pro
Das utopische Denken entwächst einer Negation, denn es markiert einen Ort, den es nicht gibt (altgr. ou topos = »kein Ort«) und dessen Nichtexistenz von einem Fehlen zeugt. Der gegenwärtigen Gesellschaft fehlt es an etwas, sei es an Gerechtigkeit, an Freiheit oder an Glück, und diese Absenz wird als so elementar erlebt, dass in ihr die Sehnsucht nach einer anderen Welt aufscheint – einer gerechteren, freieren, glücklicheren Welt, die (noch) nicht ist. Die »Ortlosigkeit« der Utopie macht sie zu einem vielfach diskutierten Streitthema, meist ausgehend vom Vorwurf der vermeintlichen Unrealisierbarkeit: Utopien seien ferne, illusionäre Luftschlösser, die zum Eskapismus anregen, in Konfrontation mit der Realität jedoch zu Staub zerfallen würden.
Dabei ist es gerade die Fähigkeit, eine radikal andersartige Welt jenseits des Gegebenen zu entwerfen, die Utopien zu einem unentbehrlichen Instrument der Gesellschaftskritik macht. Die Wirklichkeitsferne von utopischen Entwürfen, die vielfach als Realitätsflucht diffamiert wird, kann als kreativer Überschuss begriffen werden, der dazu anregt, über das hinauszudenken, was unter den gegebenen Umständen als möglich erachtet wird. Dem Utopischen wohnt durch seine Abstoßung von der Realität das Potential eines Perspektivwechsels inne, der von der erlebten Ohnmacht in einem System befreien kann, in dem sich der Raum des Möglichen immer weiter zuzuziehen scheint. Das utopische Bewusstsein ist eine leise aufkeimende Hoffnung, die uns zuflüstert: Es könnte auch anders sein.
Gegenwärtig erleben wir, wie diese Hoffnung zunehmend verkümmert und einer tiefen Aussichtlosigkeit Platz macht. In Anschluss an Adorno lässt sich heute erst recht von einer »Schrumpfung des utopischen Bewusstseins« sprechen: Die Menschen wissen, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, doch ihnen fehlt es an dem Vermögen, eine andere Lebensform als reale Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Dieses Phänomen kann auch als »Utopophobia« betitelt werden und nimmt unter Bedingungen der Krise nahezu absurde Züge an: Eher neigen Menschen dazu, eine ausbeuterische Gesellschaftsordnung zu verteidigen, in der sie faktisch keine Zukunft haben, als einen imaginären Ausbruch zu wagen, welcher der Zukunft wieder positive Gestalt verleiht. In Form einer positiv illustrierten Negation der Verhältnisse stellen Utopien eine Abkehr von der Kontinuität des »weiter so« dar und ermahnen uns, dass es nicht nur anders werden könnte, sondern auch anders werden muss. In Zeiten der ökologischen Krise gilt es daher umso mehr, der Utopophobia die Stirn zu bieten und den U-topos mit multiperspektivischen Erzählungen eines neuen Zusammenlebens, mit vielgestaltigen Versprechungen und einem gemeinsamen Begehren zu besetzen, damit er Topos, Ort des Möglichen, werden kann.
Insofern sind Utopien als plurales, solidarisches Projekt zu verstehen, das einen Ausgangspunkt für gemeinsamen Widerstand bietet und Zukunft – entgegen aller Vorwürfe der Nicht-Realisierbarkeit – gemeinschaftlich lebendig werden lässt. Dabei sollte kritisch hinterfragt werden, welche Narrative sich in die imaginierten Lebenswelten einschreiben und welche gesellschaftlichen Standpunkte hierbei (re-)produziert werden. In dieser Hinsicht ist ein Misstrauen gegenüber positiven Utopien, die einen gesellschaftlichen Idealzustand als normativen Maßstab fixieren und dabei Gefahr laufen, marginalisierte Perspektiven auszuklammern und bestehende Machtmechanismen fortzuschreiben, vollkommen berechtigt und sollte nicht leichtfertig von der Hand gewiesen werden. Dennoch wäre es falsch, dem Risiko einer totalitären Vereinnahmung von Utopien mit einem anti-utopischen Bilderverbot entgegenzuwirken. In Zeiten zunehmender Verunsicherung und Resignation braucht es eine konkrete Wiederbelebung emanzipatorischer Utopien, die den Raum des Möglichen in Richtung des Unmöglichen ausweiten! /vl
contra
»Wie wird aus einem Nichtort ein Ort?«, stand Ende September 2021 in Buchstaben auf Tafeln aufgereiht vor dem Berliner Schloss. Eine Frage, die auf die Verwirklichung einer Utopie als des Nichtorts anspielt und mittels des Ausbuchstabierens der Negation des Orts bereits die Problematik der Utopie ausdrückt, nämlich nicht nur die Frage nach dem »Wie«, sondern die ihres Orts im räumlichen wie auch zeitlichen Sinn.
