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Nr. 2 / 2023
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Florian Cziesla: Von der Biopolitik zur Nekroökonomie. Für eine genealogische Kritik der politischen Ökonomie des Todes

 

Michel Foucault hat mit seinen Analysen der Biopolitik eine geradezu überschwängliche Resonanz in den Gouvernementalitätsstudien erfahren und einer Vielzahl unterschiedlicher Anschlüsse stattgegeben, so etwa einer Adaption durch Giorgio Agamben in Homo sacer. Nur die wenigsten würden das Projekt einer genealogischen Kritik der Biopolitik jedoch mit dem poststrukturalistischen Denker und Medientheoretiker Jean Baudrillard in Verbindung bringen. Zu Unrecht – wie Florian Cziesla in seinem kürzlich erschienenen Buch Von der Biopolitik zur Nekroökonomie. Für eine genealogische Kritik der politischen Ökonomie des Todes argumentiert. Baudrillard habe in seinem Hauptwerk, Der symbolische Tausch und der Tod, „nicht nur einen ganz eigenen Zugang zu der Frage nach der Macht über Leben und Tod, sondern eine Vielzahl provokanter Denkanstöße und Perspektiven zu Aspekten des Biopolitischen entwickelt, die sich einerseits als hochaktuell erweisen und andererseits Leerstellen in den Zugängen von Foucault und Agamben zu adressieren vermögen.“ (13) Diesen unkonventionellen Zugang und sein kritisches Potenzial möchte Cziesla freilegen und anhand der durch Mike Hill und Warren Montag in The Other Adam Smith geleisteten Analyse liberaler und neoliberaler Diskurse plausibilisieren. Dabei geht es ihm nicht darum, für oder gegen Foucault Partei zu ergreifen, sondern darum, die Möglichkeiten genealogischer Kritik auszuloten und das exemplarisch von diesem vorgeführte genealogische Programm zu bereichern. Dieses versteht Cziesla im Anschluss an Martin Saar als eine distinkte Form von Kritik, in der Praktiken, Institutionen und Werte mit den machtabhängigen Bedingungen ihrer historischen Gewordenheit konfrontiert und so delegitimiert bzw. entnaturalisiert werden, um das dabei angesprochene Subjekt zu verunsichern, mobilisieren und ihm seine Veränderlichkeit vor Augen zu führen. Die konstitutiven Elemente der Genealogie gewinnt Cziesla zunächst in einem knappen Durchgang durch Saars Nietzsche- und Foucault-Lektüre in Genealogie als Kritik.

Im Zentrum der anhand von Baudrillard und Hill/Montag erprobten Erweiterung genealogischer Kritik steht die Analyse der in der Biopolitik stets angelegten Nekropolitik bzw. -ökonomie, d.h. der Mechanismen des Sterben-Lassens beziehungsweise Sterben-Machens unter biopolitischen Vorzeichen und ihrer Verbindung zur ökonomischen Logik. Konkret geht es darum, inwieweit die Macht, „leben zu machen“, nicht in letzter Konsequenz in eine Macht kippe, „sterben zu lassen“ (Foucault 2016, 291) oder „in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1977, 134), diese Möglichkeit also als ihr Komplement und ihre dunkle „Kehrseite“ (155) stets enthalte.

