Der Begriff des Politischen nimmt in Simone Weils umfangreichen, fragmentarischen Schriften einen besonderen Stellenwert ein. Er wird weniger als ein zu definierender Terminus oder ein zu bestimmender Begriff betrachtet, sondern vielmehr als ein Problem, mit dem Weil sich ständig auseinandersetzt. Dieser problematische Status wird durch eine Ambivalenz angedeutet, die Weils Verhältnis zum Bereich der Politik kennzeichnet. Während ihres gesamten Erwachsenenlebens, und sogar schon davor, engagiert sich Weil bekanntlich aktiv in einer Reihe von Bewegungen und Gruppen, die sich für radikale soziale Veränderungen einsetzen. Aber dieses Engagement, das nur politisch genannt werden kann, wird von ihren frühesten Schriften an immer von einer Kritik der Politik begleitet: einer Kritik, die oft in Ablehnung mündet – nicht nur dieser oder jener politischen Position, sondern der Politik im Allgemeinen. Und doch kann man sagen, dass diese Ablehnung der Politik Weils Kritik nur dann charakterisiert, wenn man sie verbunden mit einer zweiten, ebenso hartnäckigen Ablehnung versteht, das Politische als solches aufzugeben.
In den frühen Schriften ist diese Kritik bereits nach einem Schema organisiert, das auch Weils Spätwerk prägen wird. In diesen Schriften, die sich mit Fragen der Freiheit und der Befreiung auseinandersetzen, unterscheidet Weil immer wieder zwischen dem »Politischen« auf der einen und dem »Menschlichen« auf der anderen Seite (vgl. Weil, Oeuvres Complètes, 1:300–302). Die Unterscheidung wird dabei in einer Weise verwendet, die an den jungen Marx erinnert, der in seinem philosophischen Frühwerk bekanntlich zwischen zwei Emanzipationsbegriffe unterschieden hatte, die ebenfalls als »politisch« und »menschlich« bezeichnet wurden (vgl. Marx, Werke, 1:347–377). Die politische Emanzipation wäre eine, die durch die Formen des Staates, des Rechts und des atomisierten Individuums als Rechtsperson strukturiert ist. Obwohl der politische Bereich einen Emanzipationsanspruch beinhaltete, war die Freiheit, die er verwirklichte, durch die inhärenten Grenzen dieser Formen eingeschränkt und daher notwendigerweise unvollständig. Eine umfassende und vollständige Emanzipation des Menschen müsste über das Politische hinausgehen, d.h. über die Grenzen und Beschränkungen der politischen Form.
Diese Unterscheidung zwischen dem »Politischen« und dem »Menschlichen« taucht bei Weil wieder auf, wenn auch neu interpretiert und transformiert. Der vielleicht auffälligste Punkt dieser Neuinterpretation ist, dass Weil sich, um das Element des Menschlichen zu denken, das vom Politischen ausgeschlossen ist, auf die Sphäre der Religion bezieht. In ihren frühen Schriften ist Weils Kritik an der Politik mit einer Neubetrachtung des Begriffs der »Befreiung« verbunden, die nicht nur von der antiken und neuzeitlichen Philosophie, sondern ebenso von religiösen Themen wie »Erlösung« (délivrance) und »Gnade« (grace) geprägt ist (vgl. Oeuvres, 1:90–91 und 382). In ähnlicher Weise dreht sich ihre frühe Krisentheorie und der damit verbundene Zusammenbruch politischer Kategorien um die Rückkehr zu einem Zustand, der mit einem religiös aufgeladenen Begriff beschrieben wird, der schon in ihren frühen Schriften entwickelt wurde: attente, »Warten« oder »Erwarten« (1:120–24). Aber vor allem in den späten Schriften greift die Kritik der Politik – der Rechtsperson, des Rechts, des Staates – nachdrücklich auf den Bereich der Religion zurück. Um das im Politischen unzureichend verwirklichte Element der menschlichen Existenz zu artikulieren, verwendet Weil konsequent Begriffe, die unverkennbar religiös aufgeladen sind: das Heilige, das Unglück, die Gerechtigkeit.
