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Nr. 1 / 2023
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Simone Weil

Anmerkungen zur Anmerkung: politische Parteien und radikale Demokratie

Es scheint mir notwendig, diesen Text mit einem persönlichen Hinweis zu beginnen: Ich kenne Simone Weil als historische Persönlichkeit, habe sie bisher jedoch nicht als Kommentatorin und Kritikerin ihrer Zeit, als politische Denkerin und Theoretikerin gelesen – auch wenn das natürlich einen großen Teil ihrer Persönlichkeit ausmacht. Ich kann daher im Folgendem nicht wirklich bewerten, wie sich ihr Text Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien in ihr Gesamtwerk einfügt. Was mich hier vielmehr interessiert, ist, den Text für sich stehend zu interpretieren und diesen aus einer radikaldemokratischen Perspektive zu befragen, ob Weil nicht eine Vordenkerin aktueller sozialer Bewegungen sein könnte. Denn sowohl in der radikalen Demokratietheorie als auch in aktuellen sozialen Bewegungen sind Parteien als Organisationsdispositive für demokratisches Handeln durchaus umstritten. Allerdings glaube ich, dass mein Kommentar – bis auf eine entscheidende Ausnahme – durchaus berechtigte Fragen an Weils Argumentation aufwirft und es zweifelhaft ist, ob ihre Anmerkungen wertvoll für die radikale Demokratietheorie und/oder soziale Bewegungen sein können. Die Ausnahme betrifft das, was ich in diesem Text die »Parteiisierung« der Gesellschaft und des Denkens nenne. Mit diesem Begriff versuche ich, Weils Vorwurf auf den Punkt zu bringen, dass sich das Verhalten als Partei, dass Parteiergreifen an sich und damit einhergehend das Verschwinden der Grau- und Zwischentöne, die Pluralität des Denkens und des selbständigen Denkens überhaupt nicht nur auf der Ebene institutionalisierter Politik, sondern auch in anderen Bereichen der Gesellschaft, wie Kunst oder Wissenschaft, ausbreitet. In dem folgenden Essay werde ich daher zunächst die Anmerkungen rekonstruieren und dann mit der radikalen Demokratietheorie Chantal Mouffes diskutieren. Mouffe deswegen, da ihre Position innerhalb der radikalen Demokratietheorie vermutlich am weitgehendsten auf Parteien setzt und – wie ich zeige – sie keine (befriedigende) Antwort auf Weils (berechtigten) Vorwurf der »Parteiisierung« gibt. Da Weil aber selbst nur wenig dazu sagt, versuche ich am Ende, eine radikaldemokratische Aneignung dieses Vorwurfs über die Überlegungen eines anderen radikaldemokratischen Theoretikers, Jacques Rancière, zu den Occupy Wall Street Protesten 2011.

Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien

Dass Parteien in parlamentarischen Demokratien immer mal wieder in allgemeiner Kritik stehen, ist nichts Neues. Was vielleicht neu ist, ist, dass diese Kritik in den letzten Jahren vermehrt von rechts kommt. Eine linke bis anarchistische Kritik kopierend, dass Parteien inhärent nicht in der Lage seien, ihr Versprechen der Repräsentation einzuhalten, wird darauf verkürzt, dass dies den als »Alt‑« oder »System‑Parteien« bezeichneten nicht gelänge und es deshalb neue und vor allem wahre Parteien bräuchte, die dem – natürlich nationalen – wahren Volkswillen Ausdruck verliehen und diesen führend in die Tat umsetzen könnten. Ob es dabei noch einen irgendwie demokratischen Anspruch gibt, scheint dann lediglich eine Frage der Rhetorik zu sein. Dagegen hat vor einiger Zeit eine Kritik aus sozialen Bewegungen wie Movimiento 15-M oder Occupy Wall Street die Frage gestellt, ob Parteien überhaupt demokratisch genug sein, und dem einerseits die Idee der Bewegungspartei (wie Podemos oder Syriza) oder andererseits die general assembly und das Konsensprinzip entgegengestellt. Eine ähnliche Debatte lässt sich auch in der Diskussion um Post-Demokratie und radikale Demokratie in der Politischen Theorie wiederfinden (vgl. dazu Leonhardt/Nonhoff 2019).

