Das Vorhaben, Martin Heidegger und Theodor W. Adorno postum ins Gespräch zu bringen, ist kein leichtes, wenn nicht gar ein unmögliches: Adornos Kritik an Heidegger im Jargon der Eigentlichkeit zieht eigentlich eine Grenze, die nicht überschritten werden kann. Die Philosophen stehen einander so diametral gegenüber, dass es unmöglich scheint, einen gemeinsamen Nenner zu finden, geschweige denn, die Differenzen zu überwinden.
Gerade in dieser gespannten Situation liegt für Fabian Heubel das Potential: die Kommunikation der „philosophischen Kommunikationsverweigerung" (Hermann Mörchen). Die Differenzen zwischen den Denkern müssen darin gerade nicht aufgelöst werden, sondern im Konflikt zwischen ihnen entsteht das vereinende Moment – in der Nicht-Auflösung besteht die Lösung. Über den „gewundenen Weg" nach China schafft es Heubel mit Hilfe des paradoxen Denkens des Daoismus, Adorno und Heidegger einander näher zu bringen und in deren Denken Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Dabei ist Heubels Vorhaben kein harmonisierendes, dessen Ziel es ist, Widersprüche zwischen den beiden Philosophen aufzuheben. Vielmehr möchte Heubel die Spannung zwischen den beiden Positionen aufrechterhalten, um von dort aus produktiv weiterzugehen:
„Der Streit zwischen Adorno und Heidegger zeigt eine Gestalt dieser Zerrissenheit, die ins 21. Jahrhundert hineinreicht. Beide stehen einander unversöhnlich gegenüber. Ihr Denken ist jedoch zugleich miteinander verknotet. Kein Schwerthieb kann diesen Knoten mit einem Schlag lösen. Das Leiden an diesem Knoten nötigt zu einem paradoxen Denken, das der Versuchung zu falscher Versöhnung widersteht. Lässt sich der Knoten durch Nicht-Lösung lösen?" (190)
Heubel möchte also das paradoxe Denken als Lösung für den philosophischen Streit zwischen Adorno und Heidegger anwenden – nämlich indem der Streit dadurch anerkannt und nicht aufgelöst wird. Teile des jeweiligen Denkens sollen sowohl affirmativ als auch ablehnend behandelt werden. Auf diese Weise sollen sich die beiden Philosophen konstruktiv ergänzen. Somit müsse vor Tendenzen in Heideggers Denken gewarnt werden, die einem mythischen und fast völkischen Denken Tür und Tor öffnen (15) – und einer Sprache, die Adorno im Jargon der Eigentlichkeit als dem Nationalsozialismus zugewandt entlarvt. Gleichzeit müsse aber Adornos Blockade teilweise geöffnet werden, um die positiven Anknüpfungspunkte für den chinesischen und interkulturellen Diskurs zu nutzen, die durch Heidegger ermöglicht werden. Dass sei auch nicht zuletzt nötig, um den chinesischen Diskurs durch den deutschen zu ergänzen und Adornos Kritik überhaupt erst fruchtbar für eine kritische Rezeptionen in China zu machen. Adorno alleine versperre durch diese Blockade den Weg nach China. Seine Blockade müsse in ihrer drastischen Form gelockert und durch Heidegger ergänzt werden. Heidegger eröffne dabei – und dafür spreche der große Anklang, den er in China gefunden hat – den Weg in den „Osten" (201). Dabei gehe es gerade darum, sowohl die chinesische Gegenwartsphilosophie als auch die politischen Tendenzen der Weltmacht China kritisch zu hinterfragen. Manche Äußerungen der chinesischen Gegenwartsphilosophie würden stark an manche Formulierungen Heideggers in den Schwarzen Heften erinnern (31 f.).
Durch Heubels interkulturellen Zugang möchte er sowohl geschichtliche Verstrickungen und ideengeschichtliche Bezüge aufweisen, Philosophiegeschichtsschreibung hinterfragen als auch kulturelle Verständigung fördern. Diese unterschiedlichen Ebenen der Analyse verbindet er virtuos mit philologischen Überlegungen. So ist es nicht verwunderlich, dass er nicht nur versucht, Heidegger und Adorno ins Gespräch zu bringen, sondern auch „Altes und Neues, Östliches und Westliches" (24). Alle verbindet das daoistische Element in einigen ihrer Texte – und damit letztendlich das paradoxe Denken. Dies findet auf zwei Ebenen statt: Einerseits können unterschiedliche Denkrichtungen durch den Daoismus ins Gespräch gebracht werden, andererseits finden sich immer wieder daoistische Momente auch in westlichen Philosophien. Zugleich möchte er – auch vor dem Hintergrund der Kritik Adornos – nicht den Fehler begehen, Heidegger und seine Philosophie zu entpolitisieren (13). Er beschönigt in keiner Weise Heideggers Verstrickungen in den Nationalsozialismus – die vom heutigen Standpunkt aus noch klarer seien als in der Zeit als Adorno Jargon der Eigentlichkeit und Negative Dialektik schrieb (73). Im deutschen Kontext müsse, so Heubel, nicht mehr darüber diskutiert werden, ob Heidegger intellektuell in das NS-Regime verwickelt war – die politischen als auch philosophischen Verstrickungen Heideggers mit dem Nationalsozialismus seien klar, allerdings finde gerade in China Heideggers Denken seit Jahren großen Anklang, was nicht zuletzt durch seine, zwar gewaltsame, aber für das Chinesische sehr empfängliche philologische Arbeit möglich sei (99, 21f.).