Obgleich Weil nie aufhört, Politik und Religion zu unterscheiden, wäre es ein Fehler – wenn auch ein weit verbreiteter –, anzunehmen, dass sie die beiden Bereiche einander bloß gegenüberstellt. Wenn Weil sich der Religion zuwendet, bedeutet dies nie einfach eine Abkehr vom Politischen. Ganz im Gegenteil: was Weil im Bereich der Religion sucht, würde ich behaupten, ist eine Dimension der menschlichen Erfahrung, die am Ursprung des Politischen liegt. Weils Interesse an der Religion ist also zumindest teilweise mit dem verbunden, was man eine Archäologie des Politischen nennen könnte: eine Untersuchung der archē, des Ursprungs des politischen Lebens, die Weil zu uralte Texten und Begriffe führt, insbesondere denen der griechischen Antike und des frühen Christentums. Begriffe wie »Kraft« und »Unglück«, »das Heilige« und »die Gerechtigkeit« erhalten ihre Bedeutung im Kontext von Weils Versuchen, einen Bereich des menschlichen Lebens zu artikulieren, der sowohl dem Politischen vorausgeht als auch den Menschen zur politischen Existenz antreibt – ein Bereich, den man in diesem Sinne als »proto-politisch« bezeichnen könnte.
Auch Weils Kritik der Politik kann im Lichte dieser Archäologie verstanden werden. Der moderne Begriff der Politik, so die zentrale Diagnose von Weils Kritik, bleibt hinter diesem ursprünglichen Impuls zurück. Die »Leute von 1789« proklamierten Begriffe von Freiheit, Recht, und vom Menschen qua politisches Wesen, die, gemessen an diesem Impuls, dazu bestimmt sind, »unzulänglich« (insuffisant) zu bleiben (5.1:221, 213). In den späten Schriften wird diese Unzulänglichkeit in einem doppelten Bild festgehalten. Auf der einen Seite präsentiert Weil das Bild eines Kindes, eines kleinen Jungen, der darüber besorgt ist, dass sein Bruder keinen größeren Teil des Kuchens erhält als er – ein Bild, das hier das Subjekt der modernen Politik, den Menschen als Träger von Rechten, heraufbeschwört (214). Dem stellt Weil das Bild eines weinenden Säuglings gegenüber, dessen Weinen als Ausdruck einer grundlegenderen Erfahrung von Ungerechtigkeit gedeutet wird, die modernen Vorstellungen von politischem Leben sowohl vorausgeht als auch über sie hinausgeht (214). Beide Seiten dieses ontogenetischen Bildes treffen in Weils Verweisungen auf den »Schrei« (cri) der »Leute von 1789« zusammen (221) – ein Jahr, das für sie sowohl die Wiederkehr eines ursprünglichen Impulses als auch dessen unzureichende Artikulation ausdrückt. Der »Schrei« als zentrale Figur von Weils Archäologie ist hier nicht nur Ausdruck eines Bereichs, der dem Politischen vorausgeht, sondern gleichfalls, und das ist entscheidend, der Ruf nach einer anderen Politik – einer, die erst noch erfunden und verwirklicht werden muss. Was in Weils Archäologie immer auf dem Spiel steht, ist die Möglichkeit einer Politik, die erst noch kommen muss.
Kraft und Gerechtigkeit
Diese beiden miteinander verwobenen Projekte – die Kritik der Politik und die Archäologie des Politischen – werden in einer Reihe von Aufsätzen aufgegriffen, die Weil in den letzten Jahren ihres kurzen Lebens schrieb. Diese späten Aufsätze sind nicht als ein System im herkömmlichen Sinne zu verstehen: vielmehr handelt es sich um eine Reihe von einzelnen Experimenten, um tastende Versuche, sich mit einem gemeinsamen Problem auseinanderzusetzen. Eines der auffälligsten dieser Experimente ist ein kurzer Aufsatz mit dem Titel »Ringen wir um die Gerechtigkeit?« (Luttons-nous pour la justice?) den sie während ihres Aufenthalts in London in 1842–43 verfasste (5.1:240-49). Der Aufsatz ist insofern bemerkenswert, als er versucht, disparate Elemente von Weils Untersuchungen über den Ursprung des Politischen zusammenzuführen, die sonst über ihre späten Schriften verstreut sind. Der Text führt diese nach einem Schema zusammen – eine Unterscheidung zwischen zwei Sphären des menschlichen Lebens, die auch ihre anderen späten Schriften prägt. Auf der einen Seite steht die Sphäre der Kraft (force), d.h. die Sphäre des menschlichen Lebens, die von der Logik der Kraft bestimmt wird; auf der anderen Seite steht die Sphäre der Gerechtigkeit (justice).