Die Frage nach der Demokratiefähigkeit und den Beitrag zur Demokratie von Parteien stellt sich vor 70 Jahren kurz vor ihrem Tod und mitten im Zweiten Weltkrieg auch Simone Weil. In dem kurzen, aber pointierten Text Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien argumentiert sie, dass einzig das Gute ein Zweck sei, und es daher zu untersuchen gelte, ob Parteien ein Mittel seien, die man zu diesem Zwecke anwenden könne. Schon der Titel lässt ahnen, dass Weils Untersuchung nicht gut für die Partei ausfällt. Denn anstatt ein Mittel zu sein, sei die Partei alleiniger Selbstzweck. Das war auch schon 1943, wenn nicht gerade (mehr) eine populäre, aber schon bekannte These. Sie lässt sich implizit bereits in Michael Bakunins (2007 [1882]) Autoritätskritik in Gott und der Staat finden, als auch sehr viel explizierter in Robert Michels (1989 [1911]) Untersuchung zur Oligarchie im Parteienwesen. (Auch wenn letzterer durch seine faschistische Wende vermutlich kein Referenzpunkt für Weil mehr sein konnte.)

Während Bakunin jedoch vor unhinterfragbaren wissenschaftlichen und politischen Autoritäten warnte, die sich lediglich an die Stelle der organisierten Religion setzen wollten, und Michels die für ihn unvermeidbaren Dynamiken einer sich verselbständigten Parteielite herausarbeitete, geht Weil zu Jacques Rousseau und dem Gemeinwillen zurück. Die Vorstellung, die hinter Rousseaus Idee des Gemeinwillens steht und was diesen zu mehr als nur bloß dem Willen der Mehrheit macht, ist, dass sich in ihm die einzelnen Willen aller auf eine bestimmte Art und Weise zueinander verhalten. So gibt es für Rousseau für einen individuellen Willen immer einen anderen, entgegengesetzten Willen und so gleichen sich die verschiedenen »Willen« immer aus, sodass das, was am Ende übrigbleibt, der Gemeinwille ist (Rousseau 1977 [1762], 88). Der citoyen Rousseaus ist ein Einzelner und als solcher den Gesetzen unterworfen. Er wird aber quasi erst zum citoyen, wenn er sich mit anderen (als Volk) versammelt und an der Schaffung von Gesetzen, denen er als Einzelner wieder unterworfen ist, mitwirkt. Er kann das aber nur auf eine vernünftige Art und Weise tun, wenn er in der Versammlung aller wieder ein Einzelner ist, wenn nichts zwischen ihm und der Bildung des Gemeinwillens besteht. Parteien seien jedoch Zusammenfassungen von (Einzel-)Willen und störten so den Prozess der Bildung des Gemeinwillens und verzerrten letztendlich seinen Ausdruck (Rousseau 1977 [1762], 88 f.).

Den Grund dafür nennt Weil, indem sie darauf hinweist, dass der Gemeinwillen bei Rousseau nicht nur einfach Gemeinwillen ist, sondern dass dieser als solcher vernünftig ist und dass seine Vernunft in der Art und Weise seiner Konstitution liegt. Denn Rousseau – so Weil – ginge von zwei Evidenzen aus:

»Die eine ist, dass die Vernunft die Gerechtigkeit und den unschädlichen Nutzen erkennt und wählt und dass jedes Verbrechen aus Leidenschaft geschieht. Die andere besagt, dass die Vernunft bei allen Menschen dieselbe ist, wohingegen die Leidenschaften meist voneinander abweichen« (Weil 2009 [1943], 9).

Wenn die Vernunft bei allen dieselbe ist, dann gibt es nur eine Vernunft (und nur eine Wahrheit, nur eine Gerechtigkeit, etc.). Der einzelne Wille ist aber nicht unbedingt vernünftig, denn er ist mit etwas Menschlichem »kontaminiert«, den Leidenschaften, die vielzählig und bei jeder*jedem anders sind. Wenn die Menschen also im Vernünftigen übereinstimmen, in den Ungerechtigkeiten und Irrtümern sich jedoch unterscheiden, dann sind es die (unvernünftigen) Leidenschaften, die sich zwischen den einzelnen Willen ausgleichen und neutralisieren. Was übrigbleibt, ist das einzig Vernünftige, der Gemeinwille. So gäbe es zwei Bedingungen für den Gemeinwillen. Erstens, »dass es in dem Moment, wo das Volk sich einer seiner Willen bewusst wird und ihn äußert, keinerlei kollektive Leidenschaft gibt« (Weil 2009 [1943], 11). Und zweitens, dass der Ausdruck des Willens des Volkes sich nicht in der Wahl von Personen erschöpft (wenn überhaupt), sondern sich vor allem auf Probleme des öffentlichen Lebens bezieht (Weil 2009 [1943], 12). In Anbetracht dieser beiden Bedingungen hätte es aber bisher nie eine wirkliche Demokratie geben und das hätte eben auch mit den Parteien zu tun (Weil 2009 [1943], 13).

