Streit zu sprechen.

Zweitens ist die Rede von Kompromissen nur dann passend, wenn strittige Situationen beendet oder einem Ende zugeführt werden. Dies schließt nicht aus, dass nach einem gefundenen Kompromiss durchaus eine neue oder eine andere Auseinandersetzung ausbrechen kann, auch um den erreichten Kompromiss selbst. Doch zur Logik des Kompromisses gehört es, dass Streit – und sei es auch nur vorläufig – ein Ende findet. Sieg und Versöhnung beschließen ebenfalls eine strittige Situation. Dies geschieht jedoch entweder durch Unterwerfung, Triumph, Beherrschung bzw. Aufgabe oder durch Vergeben, Entschuldigen und Verzeihen. Von beidem unterscheidet sich der Kompromiss. Im Kompromiss findet ein Zwist durch Ausgleich ein Ende. Der Kompromiss ist nicht auf eine grundsätzliche Zuneigung wie im Falle der Versöhnung angewiesen, ebenso wenig wird im Kompromiss das Gegenüber als Objekt des Besiegens erfasst. Die Kunst des Kompromisses besteht darin, dass im Kompromiss die Streitpole in ihrer jeweiligen – sei es psychischen, sei es körperlichen – Verfassung und Macht eingeklammert werden.

Drittens, damit zusammenhängend, verlangt der Kompromiss nach Versachlichung – einer Versachlichung eigener Art allerdings, die es überhaupt erst ermöglicht, von einem Kompromiss und damit von einem Ausgleich zu sprechen. Im Kompromiss kommt es zu einer Objektivierung durch Distanznahmen unterschiedlicher Art. Interessen, Streitgegenstand, Streitwert und Streitmittel werden in Distanz gesetzt, um in diesem Netz Handlungsmöglichkeiten – die jeweils eigenen und die der Anderen – zu erhalten.

Und viertens spricht Simmel von der Fungibilität, der Vertretbarkeit, als einem Merkmal des Kompromisses. Wer sich in einem Handel oder einem Disput auf etwas einlässt, das nicht direkt seine Interessen befriedigt, mit dem es aber gleichwohl möglich ist, in neuer und anderer Form eigene Interessen zu wahren, zeigt sich kompromissbereit. Kompromisslos ist derjenige, der Satisfaktion fordert und keine Kompensation kennt.

 

Kompromisse als Praktiken der Befriedung

In der Gegenwart stellt sich die Frage nach Funktion und Rolle von Kompromissen wieder und mit besonderer Vehemenz. Die Stimmen häufen sich, dass die öffentlichen Debatten rauer geworden seien, dass sich die gegenüberstehenden Parteien auf keine Kompromisse einließen und dass eine Feindseligkeit, ein Bekämpfen und Attackieren – wenn nicht sogar auch Ausschalten – anderer Standpunkte zu beobachten sei. Insbesondere die politische und im weitesten Sinne öffentliche Diskussion gerät in den Fokus, befeuert durch die technische Entwicklung der Kommunikationsplattformen, die von einigen als Brandbeschleuniger einer kompromisslosen Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Geäußert werden die Bedenken zum Teil von den Akteuren selbst, aber auch von Beobachtern – sei es nun von journalistischer oder wissenschaftlicher Seite.

Im Folgenden will ich das Augenmerk weniger auf die Handhabung, Technik und das Herstellen von Kompromissen im engeren Feld der politischen Sphäre richten. Dies ist ein eigenes, alles andere als einfaches, Thema politischen Wirkens, politischer Rhetorik und politischer Kunstfertigkeit, bei dem der Aspekt des Poietischen, des Machens und Herstellens von Kompromissen im Vordergrund steht und die politischen Verfahren fokussiert werden. Man wird allerdings die Funktionslogik liberaler repräsentativer Demokratien nicht auf die sicherlich bedeutende Funktion des Kompromisses reduzieren können. Der Kompromiss würde als demokratisches Pfingsterlebnis überbewertet, wenn nicht ebenso klar wird, dass liberale Demokratien auf die Nüchternheit institutionell legitimierter Entscheidungen angewiesen sind.