Diese Dimension der Biopolitik wird von Foucault zwar nicht kategorisch ausgeschlossen, aber nie wirklich expliziert. Cziesla untersucht Foucaults Behandlung des Phänomens der Biopolitik zunächst an dessen Vorlesung vom 17. März 1976, dann am Schlusskapitel von Der Wille zum Wissen – den zwei Texten also, in denen Foucault diesen Begriff erstmals einführt. Foucaults zu starke Kontrastierung von Souveränitätsmacht – als Entscheidung über Leben und Tod und Biomacht – als Mechanismus der Steigerung der Kräfte des Lebens – führe, so stellt Cziesla dabei fest, in der Vorlesung zu einer Konzeption, in der die Bedeutung der souveränen Macht – des Sterben-Machens – unter dem Zeichen der Biomacht unterbelichtet bleibe und „der Tod als genuiner Teil des Problems der Macht verabschiedet“ (47) werde. Diese Dichotomisierung werde in Der Wille zum Wissen abgeschwächt und weiche einer Perspektive, in der sich die zwei Machtparadigmen nicht mehr gegenseitig ausschließen, sondern als zwei mögliche Formen moderner (Bio-)Macht integriert werden. So stütze sich im Zeitalter der Biopolitik – wie es bei Foucault heißt – „das Recht über den Tod auf die Erfordernisse einer Macht, die das Leben verwaltet und bewirtschaftet, und ordnet sich diesen Erfordernissen unter.“ (Foucault 1977, 132) Nichtsdestotrotz finde sich auch hier, so Cziesla, die Abwertung des Todes als marginales Problem der Machtanalyse, dem Foucault folglich kaum bis keine theoretische Aufmerksamkeit widme. Zudem sei Foucault nirgends systematisch dem Zusammenhang zwischen der ökonomischen Rationalität des Kapitalismus und dem Mechanismus der Biomacht nachgegangen.

Demgegenüber widme sich Agamben, dessen eigenwillige Aneignung der Konzeption Cziesla im nächsten Kapitel beleuchtet, der Biopolitik vor allem über das Problem der Souveränität, verstanden als „Entscheidung in der Form einer Ausnahme, durch die ein Leben der Tötbarkeit ausgesetzt wird, wobei die Ausnahme eben bedeutet, dass ein Vollzug der Tötung jenseits der Kategorien Mord und Opfer liegt.“ (59) Die durch die so verstandene Souveränität hergestellte Ausnahmebeziehung entspricht einer Art Schwellenzone, in der die Ordnung zugleich in- und außer Kraft ist, oder in der sie unentschieden zwischen beiden Polen verharrt. In dieser Zone werde Leben – das „heilige oder nackte Leben“ (59), dargestellt durch „die Figur des homo sacer“ (58) – „in den Bann genommen“ (59), also einer potenziellen Tötbarkeit ausgesetzt. Mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten und der Erklärung der Menschenrechte, die über die Bedeutung, die dort dem einfachen Faktum der Geburt zukomme, erstmals das natürliche oder biologische Leben politisierten, verteile sich die Figur des homo sacer über die gesamte Bevölkerung und ziehe sich in den Körper jedes einzelnen Bürgers zurück. Mit der Etablierung des biologisch-medizinischen Wissens komme es zudem zu einer Zerstreuung der Souveränität, die nicht mehr nur politisch motiviert sei, sondern zunehmend „mit dem Arzt, dem Wissenschaftler, dem Experten und dem Priester symbiotisier[e].“ (Agamben 2016, 130) Agamben nehme also, so Cziesla, die souveräne Entscheidung über Leben und Tod in den Blick und sei in der Lage, sie als Komplement der sich im 18. Jahrhundert etablierenden Biopolitik zu beschreiben. Allerdings betreibe er keine Genealogie im Sinne der von Saar herausgestellten Form und formuliere keine Theorie und Machtgeschichte des Subjekts. Zudem gelte sein Interesse – ebenso wie das Foucaults – vor allem dem Bereich des Politischen, wobei der Zusammenhang zwischen Biopolitik, Souveränität und Ökonomie außer Acht bleibe.