Wie bemerkt, ist für Weil einzig das Gute – und damit meint sie mittelbar das Gemeinwohl – ein Zweck und Parteien deshalb ein Instrument, ein Mittel, um einer bestimmten Konzeption des Gemeinwohls zu dienen (Weil 2009 [1943], 15). Allerdings seien erstens die Vorstellungen bei den Parteien darüber, wie dieses Gemeinwohl aussehe, immer vage (Weil 2009 [1943], 15 f.), sodass die einzelne Person, die einer Partei beitrete, weder diese noch die Vorstellungen der Partei zu jedem möglichen einzelnen Sachverhalt kenne: »Mit seinem Parteieintritt akzeptiert er Positionen, die ihm unbekannt sind. So unterwirft er sein Denken der Autorität der Partei« (Weil 2009 [1943], 28). Das kollektive Denken der Partei sei zweitens unfähig, das Gute zu erkennen, da es unfähig sei, »sich über das Reich der Tatsachen zu erheben. […] Sein Begriff vom Guten reicht gerade aus, um den Irrtum zu begehen, dieses oder jenes Mittel für ein absolutes Gutes zu halten.« (Weil 2009 [1943], 15). Das führe wiederum dazu, dass am Ende dieses absolut Gute immer die Existenz der Partei sei. So werde die Partei zum Selbstzweck (Weil 2009 [1943], 16) und damit seien Parteien immer schon totalitär (Weil 2009 [1943], 17).

Trotz des Rousseau-Bezugs und der metaphysischen Diskussion über Mittel und Zweck sowie das Gute und die Wahrheit, scheint es Weil also in ihrer Kritik an Parteien um etwas anderes zu gehen. Denn das Problem ist nicht so sehr das des Guten, sondern dass Parteien zum Selbstzweck würden und damit alle ihnen angehörigen Individuum mitrissen und ihr selbständiges Denken unterdrückten. Denn sobald die Partei zum Selbstzweck geworden sei, sei ihr einziges Ziel nur noch Wachstum und die Vermehrung von Macht (Weil 2009 [1943], 16 f.). Dafür würde sie einen kollektiven Druck auf das Denken ihrer Mitglieder ausüben, der jeden Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abtöte (Weil 2009 [1943], 18) und die einzelnen Mitglieder (unter Androhung von Konsequenzen für Karriere, Freundschaft, Familie oder sogar Leben) zur Lüge zwinge (Weil 2009 [1943], 24). Diese Politik, die den Namen Propaganda trage (Weil 2009 [1943], 18 f.), hätte sich einst die katholische Kirche zur Bekämpfung von Häresie ausgedacht und sei nun von den kommunistischen Parteien zur Vollendung gebracht worden (Weil 2009 [1943], 26 ff.). Die Propaganda funktioniere nicht über Wissensvermittlung, sie sei nicht dazu da, das Volk aufzuklären, sondern appelliere an die von Rousseau gefürchtete kollektive Leidenschaft (Weil 2009 [1943], 29). Zusammengefasst hat die Partei für Weil (2009 [1943], 14) also drei wesentlichen Merkmale: Erstens sei sie eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaften, zweitens so konstruiert, »dass sie kollektiven Druck auf das Denken jedes Menschen ausübt, der ihr angehört« und drittens sei ihr »einziger Zweck […] ihr eigenes Wachstum, und dies ohne Grenzen.«

Allerdings beschränkt sich für Weil die Problematik der Partei nicht auf ihr Innenleben oder das politisch-institutionelle System. Denn einerseits habe die Partei ein Quasi-Monopol auf die Teilhabe am politisch-öffentlichen Leben (Weil 2009 [1943], 21). Jenseits von ihr sei dies nicht möglich. Andererseits breite sich das »parteiische Denken« in andere Bereiche des Gesellschaftlichen, wie Wissenschaften oder Kunst, aus (Weil 2009 [1943], 33 f.). So sei fast überall

»die Operation des Partei-Ergreifens, der Stellungnahme für oder gegen etwas an die Stelle der Operation des Denkens getreten. Diese Pest ist den politischen Milieus entsprungen und hat sich über das ganze Land fast auf das gesamte Denken ausgebreitet« (Weil 2009 [1943], 35).