Der Raum, in dem sich Utopie verwirklichen soll, bildet in verschiedenen Theorien und Gesellschaftskritiken das »Hier« oder, theologisch gesprochen, das »Diesseits«, dessen Umstände zur Entwicklung von – basierend auf Morus’ Wortspiel im englischen von utopia und eutopia – positiv bestimmten Vorstellungen eines guten Nichtorts führen. Trotz der Orientierung am Diesseitigen enthält die Utopie das Potential, dass ihr Ausmalen zu einer Verlagerung in ein »Jenseits« führt, da die in ihr enthaltenen Vorstellungen von beispielsweise absoluter Gerechtigkeit und Freiheit gegenwärtig unerfahrbar und entsprechend unvorstellbar sind, sodass sich sogar eine Resignation angesichts ihrer ausbleibenden Verwirklichung einstellt.
Sicherlich ist es möglich, Begriffe wie »Gerechtigkeit« oder »Freiheit« zu definieren und diese als zu verwirklichenden Ist-Zustand zu avisieren, jedoch bergen positive Bestimmungen das Risiko, etwas zu missachten, sozusagen einen »blinden Fleck« zu enthalten oder zu reproduzieren, abhängig davon, von wem eine Utopie ausgemalt wird. Angenommen, die Utopie wird von »der Gesellschaft« entworfen, so stellt sich die Frage, was unter »Gesellschaft« zu verstehen ist. Schließlich finden sich global wie auch lokal Ausgrenzungsmechanismen und eine ungleiche Betrauerbarkeit von Leben, weswegen verneint werden muss, dass derzeit »die« Gesellschaft als Gesamtsubjekt der Utopie verstanden werden kann. Für die Ausmalung der Utopie wäre diese als Gesamtsubjekt ohne erwähnte »blinde Flecken« erst herzustellen. Hierfür ist es naheliegend, Benjamins Rede der bisherigen »Geschichte vom Standpunkt des Siegers« auf die Zukunft umzukehren und diese von den Nicht-Siegenden schreiben zu lassen, jedoch verbunden mit der Frage, wie mit den zur Aufgabe ihrer Dominanz geforderten Siegenden ein gemeinsamer Entwurf der Utopie geteilt werden kann.
Nicht zuletzt diese Frage weist darauf hin, was viel dringender benötigt wäre sowohl in der Entwicklung von Gesellschaftskritik als auch in deren tatsächlichen Anwendung als das Ausmalen einer Utopie – eine stetige Erinnerung an vergangenes Leid. Diese Erinnerung bedarf es, da im Entwerfen der Utopie der Gedanke der Zukunft gilt, nicht zuletzt aber durch das Vergessen der Vergangenheit blinde Flecken reproduziert werden. Sofern zunächst ein Begreifen und Zulassen des Ergriffenseins von Leid vorhanden sind, dieses wiederum als stetige Erinnerung an das, was nicht sein soll, in Denken und Handeln mitaufgenommen wird, entsteht nicht nur eine Sensibilität für dieses Leid, sondern auch ein unabschließbarer gesellschaftlicher Transformationsprozess ausgehend von dieser Negation.
Schlussendlich zielt meine Überlegung, Utopien nicht zu brauchen, insbesondere darauf ab, dass es etwas anderes viel dringender bräuchte, um (negative) Utopien, in denen beispielsweise die Vorstellung einer Welt ohne Leid enthalten wäre, überhaupt ausmalen zu können. Adorno folgend mögen wir zwar »[…] nicht wissen, was das absolut Gute […] sei, aber was das Unmenschliche ist, das wissen wir sehr genau.« Es ist eben die Erinnerung an das Wissen dieses »Unmenschlichen«, so wäre auch dem Berliner Schloss zu entgegnen, die wir vor aller Utopie und Frage danach brauchen. /ccc