Im Geiste ihrer Archäologie, sucht Weil in ihrem Spätschriften nach Erkenntnissen über das Wesen beider Sphären in den beiden uralte Quellen, auf die ich bereits hingewiesen habe: der griechischen Antike und dem frühen Christentum. Ihren Begriff der Kraft hat Weil in den Jahren zuvor in ihrem berühmten Aufsatz über die Ilias – das »Gedicht der Kraft« – entwickelt (2.3: 227–253). Für ihre Untersuchung des Begriffs der Gerechtigkeit wendet sie sich hier – wie auch in anderen Texten jener Jahre – biblische Lehren, Figuren und Bildern zu. Diese beiden Quellen sind für Weil von entscheidender Bedeutung, da sie die tiefe Unterscheidung zwischen den beiden Sphären erhellen. Dass diese Unterscheidung jedoch alles andere als eindeutig ist, sondern vielmehr einer ständigen Verwirrung unterliegt, ist eine zentrale These von Weils kritischem Projekt. Der emblematische Ort dieser Verwirrung ist für Weils weder Troja noch Jerusalem, sondern Rom (5.1:222), Der Begriff der Kraft, den sie bei ihrer Lektüre der Ilias entdeckte, implizierte bereits eine Kritik an der Form der Gerechtigkeit, die Rom in diesem historisch-philosophischen Schema repräsentiert: das Recht. Das Recht kann in Weils Spätwerk verstanden werden als Zeichen einer Verwirrung über das Wesen der Gerechtigkeit: während das Recht behauptet, die Gewalt der mythischen Welt hinter sich zu lassen, versuchen Weils späte Aufsätze die Intuition zu artikulieren, dass das Recht in Wirklichkeit nichts anderes als die Fortsetzung von Gewalt ist (5.1:221). Ihre Unterscheidung im Aufsatz über die Ilias zwischen einer »Kraft, die tötet« und einer »Kraft, die noch nicht tötet« (2.3:228); ihre Behauptung, dass dies nur zwei Seiten derselben ursprünglichen Gewalt sind, die den Menschen auf ein Ding reduziert, wenn auch ein Ding, das lebt – dies ist derselbe Gewaltbegriff, der ihren späten Kritiken am Staat, am Recht, am Rechtsstreit und am Geist des Krieges, der für sie in Friedenszeiten in der Rechtsordnung fortbesteht, zugrunde liegt.
In dem Aufsatz »Ringen wir um die Gerechtigkeit?« wagt Weil sich nicht explizit an die Kritik des Rechts. Sie eröffnet den Aufsatz jedoch, indem sie den Schauplatz einer Verwirrung zwischen der Logik der Kraft und dem Begriff der Gerechtigkeit heraufbeschwört: eine Welt, die durch die vollständige Absorption des Letzteren – der Gerechtigkeit – in das Erstere – die Kraft – gekennzeichnet ist. Der Aufsatz beginnt also mit einer gefallenen Welt, die hier von der griechischen Spätantike geprägt ist und durch die Darstellung der Athener evoziert wird, die in Thukydidesʼ Bericht der Stadt Melos ein Ultimatum stellen sollen. »Die Untersuchung dessen, was gerecht ist,« verkünden sie,
»wird nur dann durchgeführt, wenn auf beiden Seiten die gleiche Notwendigkeit besteht. Wo es einen Starken und einen Schwachen gibt, wird das Mögliche von dem ersten ausgeführt und von dem zweiten akzeptiert« (5.1:240).