Vor dem Hintergrund dieser fünf Kritikpunkte ist Weils Urteil daher wenig verwunderlich: Diesem absoluten Übel (Weil 2009 [1943], 22), der Partei, könne nur durch seine Abschaffung begegnet werden (Weil 2009 [1943], 21).

Von der »Parteiisierung« der Gesellschaft (Simone Weil und Chantal Mouffe)

Die Kritik, dass Parteien demokratiegefährdend seien können, gibt es auch in gegenwärtigen sozialen Bewegungen und in der radikalen Demokratietheorie. In dem erstmals 1985 veröffentlichenden Buch Hegemonie und radikale Demokratie argumentieren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, dass sich die »alten« Arbeiter*innen-Parteien (sozialdemokratische wie sozialistische und kommunistische) eingerichtet hätten. Diese seien von der Zentralität der Produktionsverhältnisse für die Politik und damit von der Zentralität des revolutionären Subjektes (der*dem »Arbeiter*in«) und einem privilegierten Ort der Auseinandersetzung (dem Arbeitsplatz) ausgegangen und hätten diesem »marxistischen Imaginären« (Laclau/Mouffe 2012 [1985], 192; H.i.O.) alles Handeln und Denken untergeordnet. Das Aufkommen der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen (feministische Bewegungen, Umwelt-, Frieden- und Anti-Atom-Bewegung, etc.) und ihren vielfältigen Formen und Orten des Widerstandes hätten aber offenbart, dass die orthodoxen Interpretations- und Argumentationsmuster der alten Arbeiter*innnenparteien keine Erklärungsansätze für diese neuen Entwicklung liefern könnten (Laclau/Mouffe 2012 [1985], 32). Laclaus und Mouffes Beschreibung ähnelt hier derjenigen Weils, wenn sie von der Partei als Selbstzweck spricht, der dazu führt, dass das Denken der Einzelnen unterdrückt wird. Und hier wird deutlich, dass es Weil nicht nur – und schlimm genug – um die Unterdrückung des Denkens der Einzelnen geht, sondern um die Unterdrückung der Vielheit, der Pluralität des Denkens. Etwas, was Isaiah Berlin (2006 [1969], 254) einst so treffend mit dem Begriff des Monismus beschrieben hat. In diesem Sinne unterdrückt die monistische Devise der Partei die Pluralität des Denkens und führt dazu, dass sie die Heterogenität in einer Gesellschaft nicht abbilden kann.

In diesem Sinne ist auch Weils Gegenvorschlag zu verstehen. In ihm sollen an die Stelle von Parteien Zeitschriften treten, in denen politische Themen diskutiert und um die sich herum Milieus bilden könnten (Weil 2009 [1943], 30). Diese Milieus würden den nötigen Organisationsgrad bereitstellen können, um gegenseitig in Kontakt zu treten, könnten jedoch im Gegensatz zur Parteimitgliedschaft genügend im »Fließen gehalten werden« (Weil 2009 [1943], 31). So würde das Denken der Einzelnen nicht unterdrückt werden, es sei nie ganz klar, wer genau wo dazu gehöre (man könne ja auch für mehrere Zeitschriften schreiben), und daher gebe es »keine klare Trennung zwischen drinnen und draußen« (Weil 2009 [1943], 31). In dieser »Zeitschriften-Demokratie« gäbe es Wahlen, auch Personenwahlen, aber keine organisierten Wahlbündnisse. Jegliche Form der »Parteiisierung« – wie zum Beispiel die Gründung einer Gruppe von Freund*innen einer Zeitschrift – sei in ihr per Gesetz verboten und würde strafrechtlich verfolgt. So dürften Mitarbeiter*innen von Zeitschriften, die zu einer Wahl antreten, sich nicht dabei auf diese berufen, genauso wenig wie Zeitschriften gestattet sei eigene Kandidaten*innen aufstellen (Weil 2009 [1943], 31 f.). Parteien würden deswegen nicht ganz verschwinden, aber sie müssten im Geheimen agieren und hätten daher keinen Einfluss mehr, weil sie so keine Propaganda betreiben könnten (Weil 2009 [1943], 32).