Im Folgenden soll der Problemhorizont über das engere Feld des Politischen erweitert werden, um auf einen anderen Aspekt aufmerksam zu machen, der auch bereits angeklungen ist. Er betrifft die Frage, unter welchen Bedingungen das Suchen, Schließen oder Eingehen von Kompromissen möglich ist. Die Frage besteht demgemäß nicht zuerst darin, was an einem Kompromiss gut oder schlecht ist oder wie man einen Kompromiss ‚macht‘ oder ‚produziert‘.  Beide Fragen sind nicht trivial, doch sie setzen bereits voraus, was als Kompromiss im Sinne einer Praxis erst verstanden werden soll. Die erste Frage scheint mir mit zu vielen Vorannahmen behaftet, die den Blick auf Kompromisse als Mittel der Lebensführung verstellen oder zumindest einengen können; die zweite Frage ließe sich schnell als ein Fall für eine Fortbildung in Mediation und Kompromissmanagement abtun.

Ich werde im Anschluss an Simmel die vielleicht auf den ersten Blick etwas provokante These weiter verfolgen, dass der Wert des Kompromisses nicht einfach darin zu suchen ist, dass Einigung im Sinne von Übereinstimmung, Konsens oder Einverständnis erzielt wird. Dies mag verstörend wirken, zumindest aber irritieren. Denn ist es nicht gerade die Kompromissunfähigkeit, die öffentlich beklagt wird, und mit der ein fehlender Einigungswille verbunden wird? Und wird nicht die Kompromissbereitschaft eingefordert, um Übereinstimmung zu erzielen? Das mag in dem einen oder anderen Fall vielleicht sogar zutreffend sein, und meistens dann, wenn bereits gesichert ist, wozu jeweils Kompromisse gebraucht werden können oder was sich mit ihnen anstellen lässt. Doch das genuin praktische Grundgerüst des Kompromisses ist ein anderes. Es liegt in der Befriedung und den damit verbunden Handlungen, weniger in dem, was mit Kompromissen zusätzlich und darauf aufbauend alles bewirkt, erzielt oder erlangt werden kann.

Kompromisse werden gesucht, geschlossen und eingegangen. Es handelt sich mithin um eine Praxis, jedoch um ein Geflecht subtiler Praktiken, die die menschliche Lebensform im Ganzen, nicht nur in einzelnen Bereichen, charakterisieren. Man mag vieles im Verhalten unterschiedlicher nicht-menschlicher Spezies finden, für das man ein Äquivalent in der menschlichen Lebensform identifiziert. Es dürfte allerdings schwierig werden, auf dasjenige zu treffen, was man ‚Sondieren von Positionen‘, ‚Ausloten von Interessen‘, ‚Vorfühlen von Grenzen‘, ‚Austesten von Spielräumen‘, ‚Zurücktreten von Maximalforderungen‘, ‚Gewinnen für Alternativen‘ oder ‚Werben für Umwege‘ nennt.

Subtil sind solche Praktiken in vielerlei Hinsichten. Sie bedürfen einer Finesse, Diskretion und Zurückhaltung, die im Kontrast steht zu Arglist und Durchtriebenheit. Sie müssen in ihrer Komplexität und Abhängigkeit untereinander eingeübt und erworben werden, ohne dass ein Handbuch für sie zur Verfügung stehen würde oder je könnte. Sie sind allerdings auch nicht beliebig, sondern gehören vielmehr zur Ausstattung der menschlichen Lebensform, wenn und insofern die natürliche Existenzweise des Menschen in der Kultur als Welt des Menschen zum Ausdruck kommt. Zudem stehen diese Praktiken quer zu Verwaltungsregeln oder Regieanweisungen, und stellen diese durchaus auch auf die Probe. Es handelt sich um informelle Praktiken, die nicht notwendig formalisierten Verfahrensordnungen entsprechen. Es dürfte kein Zufall sein, dass Kompromisse umso schwieriger gefunden werden, je reglementierter der Raum ist, in dem sich Zwist artikuliert. Verfahrensordnungen und -regelungen von Parlamenten sind auf Abstimmung, nicht auf Kompromiss angelegt. Für die Anbahnung eines Kompromisses setzt man sich an einen anderen Platz, geht vor die Tür oder sucht Orte mit offener bzw. elastischer Regelungsdichte und -verbindlichkeit auf.