Beides sieht Cziesla hingegen bei Baudrillard erfüllt: So lasse sich dessen Verfahren in Der symbolische Tausch und der Tod durchaus als Genealogie – vornehmlich nach dem Vorbild Nietzsches – verstehen, wobei diese bei Baudrillard die spezifische Form einer „genealogische[n] Kritik der politischen Ökonomie des Todes“ (71) annehme, also gerade das Problem des Todes in den Mittelpunkt stelle und sensibel für die sich darin niederschlagenden ökonomischen Mechanismen sei. Baudrillards gabentheoretischer Ansatz, demgemäß Machtausübung vor allem im Geben ohne Gegengabe besteht und Leben und Tod in einem Verhältnis symbolischen Tauschs gedacht werden, verhindere die Preisgabe des Todes als machtanalytisches Problem und „stell[e] die Offenheit gegenüber beiden Dimensionen sicher: Die Gabe des Lebens und die Gabe des Todes, die Macht ‚das Leben zu geben‘ und ‚den Tod zu geben‘, artikulieren sich in historisch kontingenten Modalitäten und Konfigurationen und bedingen sich gegenseitig.“ (96) Die biopolitische Konstitution eines als Positivität verstandenen und akkumulierbaren Lebens, die eine radikale Trennung zwischen Leben und Tod und eine Reduktion des Todes auf ein scheinbar endgültiges, punktuelles und gefürchtetes Ende erfordert – nach Baudrillard ein Novum und eine Spezialität unserer Kultur – resultiere, so Baudrillards Idee, paradoxerweise darin, dass der Tod omnipräsent werde und das Leben zum reinen „Überleben“ (Baudrillard 2011, 228) degradiere. Nicht nur gleiche der menschliche Körper einem Gebrauchsgut, dessen Tod zum Zwecke der Benutzung aufgeschoben und damit nur verlangsamt werde, sondern „[d]ie Logik der politischen Ökonomie des Todes produzier[e] beständig menschliche Mangel- und Ausschussware, die über eine Reihe von Sicherheitsstrategien bis zu einem gewissen Grad in das System integriert werden kann […] und darüber hinaus, um im Bild zu bleiben, unter Umständen endgültig aussortiert wird.“ (113) So zeichne sich mit der zunehmend durchgreifender werdenden Kontrolle des Todes eine Art Krise zwischen dem vom System instrumentalisierten unbedingten Wert des Lebens und seiner ökonomischen Kalkulation ab, wobei die Krise weniger als Bedrohung denn als Ausdruck der Logik des Systems zu verstehen sei. Infolgedessen gebe sich die Euthanasie unter dem Deckmantel des Humanismus als eine Strategie der politischen Ökonomie zu erkennen (wobei der hier in Rede stehende Tod auch etwa die Form des sozialen Todes annehmen kann, dem Menschen im Alter ausgesetzt werden).

Diesen Hinweisen auf eine schauerliche Kehrseite der ökonomischen Organisation des Lebens spürt Cziesla anschließend anhand der Analysen von Hill/Montag in den historischen Diskursen der liberalen und neoliberalen Theorie nach. Dabei zeige sich, dass die nekroökonomische Logik in der Tat auch die Diskurse der Ökonomen heimsucht. Bei Adam Smith etwa erscheine der Hungertod einiger infolge einer Mangellage als hinnehmbares, notwendiges Übel auf dem Weg zum größeren Wohlstand aller, für den nur die ökonomische Vorsehung über das ungehinderte Funktionieren der Marktordnung sorgen kann. Folglich sei es nach Smith einem Eingreifen des Staates in das Eigentum der Getreidehändler vorzuziehen. Vor diesem Hintergrund erscheine es – wie Cziesla Hill/Montag zitiert – „as if the invisible hand works not by providing for all, but by not providing for all“ (Hill/Montag 2015, 287), oder, wie er an anderer Stelle überlegt, als ob eine zweite marktimmanente Rationalität das ökonomische Gleichgewicht durch Mortalität wiederherstelle. Das an Smith ablesbare nekropolitische Denken erfahre in den neoliberalen Diskursen schließlich noch eine Zuspitzung. So heiße von Mises nicht nur das brutale Eingreifen des Staates zur Verteidigung der Ordnung des Marktes gegen innere Bedrohungen gut, sondern affirmiere letztlich sogar die bewaffnete Invasion zur Erweiterung des Marktes als mit seiner Logik konforme Alternative zur Freiheit der Auslandsinvestitionen. Zudem werde an den neoliberalen Diskursen noch einmal deutlich, dass das menschliche Subsistenzminimum, von dem Smith noch glaubte, es werde unter idealen Bedingungen in Form einer „marktimmanenten Lohnuntergrenze“ (147) gewissermaßen spontan vom Markt bereitgestellt, der Logik des Marktes tatsächlich heterogen ist – in dem Sinne, dass der Markt dem darunter oder darüber gegenüber schlicht und einfach indifferent bleibt und von seinen Teilnehmern in dieser Sache eine weitestgehende Flexibilität einfordert. Zudem sei „[f]ür von Mises […] der freie Markt in letzter Konsequenz ein globaler Markt, der […] den Arbeitenden die absolute Bereitschaft abverlangt, gegebenenfalls alle Formen der lokalen oder sozialen Verwurzelung aufzugeben“ (148), eine Idee, die Cziesla unter Verweis auf den massenhaften Tod ökonomisch motivierter Migranten noch einmal zusätzlich auf die Probe stellt. Schlussendlich werde in der Zusammenschau der behandelten Autoren ein Panorama erkennbar, in dem die ökonomische Vorsehung den von Agamben antizipierten neuen Ort der Souveränität einnimmt, wodurch „der tödlichen Rationalität des Marktes das angeblich Unvermeidliche, das angeblich Notwendige, überantwortet“ (154) werde.