Im Gegensatz dazu verabschieden Laclau und insbesondere Mouffe Parteien überhaupt nicht – im Gegenteil. In ihren Auseinandersetzungen mit sozialen Bewegungen, der Alterglobalisierungsbewegung und später der Occupy-Bewegung stellt Mouffe vielmehr die Wichtigkeit von Parteien als Organisationskern von Pluralität heraus. Einerseits im Sinne eines Parteienpluralismus, der in der Lage ist, gesellschaftliche Vielfallt gerade entlang von Konfliktlinien zu organisieren. (In diesem Zusammenhang kritisiert sie gleichsam die in ihren Augen zu konsensorientierten liberalen Demokratietheorien à la Jürgen Habermas und John Rawls als auch linke Exodus-Theorien, wie die von Micheal Hardt und Antonio Negri (Mouffe 2016 [2013]; 2018 [2000]). Andererseits im Sinne eines Kristallisationspunkts verschiedenster politischer Widerstände gegen einen gemeinsamen Gegner, die dabei aber ihre Eigenständigkeit bewahren sollten. Parteien sind für Mouffe (2020, 69) unverzichtbare Akteure, deren Aufgabe es sei, die konflikthaften Linien in der Demokratie zu repräsentieren und damit zu institutionalisieren:

»So schaffen Parteien in einer pluralistischen Demokratie diskursive Rahmen, die es Menschen ermöglicht, die soziale Welt, in der sie verwurzelt sind, zu verstehen und deren Bruchlinien zu erkennen« (Mouffe 2020, 68).

Mouffe traut Parteien also genau die Aufgabe zu, die Weil ihnen abspricht und hingegen den Zeitschriften zuweist.

Auch in Bezug auf die Leidenschaften widerspricht Mouffe Weil. Nicht, dass Parteien keine Leidenschaften produzieren, hervorrufen und fördern würden, sondern dass das tatsächlich ihre Aufgabe sei. Denn Leidenschaften sind für Mouffe (2015 [2005], 34 f.) als »verschiedene[] affektive[] Kräfte[], die am Ursprung der kollektiven Formen von Identifikation stehen«, eine der treibenden Kräfte der Politik. Es seien die Leidenschaften, die leidenschaftlichen Identifikationen mit einer politischen Position, die für Politik mobilisierten (Mouffe 2015 [2005], 34). Es geht ihr also darum, dem Rechnung zu tragen, damit die Leidenschaften für die (radikale) Demokratie nutzbar gemacht, für ihre Zwecke in Szene gesetzt und mobilisiert werden können und nicht den Gegnern der Demokratie in die Hände fielen. Politik, die sich rein auf eine vermeintliche Rationalität stütze, müsse sich daher nicht wundern, wenn es zu Politik- und Demokratieverdrossenheit und Abwanderung ins rechtsautoritäre, anti-demokratische Lager komme (Mouffe 2015 [2005], 40). Und in der Tat bleibt Weil die Antwort in dieser Beziehung schuldig. Denn bedürfte es nicht auch in ihrer »Zeitschriften-Demokratie« eine Leidenschaft für die politische Debatte, für das Argument und letztlich für die Demokratie?

Letztendlich sind beide Positionierungen aber nicht überzeugend, da sie mehr behaupten, anstatt zu argumentieren. Weil ist nicht überzeugend, da sie entweder dort, wo es interessant wird, einfach von Tatsachen spricht, die für jede*r einsichtig wären, die*der »dem Leben der Parteien nähergekommen ist« (Weil 2009 [1943], 14). Um den Widerspruch zu erklären, warum dann nicht sehr viel mehr Menschen zu dem gleichen Urteil wie sie kämen, gleitet sie ins Esoterische ab. Gegen jede post-fundamentalistische, poststrukturalistische und jede Standpunkt-Theorie (auch wenn es diese in dem Sinne damals noch nicht gab), meint sie, dass Wahrheit nicht relativ und situiert sei, als wäre das Denken das Produkt eines körperlichen Ausscheidungsprozesses (Weil 2009 [1943], 20). Für Weil gibt es nur eine Wahrheit, die man erkenne, wenn man dem inneren Licht folge: »Im Verlangen nach der Wahrheit, in ihrer Leere, und ohne den Versuch, ihren Inhalt im Voraus zu erahnen, empfängt man das Licht« (Weil 2009 [1943], 24). Wer das nicht tue, »richtet die Lüge mitten in der Seele ein. Die Strafe ist ewige Finsternis« (Weil 2009 [1943], 21). Das ist nicht nur esoterisch und vage, sondern führt den Pluralismus, die im Fließen gehaltenen Milieus der Zeitschriften, ad absurdum. Von einer »virtuos auf die Spitze getriebene Analyse des Parteiwesens«, wie der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeit, Joseph Hanimann (2006), zur französischen Erstveröffentlichung als Einzeltext 2006 schreibt, kann jedenfalls nicht die Rede sein.