Die Bedeutung dieses Zitats für Weil bedarf kaum einer Erklärung. Die Gerechtigkeit gründet sich hier ganz auf eine Logik der Kraft; die »Untersuchung des Gerechten« (l‘examen de ce qui est juste) geschieht nur unter der Bedingung, dass auf beiden Seiten eines Konflikts »gleiche Notwendigkeit« besteht. In der Beziehung zwischen dem Starken und dem Schwachen gibt es kein anderes Kriterium für das, was getan werden darf oder soll, als die bloße Möglichkeit. Das Mögliche wird ausgeführt, das Mögliche wird akzeptiert. Dem Schwachen kann alles angetan werden. Die Frage nach der Gerechtigkeit stellt sich erst, wenn die Schwachen aufgehört haben, schwach zu sein – d.h. aus der Notwendigkeit heraus. Was am Ende als gerecht oder ungerecht angesehen wird, ist dazu bestimmt, nur ein Kräftefeld zu widerspiegeln.
In ihrem Kommentar zu diesem Zitat fügt Weil hinzu, dass die kriegslüsternen Athener damit »in zwei Sätzen die Totalität der Realpolitik zum Ausdruck bringen« (240). La politique réaliste: d.h. eine Politik, die den Anspruch erhebt, der Realität der menschlichen Existenz gerecht zu werden. Um den allumfassenden Charakter dieses Anspruchs zu verdeutlichen, zitiert Weil die folgende Erklärung der Athener an eine angeschlagene Stadt: »Was die Götter betrifft, so haben wir den Glauben, was die Menschen betrifft, die Gewissheit, dass jeder durch eine Naturnotwendigkeit immer dort herrscht, wo er die Macht dazu hat.« Nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter sind der Logik der Kraft unterworfen; chacun commande partout où il en a le pouvoir. (240)
Einwilligung ohne Verweigerung
Weil ergänzt diese Aussagen, die das Gesetz einer realitätsgerechten Politik festhalten, mit einer Passage aus einer anderen griechischen Quelle: Platon. Im Symposion findet sie eine beispielhafte Formulierung für den Gerechtigkeitsbegriff, den sie den Griechen zuschreibt: »Die Liebe tut weder Ungerechtigkeit noch duldet sie Ungerechtigkeit,« zitiert sie Platon, in ihrer eigenen Übersetzung. »Wo es eine Übereinstimmung aus gegenseitiger Einwilligung gibt, gibt es Gerechtigkeit, sagen die Gesetze der königlichen Stadt« (240–41). Der Begriff der Einwilligung taucht in Weils Auseinandersetzung zunächst auf, um das Ultimatum der Athener zu verdeutlichen, insbesondere ihren »Gegensatz zwischen dem Gerechten und dem Möglichen.« Erst wenn sich die Kräfte auf beiden Seiten die Waage halten, wenn eine Übereinstimmung aus gegenseitiger Einwilligung notwendig wird, kommt die Frage der Gerechtigkeit ins Spiel. Weil geht es also um die Frage nach dem Ursprung der Gerechtigkeit: nicht um die Bestimmung des Gerechten oder Ungerechten, sondern darum, wie die »Untersuchung« der Gerechtigkeit anfängt. Die Antwort ist bis zu diesem Punkt ganz von der Logik der Kraft diktiert: Die Untersuchung und das Streben nach Gerechtigkeit entstehen aus der Notwendigkeit heraus – es ist lediglich das Bedürfnis nach Einwilligung, wenn ein Befehl nicht mehr durchgesetzt werden kann.