Kompromisse und das Suchen derselben sind auch nicht in den obersten Etagen normativer Wolkenkratzer zuhause, wenn in diesen Stockwerken ein kontextlos gebietendes Sollen vermutet wird. Dafür sind sie zu fluide und situationsabhängig. Doch Kompromisse stehen keineswegs außerhalb der Moralität, im Gegenteil. Bei ihnen handelt es sich erstens um ein Koordinatensystem menschlichen Handelns, in dem das Passende, Angemessene, Belastbare im Vordergrund steht, nicht das Richtige oder Korrekte, das ein für alle Mal gelten soll. Und zweitens wird man das, was der Befriedung dienlich ist und zu dieser hinführt, nicht in einem moralfernen Raum erfassen können.  

Natürlich gibt es auch schlechte Kompromisse, doch diese sind so wenig einfach falsch, wie gute Kompromisse partout richtig sind. Sie sind schlecht, weil sie unangemessen, unpassend oder deplatziert sind. Ein interessanter Fall ist die Rede von ‚faulen Kompromissen‘, denn nicht allzu selten wird dieser Topos aufgerufen, um bereits eingegangene Kompromisse nachträglich zu bewerten. Steht etwa ein Kompromiss in einem Tarifstreit zur Abstimmung und wird dieser von der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder befürwortet, dann wird unter Umständen die unterlegene Seite von einem faulen Kompromiss sprechen. Zumindest in diesem Fall geht es um die Bewertung des Kompromisses, nicht um den Kompromiss selbst. Unabhängig von dieser normativen Etikettierung sind auch ‚faule Kompromisse‘ zuerst einmal Kompromisse, so wie ein ‚ruppiges Fußballspiel‘ ein Fußballspiel ist. Wird allerdings mit ‚fauler Kompromiss‘ die Bedeutung einer hinterlistigen Täuschung, einer hinterhältigen Überrumpelung oder einer arglistigen Irreführung verbunden, dann stellt sich die Situation wiederum anders dar – dann allerdings sollte man die Dinge bei ihrem Namen nennen. In den Kategorien Simmels würde man sich in derjenigen Sphäre wiederfinden, die von ihm als ‚Besiegen‘ bezeichnet wird. Von Kompromiss oder faulem Kompromiss wäre dann keine Rede mehr.

Es scheint sich im Falle von Kompromissen auch das Bild aufzudrängen, dass Kompromisse etwas entscheiden oder eine Entscheidung vorbereiten. Doch gilt dies für alle Kompromisse, und ist die Ausrichtung auf eine Entscheidung eine notwendige Auszeichnung von Kompromissen? Dies ist zumindest nicht in allen Fällen plausibel. Entsteht in einer Familie ein Disput darüber, welches Reisemittel für den nächsten Urlaub genutzt werden soll, und gelangt man u.U. zu dem Kompromiss, dass im ersten Jahr mit der Bahn und im zweiten Jahr das Auto genutzt werden soll, dann liegt es eher nahe zu sagen, dass der Kompromiss eine Handlungsoption weiterhin offenhält, indem der Disput befriedet wird. In diesem Fall liegt die Entscheidung in der Befriedung selbst. Oder anders ausgedrückt: Die Befriedung ist das Werk des Kompromisses, nicht dasjenige, wozu die Befriedung nützlich sein kann. Es mag auch andere Fälle geben, doch diese und ähnliche Beispiele bringen zumindest die strikte Indienstnahme von Kompromissen für nachgelagerte Entscheidungen ins Wanken. Nähert man sich dem Kompromiss unter der Beschreibungsform der Praxis und des Handelns im Unterschied zu derjenigen der Poiesis und der Herstellung, dann ist die Dienlichkeit des Kompromisses eine intrinsische: die Befriedung.