Mouffes Ausführungen auf der anderen Seite sind jedoch nicht überzeugender. Ähnlich wie Weil bezieht sich Mouffe nicht auf (andere) Kritiken an Parteien. Sie kritisiert lediglich Hardts und Negris Empire-Theorie, die für einen Rückzug aus politischen Institutionen – und damit auch von Parteien – plädieren. Dabei tut sie dann – wider besseres Wissen (Mouffe 2016 [2013], 122) – so, als sei das die einzige Kritik. So wird jegliche Kritik an repräsentativer Demokratie und Parteien automatisch mit naiv-harmonischen Vorstellungen von zukünftigen, post-revolutionären Gesellschaften und der reduktionistischen Begründung des Rückzuges auf unzulässige Weise kurzgeschlossen (Mouffe 2016 [2013], 175). Da Mouffe aber nicht auf andere Argumente gegen Parteien eingeht, kann sie auch keine Gegenargumente entwickeln und hat ihnen nichts entgegenzusetzten. Hinzu kommt, dass die von ihr favorisierten Lösungen (Syriza und Podemos) eben nicht eine Erfolgsbilanz aufzuweisen haben, selbst wenn (oder vielmehr erst recht dann nicht, wenn) sie in Regierungsverantwortung waren. Gerade das Beispiel Syriza in Griechenland hat gezeigt, dass diese Parteien es in vier Jahren Regierungsführung nicht nur nicht geschafft hat, eine andere Austeritätspolitik zu etablieren (Süß 2019, 799), sondern dass sie (trotz gelegentlicher Versuche) auch in anderen Politikfeldern wie der Justiz- und Migrationspolitik im Großen und Ganzen die bis dahin von ihr kritisierte Politik der konservativen und sozialdemokratischen Parteien fort geführt hat (Cheliotis/Xenakis 2021). Letztlich ist auch bei Mouffe fraglich, inwiefern ihr Beharren auf Parteien Pluralität fördert. Obwohl sie andere Formen des Politischen anerkennt, sind Parteien bei ihr immer in letzter Konsequenz die entscheidende Organisierungs- und Repräsentationsform. Damit hierarchisiert sie die Formen der politischen Artikulation, schränkt das Feld der politischen Tätigkeiten ein und bestätigt in Teilen damit Weils Analyse sowohl darin, dass es jenseits von Parteien schwer Zugang zum Politisch-Öffentlichen gibt, als auch in Bezug auf die »Parteiisierung« der Gesellschaft.

Der Vorwurf des politischen Monopols der Parteien und die »Parteiisierung« der Gesellschaft ist tatsächlich der Punkt, der Weil nicht nur anschlussfähig für die radikale Demokratietheorie macht, sondern ihr auch einen interessanten Impuls geben kann. Denn Mouffe spricht zwar mit Laclau (2012 [1985], 210) in Hegemonie und radikale Demokratie vom polysemischen Charakter der Widerstände, dieser verschwinde jedoch in der Bildung von Äquivalenzketten, sobald diese zu einer Partei führten. Damit weiß Mouffe immer schon, was politische Konflikte sind, wie sie aussehen und sich in letzter Konsequenz artikulieren müssen: Politische Konflikte sind immer bipolar-antagonistisch, sollten sich aber in einer parlamentarischen Demokratie in agonistische Konflikte zwischen Gegner wandeln (Mouffe 2015 [2005], 29f; 2018 [2000], 103 f.), die wiederum von Parteien repräsentiert und artikuliert werden. Dass gesellschaftliche Konflikte und ihre Bruchlinien sehr viel heterogener und pluraler sind, sich teilweise durch die einzelnen Individuen hindurchziehen und sich daher nicht immer in das starre Schema einer »parteiisierten« Äquivalenzkette abstrahieren und pressen lassen, ignoriert sie. Allerdings geht auch Weil selbst auf diesen Punkt nicht näher ein. Bei ihr drückt sich diese fließende Heterogenität lediglich darin aus, dass sich die einzelnen Repräsentant*innen in den jeweiligen Sachfragen unabhängig von einer Parteilinie entscheiden können. (»Ich kann sehr gut mit Herrn A über die Kolonisierung einverstanden sein und uneins mit ihm über den bäuerlichen Besitz; und umgekehrt mit Herrn B« (Weil 2009 [1943], 30) – so als seien Kolonial- und Agrarpolitik zwei absolut getrennt voneinander zu verhandelnde Sachen.)