Florian Cziesla ist es mit diesem Buch gelungen, eine unkonventionelle Perspektive auf den Zusammenhang zwischen ökonomischer Logik, Biopolitik und Nekroökonomie in den philosophischen Diskurs über die Biopolitik einzuführen. Diese Perspektive ist ebenso erhellend, wie sie zu denken geben sollte. Dabei ist es nicht sein letztes Verdienst, auf den bislang kaum beachteten Einsatz der Baudrillard’schen Theoriebildung für eine Analyse der Biopolitik hinzuweisen. Dieser ist dadurch natürlich noch keineswegs erschöpfend erschlossen. Tatsächlich ist es bemerkenswert, dass – wie Cziesla zu Beginn hervorhebt – Der symbolische Tausch und der Tod bereits zu Beginn des Jahres 1976 und damit vor der Einführung des Begriffs der Biopolitik durch Foucault erschien, aber einen hohen zeitdiagnostischen Scharfsinn beweist und – wie ich hinzufügen würde – sogar Beobachtungen neoliberaler Machtmechanismen enthält, denen Foucault erst in seiner Vorlesungsreihe 1978 bis 1979 nachgeht. Eine Untersuchung dieser Parallelen, aber auch der Eigenheit der Analyse Baudrillards, ließe sich insofern konstruktiv anschließen.

Tatsächlich zeichnet sich Czieslas Untersuchung durch eine auffällige Abwesenheit der Gouvernementalitätsvorlesungen aus, in denen Foucault doch unter anderem gerade den Zusammenhang zwischen Biopolitik und politischer Ökonomie in den Blick nimmt. Zwar stimmt es, dass Foucault das in der ökonomischen Logik angelegte nekropolitischen Potenzial nicht als solches thematisiert. Dennoch wäre es gewinnbringend, die vorgestellten Analysen zu denen Foucaults in Beziehung zu setzen, etwa zu dessen Überlegungen zur „Schwellenbevölkerung“ (Foucault 2006, 289) und der Sozialpolitik als – dem Wirtschaftsspiel wohlgemerkt externe – „Regel des Nicht-Ausschlusses“ (Foucault 2006, 283). Des Weiteren ließe sich fragen, ob der von Hill/Montag untersuchte Stoizismus Smiths – die Selbstbeherrschung zur Akzeptanz der erhabenen und konstitutiv nicht einsehbaren Logik des Marktes, selbst im Angesicht des eigenen Todes – nicht vor dem Hintergrund des Foucault’schen Spätwerks als eine Art nekropolitischer Selbstpraxis beschrieben werden kann. Diese Anschlussmöglichkeiten unterstreichen die Ergiebigkeit und theoretische Stichhaltigkeit der von Cziesla vorgestellten Analysen.

Bei Czieslas Studie handelt es sich um einen reichhaltigen und inspirierten Streifzug durch ein Konglomerat zunächst heterogen erscheinender Theorien, die jedoch in vielsagender Weise verwoben werden und überraschend große Parallelen offenbaren. Diese Verwebungen haben oft den Charakter von Andeutungen. Nicht zuletzt, da Vieles zwischen den Zeilen steht, erhält das Buch eine höchst suggestive Qualität und verlangt nach weiterführenden Überlegungen.