 

Meinungsbildung als Umgang mit Unentschiedenheit

Diese sicherlich skizzenhafte Beschreibung des Kompromisses, die die subtilen Praktiken der Befriedung in den Vordergrund stellt, ließe sich auf Meinungen beziehen, wenn gefordert würde, Meinungen unter allen Umständen als Interessen zu verstehen. Der Meinungsaustausch entpuppte sich dann als Meinungsstreit, also als ein Antagonismus von Interessen, die durch Befriedung einen Ausgleich finden. Abgesehen davon, dass genauer zu klären wäre, welche Rolle die von Simmel beschriebene ‚Fungibiltät‘ hier spielt, wird in einem solchen Zugriff die Identifikation von Meinungen mit Interessen vorausgesetzt.

Mir scheint eine solche Position, wenn nicht gar abwegig, so doch zumindest suspekt. Sicherlich kann in einem Meinungsbild, das beispielsweise in einer Sitzung erstellt wird, die Interessenlage der Teilnehmer ‚von Interesse sein‘. Aber handelt es sich bei solchen Meinungsbildern um derart holzschnittartige Skizzen, auf denen ausschließlich Interessen zu erkennen sind? Und selbst wenn dem so wäre, würde dies bedeuten, dass all das, was man als Meinungsbildung in einem weiten Sinne bezeichnet, in der Form von Sitzungsformaten zu beschreiben ist? Es könnte sich hier selbst um ein Bild handeln, das man sich von Meinungen und einem Meinungsbild macht. Und dies nicht zuletzt von dem Interesse getrieben, ganz und gar eigenen Interessen gerecht zu werden.

Es ist also nicht ganz so einfach Meinungen als Meinungen zum Thema zu machen. Auf die Versuchung, das Konzept der Meinung sozusagen für den jeweils eigenen Hausgebrauch herzurichten und es mit den üblichen Etiketten zu versehen, ist bereits vor einigen Jahren an anderer Stelle hingewiesen worden: »Um die Meinungen als ein selbständiges Phänomen in den Blick zu bekommen, muss sowohl hinter die operativen Verkürzungen der Einzelwissenschaften als auch hinter die in der Philosophie übliche bloße Konstatierung der Zwiespältigkeit oder der Defizienz der Meinungen so zurückgegangen werden, dass eine gewisse Eigengesetzlichkeit des Meinungsbereichs sichtbar wird. Erst dann lässt sich eine allgemeine Darstellung des Meinungsbegriffs selbst anschließen.« (Ptassek u.a. 1992, 11)

Bereits noch früher, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war es Husserl, der entgegen allen Irrungen und Wirrungen, die aus der Konfrontation zwischen Weltanschauungsphilosophie einerseits und Positivismus andererseits entstanden sind, daran festhält, die Doxa, also das Meinen und die Meinung, in einem rationalen Zugriff zu rehabilitieren – zum Verdruss der Weltanschauungsphilosophie und zum Ärger des Positivismus.

Meine Überlegungen zu einer Philosophie der Doxa (vgl. Bermes 2022) setzen hier ein und nehmen die Frage nach der Eigengesetzlichkeit der Doxa ernst. Dies allerdings kann nur gelingen, wenn die Vorannahmen, Deutungen und Bilder, die das Konzept der Meinung im Griff haben, gelöst und eingeklammert werden, so dass Meinungen als Meinungen zum Thema werden.