Auf der anderen Seite der Partei: Assembly! (Jacques Rancière und Occupy Wall Street)

Eine andere Art und Weise Gruppen- und gesellschaftlichen Dissens zu verhandeln, beobachtet ein anderer Denker der radikalen Demokratie, Jacques Rancière, bei den Besetzer*innen des Zuccotti-Parks 2011 während der Occupy Wall Street (OWS) Proteste in New York. Rancière stellt dabei zunächst fest, dass OWS mit dem bekannten Verlauf von Protesten bricht. Bestehe die normale Vorstellung von Protesten in etablierten Demokratien aus Demonstrationen auf der Straße mit Forderungen an das politisch-institutionelle System, der Aufnahme zumindest eines Teils dieser Forderungen durch (meist oppositionelle) Parteien und im Idealfall aus Diskussionen im Parlament, Wahlen und anschließender Gesetzesbefassung, sei bei OWS etwas anderes passiert. Anstatt sich auf Straßen zu bewegen, dort zu demonstrieren und Forderungen an die »sitzenden« Autoritäten zu formulieren, zeichne sich die Besetzung des Zuccotti-Parks durch das genaue Gegenteil aus: »It was the decision to stay instead of to keep moving, and discuss among themselves instead of shouting their demands to the authorities« (Rancière 2016a). Für Rancière bricht OWS damit nicht nur mit der herkömmlichen Vorstellung von Politik, die sich auf Präsident*innen, Parteien, Parlamente, Gewerkschaften und Lobbygruppen beruft, sondern auch mit herkömmlichen Vorstellungen von Protest, der seine Forderungen eben diesen Präsident*innen und Parteien auf Demonstrationen präsentieren soll. Stattdessen besetzte OWS den Zuccotti-Park, eignete sich diesen Raum an und transformierte ihn in einen öffentlichen Raum des Zusammenkommens. Die Besetzer*innen stellten keine Forderungen an andere, die diese für sie erfüllen sollten, sondern nahmen sich Zeit, um als Gleiche darüber zu diskutieren, wie eine andere Demokratie und eine andere Politik aussehen könnten. Somit erinnere OWS für Rancière daran, was Demokratie wirklich bedeute: Die Macht derer, »die nicht an der Macht teilhaben oder über keine Kompetenzen verfügen« (Rancière 2016b, 79), und das »gerade in der Opposition zu unseren oligarchischen Systemen, die sich allerdings selbst Demokratien nennen« (Rancière 2016b, 79).

Für Rancière drückt sich die Änderung im Umgang mit dem Raum – an einem Ort zu bleiben anstatt durch Straßen zu demonstrieren, untereinander statt mit den Autoritäten zu reden – in einer besonderen Form aus: der general assembly (Vollversammlung). Die general assembly sei dabei zunächst die kanonische Figur der Identifikation eines Ortes mit einer Gemeinschaft. Aber die Körper der OWS-Aktivist*innen hätten sich in dieser Versammlung nun nicht nur einfach »on common ground« (Rancière 2016a) befunden, sondern seien in der Art und Weise – nämlich tatsächlich auf dem Boden sitzend und daher auf gleicher Höhe – als Gleiche (ohne Präsident*innen, Anführer*innen, professionelle Redner*innen) anwesend gewesen. Diese Horizontalität, gepaart mit der auch für Rancière (2016a) durchaus »questionable idea of consensus« – also der Idee, dass jede Entscheidung der assembly durch den Einspruch einer*eines Einzelnen geblockt werden kann –, hätten einen öffentlichen Raum konstituiert, der auf der direkten Manifestation der gleichen Fähigkeit jedes sprechenden Wesens gründe und die gewöhnliche Unterscheidung zwischen individueller Fähigkeit und kollektiver Macht unterlaufe (Rancière 2016a).