Weil fasst dies in einem Satz zusammen, der beiläufig einen neuen Begriff einführt, der mit dem der Einwilligung einhergeht, nämlich die »Fähigkeit zur Verweigerung« (la faculté de refuser) oder, wie sie es später nennt, die »Macht zur Verweigerung« (le pouvoir de refus). »Wenn jemand nicht das Vermögen hat, zu verweigern,« schreibt Weil, »wird man nicht nach einem Weg suchen, um seine Einwilligung zu erhalten« (241). Bemerkenswerterweise interpretiert Weil diesen Satz nicht als eine Behauptung, die es abzulehnen gilt, sondern als ein Gesetz des menschlichen Handelns im Allgemeinen. In einer merkwürdigen Passage deutet Weil an, dass diese Regel die Grundlage für eine allgemeine Theorie der Handlung bildet:
»Wann immer es eine Handlung gibt, bewegt sich das Denken auf sein Ziel zu. Ohne Hindernisse würde das Ziel erreicht werden, sobald es gedacht wird. [...] Aber wenn die unmittelbare Erfüllung unmöglich ist, wird der Gedanke, der zunächst auf das Ziel gerichtet ist, unweigerlich von den Hindernissen in Anspruch genommen.« (241)
Daher »ist das, was in dieser Handlung kein Hindernis darstellt – zum Beispiel Menschen ohne die Fähigkeit, sich zu verweigern –, für sie durchsichtig, so wie völlig klares Glas für den Blick durchsichtig ist.« Dies ist, wie Weil betont, halt notwendig – cela est nécessaire. (242)
So zeichnet Weil ein verkürzten, düsteres Bild des menschlichen Lebensbereichs, der ganz auf der Logik der Kraft beruht. An diesem Punkt, an dem sich die Frage stellt, was diese Logik unterbrechen könnte, wendet sich Weil religiösen Motiven zu. Wenn das Handeln in der hier skizzierten Weise zu verstehen ist, dann ist es, so Weil, in der Regel »mit einem Sakrileg behaftet« (souillée de sacrilege). Und sie präzisiert dies: »Denn die menschliche Einwilligung ist etwas Heiliges« (chose sacrée) (242). Der Begriff der Einwilligung, um den es hier geht, ist jedoch ein anderer als der zuvor besprochene: Es handelt sich um einen Begriff, der nicht durch die Logik der Kraft bedingt ist. Es ist eine bedingungslose Einwilligung, die nicht als notwendige Folge von Kraft angestrebt wird. Weil definiert sie mit einer doppelten Verneinung: Es ist eine Einwilligung, die auch dort gesucht wird, »wo es keine Möglichkeit der Verweigerung gibt« (242). In ihren frühesten überlieferten Schriften hatte Weil diesen Begriff der Gerechtigkeit als Einwilligung in Verbindung gebracht mit dem kantischen »Reich der Zwecke« oder dem, was sie auch eine »Stadt der Zwecke« nennt (1:255) – eine Ordnung also, in der der Mensch niemals nur als Mittel, sondern immer als Selbstzweck behandelt wird. Hier führt Weil stattdessen ein religiöses Motiv ein – die Forderung nach Gerechtigkeit als Einwilligung, behauptet sie, wird durch das christliche Bild von Gott als Bettler eingefangen. »Die menschliche Einwilligung ist das, was Gott sucht, wenn er wie ein Bettler auf die Menschen zugeht [ce que Dieu vient chercher comme un mendiant auprès des hommes].« (5.1:242)
Wir haben es hier mit einer Welt zu tun, die von der Logik der Kraft beherrscht wird – und doch gibt es in dieser Welt etwas, das nicht ganz auf dieser Logik zurückzuführen ist. Die Figur des Bettlers stellt hier einen spezifischen Begriff der Gerechtigkeit dar: der Bettler ist nicht die Figur einer Macht, die entscheidet und festlegt, was gerecht und ungerecht ist, sondern stellt ein Ruf nach Gerechtigkeit dar. Dieser Ruf kommt aus einer Position der Ohnmacht und ist auch selbst, als Ruf, ohnmächtig. Weil artikuliert dies bereits in einem ihrer ersten erhaltenen Texte, wenn sie auf diese besondere Eigenschaft des Rufs nach Gerechtigkeit hinweist. Im Gegensatz zum Recht, das die Möglichkeit voraussetzt, dass es durchgesetzt wird, erhebt die Gerechtigkeit, so Weil, »kein Anspruch«: la justice n’exige rien (1:256). Dass die Gerechtigkeit kein Anspruch erhebt, bedeutet, dass es sich um eine Forderung handelt, die sich durch ihre Unmöglichkeit der Durchsetzung auszeichnet. Es gibt keine Kraft, die diesen Ruf unterstützt und die die Suche nach Einwilligung notwendig machen würde – weder direkt noch indirekt. Der Ruf des Bettlers kann keine direkte Unterstützung in der physischen Kraft des Körpers des Bettlers finden, der nicht dem angesprochenen Individuum auf der Straße gegenübersteht, sondern der geballten Macht der politischen Gemeinschaft, die durch die vorbeiziehende Menge repräsentiert wird. Der Bettler kann auch keine indirekte Unterstützung in der Gewalt finden, da der Bettler eine Forderung vertritt, die nicht in die Rationalität von Rechten und Verpflichtungen übersetzt werden kann. Die Figur des Bettlers erinnert an einem Bild, das in einem anderen späten Aufsatz von Weil vorgestellt wird: das eines »Unglücklichen« (malheureux), der vor einem Richter ›stammelt‹« (5.1:215).