Aus diesem Grund sei gerade im interkulturellen Kontext eine Beschäftigung mit dem Spannungsverhältnis Heidegger-Adorno vonnöten. So könne man Heideggers philologisch umstrittene Auslegung des griechischen Wahrheitsverständnisses, der ἀλήθεια als Un-verborgenheit auch so interpretieren, dass Heidegger dort, wo er nach Hans-Georg Gadamer „nicht mehr griechisch" denke, beginne chinesisch zu denken (99). Anders als in der abendländischen Tradition mit ihrem logischer Wahrheitsbegriff, sei ein Begriff der Wahrheit als Un-verborgenheit in der chinesischen Denktradition durchaus üblich (100). Diese zunächst ontologischen Diskurse müssten um die politische Diskussion durch Adorno ergänzt werden, ebenso wie die politische Diskussion durch die „[weltphilosophische] Weite einer kritischen Besinnung" (201) mit Heidegger und dessen chinesischer Rezeption ergänzt werden müsste.
Dieses vielschichtige und komplexe Unterfangen gelingt Heubel erstaunlich leichtfüßig: Er eröffnet geschichtliche und philosophisches Kontexte und wechselt, wo nötig, souverän die argumentativen Ebenen und Methoden, ohne dabei den roten Faden zu verlieren. Ein Faden, der zweifelsohne gewunden ist. Einzig, dass Heubel an manchen Stellen klingt als würde er Heidegger vor Adorno verteidigen wollen, lässt die Lesenden zuweilen etwas irritiert zurück – hier hätte etwas mehr „Gespräch" gutgetan. Zum Ende hin – vor allem im abschließenden Kapitel – gelingt dieser Dialog dann noch ohne Verteidigungshaltung: Als Gespräch zwischen beiden, zwischen Ontologie und Dialektik, das die jeweiligen Schwächen und Stärken aufrechthält und paradox verbindet. Neben dieser paradoxen Gesprächssituation gibt es für Heubel ganz klare, nicht paradoxe Gemeinsamkeiten zwischen dem Denken Heideggers, Adornos und des Daoismus: Auf je eigene Weise betonen sie die paradoxe Struktur des Seins und kritisieren darin die mit Platon beginnende nicht-paradoxe Metaphysik (23). Das paradoxe Denken in „Ostasien", das „gegenwendige Denken" Heideggers und das negativ-dialektische Denken Adornos finden darin ihre Entsprechung.
Auf eine gut lesbare und dabei nicht vereinfachende Weise führt Fabian Heubel durch unterschiedliche Ebenen eines vielschichtigen Diskurses. Dabei fügen sich die verschiedenen Facetten in ein zusammenhängendes Bild, das nicht weniger möchte, als einen internationalen und interkulturellen Diskurs über unser Weltverhältnis zu führen. Dabei vergisst er die jeweiligen geschichtlichen und politischen Zusammenhänge nicht und zeigt, dass diese zu einer fundierten Auseinandersetzung mit philosophischem Denken dazugehören. Darin liegt die große Stärke des Buches: Es gelingt Heubel, Gemeinsamkeiten, Verbindungen und Zusammenhänge aufzuzeigen, dabei aber Differenzen und Unterschiede nicht zu vergessen. Wie viele verschiedene Ebenen im Buch zusammenkommen, fällt beim Lesen zuweilen gar nicht auf: Der gewundene Weg nach China geht sich mit Heubel erstaunlich leicht.
Fabian Heubel 何乏筆 hat das Buch im Vorfeld der Veröffentlichung auf seinem Youtube-Kanal begleitet und einige Passagen herausgestellt: https://www.youtube.com/watch?v=BXSgcuflZPo
Fabian Heubel: Gewundene Wege nach China. Heidegger – Daoismus – Adorno, Klostermann, Rote Reihe, Frankfurt: 2020