Neben der der Deutung von Meinungen als Interessen, besteht eine weitere Vorannahme in der Privatisierung von Meinungen. Die Schlagworte sind bekannt: ‚Jeder hat seine eigene Meinung‘, ‚Meinung ist das, was ich meine‘ oder ‚Meine Meinung geht niemanden etwas an‘. Man könnte hier geradezu von einer ‚Jemeinigkeit‘ der Doxa sprechen, die allerdings eher an Besitzstandswahrung erinnert. Meinungen spielen in einer solchen Sichtweise, um es in einem Bild zu sagen, eine ähnliche Rolle wie Gartenzwerge in dem je eigenen mehr schlecht als recht bestellten Vorgarten. Man platziert sie an einer Stelle, ordnet sie gelegentlich neu und putzt sie – aber auf dem Gehweg, der Straße, an den lebendigen Orten menschlicher Interaktion spielen sie keine Rolle. Robert Gernhardt war es, der eine solche Position süffisant in seinem Gedicht Dorlamm meint aufs Korn genommen hat: »Dichter Dorlamm läßt nur äußerst selten andre Meinungen als seine gelten. / Meinung, sagt er, kommt nun mal von mein, deine Meinung kann nicht meine sein. / Meine Meinung – ja, das läßt sich hören! Deine Deinung könnte da nur stören. / Und ihr andern schweigt! Du meine Güte! Eure Eurung steckt euch an die Hüte! / Laßt uns schweigen, Freunde! Senkt das Banner! Dorlamm irrt. Doch formulieren kann er.« (Gernhardt 2008, 122)

Die Privatisierung von Meinungen verkennt, dass Meinen und Meinung nicht in den Köpfen ihren Platz haben, sondern zwischen Menschen und in Handlungen. Meinungen spielen in Szenen, in denen Menschen engagiert sind, eine Rolle und finden darin ihre Existenzberechtigung.

Die Form und Rolle von Meinungen wird jedoch ebenso verstellt, wenn Meinungen schlicht mit Neigungen oder Präferenzen identifiziert werden. Denn dies liefe darauf hinaus, in der Meinungsbildung nichts anderes als ein Aufputschen von Präferenzen oder eine Art Doping von Vorlieben, sehen zu wollen. Selbst wenn man eine solche Option für eine adäquate Beschreibung von Shitstorms in sozialen Medien halten würde, so würde man kaum verstehen, was es bedeutet, eine Zeitung zu lesen oder einem Gespräch zu folgen. Werden Meinungen mit ‚Likes‘ verwechselt, läuft man Gefahr, keiner Meinung Rechnung zu tragen – auch nicht den eigenen, denn diese wären dann nichts anderes als ein Etikett.

Gegenüber diesen Fällen scheint die Form der Doxa eine grundsätzlich andere zu sein: Sie zeigt sich in dem exemplarischen Charakter von Meinungen. Am Leitfaden des Exemplarischen erschließt sich, wie Meinungen als Meinungen gefasst werden können. Im Exemplarischen verschränken sich Sichtweisen, indem unterschiedliche Perspektiven nicht aufgegeben, aber neu ausgerichtet werden. Vom Exemplarischen ausgehend finden sich Anfänge, ohne immer schon ein Ende im Blick zu haben. Mit dem Exemplarischen werden Kompetenzen fällig, die keineswegs die Frage nach Wahrheit und Falschheit ausschalten oder sich gar von ihr abkoppeln, die aber immer auch darauf setzen, dass Unentschiedenes nicht einfach beliebig, sondern angemessen oder unangemessen sein kann. Und am Exemplarischen lässt sich Orientierung gewinnen, dasjenige was Wittgenstein beispielsweise eine ‚übersichtliche Darstellung‘ nennt. All dies, was hier über das Exemplarische aufgelistet wurde, wird man auch von dem Konzept der Meinung sagen können, wobei das Exemplarische und die Meinung noch einen weiteren Aspekt teilen. Beide zeichnen sich durch ihre Unentschiedenheit aus.

Mit Meinungen umzugehen bedeutet angesichts dieser Überlegungen, dem Exemplarischen der Meinungen gerecht zu werden und ihrer Unentschiedenheit Rechnung zu tragen. Dies darf als Meinungsbildung in einem prägnanten Sinne verstanden werden. Von Streit und Befriedung ist hier nicht notwendig die Rede. Oder um es noch einmal zu wiederholen: Das Suchen, Eingehen und Schließen von Kompromissen setzt auf Praktiken der Befriedung unter der Bedingung von Streit. Dasjenige, was man in einem grundlegenden Sinne als Meinungsbildung beschreiben kann, setzt auf ein Bildungsprojekt, in dem das Erzielen von Orientierung unter der Bedingung von Unentschiedenheit im Vordergrund steht.