Die Figur des Bettlers reiht sich also ein in andere Figuren in Weils späten Schriften, vor allem in die des Sklaven und des Bittstellers – die Besiegten, die sich in dem Aufsatz über die Ilias der Barmherzigkeit des Siegers ausgesetzt sehen (2.3:230–232). Es handelt sich nicht einfach um Figuren der Machtlosigkeit, der absoluten Asymmetrie der Kräfte im Bereich der menschlichen Beziehungen, sondern um Figuren eines Bereichs, der sowohl jenseits als auch vor dem Politischen liegt. Dem Bettler wird nichts geschuldet – und doch ruft er nach Gerechtigkeit. Diese Aspekte des Rufs nach Gerechtigkeit werden in dem »absurden« Bild – wie Weil es nennt – von Gott als Bettler auf die Spitze getrieben (5.1:242). Der Ruf nach einer göttlichen, d.h. unbedingten Gerechtigkeit erscheint in der Welt als völlig machtlos. Nicht nur ohnmächtig, sondern auch unvernünftig: Weil beschreibt die »Liebe der Gerechtigkeit,« also die »Suche nach Einwilligung, wo es keine Macht der Verweigerung gibt,« als Ausdruck eines »Wahnsinns« (folie) (242). Weil veranschaulicht dieser Wahnsinn der Gerechtigkeit, indem sie zu Beginn des Aufsatzes die Verwirrung von Kraft und Gerechtem heraufbeschwört: »Diese Worte hätten eine Antwort an die athenischen Mörder von Melos sein können. Sie hätten sie wirklich zum Lachen gebracht. Und das zu Recht. Sie sind absurd. Sie sind verrückt.« (242)
Dieser Begriff der Gerechtigkeit – als Suche nach Einwilligung, wo es keine Möglichkeit der Verweigerung gibt – verweist auf einen Bereich, der jenseits des Politischen liegen mag, außerhalb der Reichweite der Logik von Kraft und Recht, aber ihr nicht entgegengesetzt ist. Es ist kein Zufall, dass Weil sich gerade zu dem Begriff der Gerechtigkeit hingezogen fühlt, als einer der zwischen dem Religiösen und dem Politischen oszilliert. In diesem Text, wie auch in den anderen Spätschriften, zieht Weil die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Kraft nicht, um das Politische einfach aufzugeben, es seiner eigenen Mechanik zu überlassen und sich aus den »Kämpfen« zurückzuziehen – der lutte, die im Titel des Aufsatzes in Frage gestellt wird. Nach der Erörterung des »verrückten« Verlangens nach Gerechtigkeit, das im Bild von Gott als Bettler festgehalten ist, kehrt Weil auch hier wieder zu den politischen Realitäten ihrer Zeit zurück. Die Frage ist hier – wie auch in ihrem berühmten Aufsatz über die Person und das Heilige –, wie eine Politik verstanden werden kann, die diesem Ruf folgt. Was wäre eine Politik, die, mit anderen Worten, von der Stimme ausgeht, die strukturell vom Politischen ausgeschlossen ist? Was dem Leser von Weils späten Überlegungen zum Religiösen und Politischen bleibt, sind jedoch keine endgültigen Schlussfolgerungen oder Konsequenzen, sondern Implikationen, die noch zu entfalten sind.
Literaturverzeichnis
Marx, Karl: »Zur Judenfrage«. In: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin: Dietz Verlag 1976, S. 347–377.
Weil, Simone: Oeuvres Complètes, Bd. 1–7, Paris: Librairie Gallimard 1988–2012.