Zwar werden auch für dieses Projekt der Meinungsbildung Kompetenzen fällig, die den Praktiken des Schließens von Kompromissen nahekommen, wie etwa der Takt, den Plessner beispielsweise als »eine Kunst des Nichtzunahetretens« (Plessner [1924] 1981, 107) beschreibt. Jedoch ist das Ziel ein anderes. Nicht Schlichtung und Befriedung sondern Bildung in einem elementaren Sinne steht im Vordergrund. Man wird wohl auch zurecht erwarten dürfen, dass ein solches Bildungsprojekt für das Schließen von Kompromissen zuträglich ist. Denn ebenso wie Meinungen beanspruchen Kompromisse keine absolute Geltung, aber durchaus dasjenige, was Kant exemplarische Gültigkeit nennt und von der er ausführt, dass es sich um »ein Beispiel einer allgemeinen Regel« handele, die man allerdings gerade »nicht angeben kann« (Kant [1790] 1968, 237). Das mag einige enttäuschen oder frustrieren, wird doch letztlich gesagt, dass Kompromiss und Meinungsbildung als Praktiken der menschlichen Lebensführung nicht noch einmal jenseits dieser Praktiken vermessen werden können. Doch dieser epistemische Kater vergeht, wenn man erkennt, dass genau darin die Chancen von Kompromiss und Meinungsbildung in der Praxis liegen.

 

Literaturverzeichnis:

Bermes, Christian (2022): Meinungsbildung und Meinungskrise. Eine Philosophie der Doxa, 2. Auflage, Hamburg.

Gernhardt, Robert (2008): Gesammelte Gedichte 1954-2006, Frankfurt a.M.

Kant, Immanuel (1968 [1790]): Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe Bd.5, Berlin.

Plessner, Helmuth (1981 [1924]): Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt a.M.

Ptassek, Peter/ Sandkaulen-Bock Birgit/ Wagner Jochen/ Zenkert Georg (1992): Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt. Mit einem Vorwort von Rüdiger Bubner, Göttingen.

Simmel, Georg (1999): Soziologie. Formen der Vergesellschaftung, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Gesamtausgabe Bd. 2, 3. Auflage, Frankfurt a. M.

Wittgenstein, Ludwig (2010): Blaues Buch, Werkausgabe Bd. 5, 8. Aufl., Frankfurt a.M.

Wittgenstein, Ludwig (2011): Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, 8. Aufl., Frankfurt a.M.

Özmen, Elif (2023): Spielarten und Spielregeln demokratischer Kompromisse, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 77, S. 372-376.

Willems, Ulrich (2023): Zur Konstitutionslogik des Kompromisses als robustem Konfliktregelungsmechanismus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 77, S. 377-381.

Zanetti, Véronique (2022): Spielarten des Kompromisses, Berlin.

Zanetti, Véronique (2023): Replik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 77, S. 381-385.



[1] Vgl. hierzu besonders das präzise und umsichtige Plädoyer für den Kompromiss von Véronique Zanetti (Zanetti 2022). Kommentiert wurde das Buch jüngst von Elif Özmen (Özmen 2023) und Ulrich Willems (Willems 2023) mit einer Replik von Véronique Zanetti (Zanetti 2023). In meinen Ausführungen in diesem Beitrag nehme ich einen etwas anders gelagerten Einstieg, wobei es zahlreiche Überschneidungen zu den Ausführungen Zanettis gibt. Weder diese, noch die Unterschiede werden hier allerdings eigens diskutiert.

[2] Vgl.: »Die Menschen, die immerfort ‚warum‘ fragen, sind wie die Touristen, die, im Baedeker lesend, vor einem Gebäude stehen und durch das Lesen der Entstehungsgeschichte etc. etc. daran gehindert werden, das Gebäude zu sehen.« (Wittgenstein 2011, 506)