Die Zurückweisung der Idee der Partei kommt hier anders als bei Weil ohne die merkwürdige Kombination aus Vernunftanspruch und esoterischer Wahrheitssuche aus und auch ohne Notwendigkeit, Parteien abschaffen zu müssen. Während Weil in ihrer »Zeitschriften-Demokratie« Parteien per Gesetz verbieten will und allen mit Strafen droht, die nur in den Anschein erwecken, sich parteiförmig zu verhalten (Weil 2009 [1943], 32), stellte OWS diesem Verhalten eine andere Beziehungsweise entgegen und setzt damit das Funktionieren der Partei-Logik aus. Das individuelle Denken wird dabei nicht unterdrückt, gerade weil es zentral für den kollektiven Prozess ist (dass die assembly bei OWS auch nicht völlig frei von parteiförmigen Verhalten und nicht ohne Widersprüche war, zeige ich an anderer Stelle; Leonhardt 2022). Und im Gegensatz zu Mouffe versuchte OWS zumindest den polysemischen Charakter von Widerständen – also auch die Pluralität des Denkens – im »Fließen« zuhalten, so wie es sich Weil für die Milieus um die Zeitschriften gewünscht hat. In diesem Sinne ist es fraglich, ob die Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteienvon Weil der radikalen Demokratietheorie und/oder aktuellen sozialen Bewegungen weiterhelfen können. Hier sind die eingangs erwähnten Überlegungen zu Autorität bei Bakunin oder Rancières zahlreiche Schriften zu Politik hilfreicher. Am besten ist aber wahrscheinlich, man schaut sich gleich an, was Aktivist*innen aus sozialen Bewegungen eigentlich zu ihrem Verhältnis zu Parteien schreiben. Denn aus diesen Erfahrungen und den Reflektionen über sie, lässt sich noch einiges lernen.

Literaturverzeichnis

Bakunin, Michael: Gott und der Staat. Ausgewählte Schriften Band 1. 3. Auflage, Berlin: Karin Kramer (2007 [1882]).

Berlin, Isaiah: Zwei Freiheitsbegriffe (1969). In: Ders.: Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt am Main: Fischer 2006, 197-256.

Cheliotis, Leonidas K./Xenakis, Sappho: »What’s Left? Political orientation, economic conditions and incarceration in Greece under Syriza-led government«. In: European Journal of Criminology, Vol 18, Nr. 1 (2021), 74–100.

Hanimann, Joseph (2006): Warum Parteien ein Übel sind. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurt am Main) vom 26.02.2006.

Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 4. durchgesehene Auflage, Wien: Passagen (2012 [1985]).

Leonhardt, Christian: »Ein Laboratorium der Demokratie? Occupy Wall Street als Ereignis und Referenz«. In: Mittelweg 36, Vol. 31, Nr. 4 (2022), 54-70.

Leonhardt, Christian/Nonhoff, Martin: »Widerständige Differenz. Transnationale soziale Bewegungen zwischen gegenhegemonialer Institutionalisierung und nicht-integrativer Präfiguration«. In: Zeitschrift für Politische Theorie, Vol. 10, Nr. 1 (2019), 9-28.

Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Stuttgart: Kröner (1989 [1911]).

Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. 5. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp( 2015 [2005]).

Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp (2016 [2013]).

Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox. Wien: Turia + Kant (2018 [2000]).

Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus. 3. Auflage, Berlin: Suhrkamp (2020).

Rancière, Jacques: Occupation. In: Political Concepts. A critical Lexicon (2016a) (abrufbar unter: https://www.politicalconcepts.org/occupation-jacques-ranciere/; letzter Zugriff: 09.09.2020).

Rancière, Jacques: Politik und Ästhetik. Im Gespräch mit Peter Engelmann. Wien: Passagen (2016b).

Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag (1762). In: Ders.: Politische Schriften 1. Paderborn: Schöningh 1977, 59-208.

Süß, Rahel Sophie: Theorie und Praxis (2019). In: Comtess, Dagmar/Flügel-Martinsen, Oliver/Marchart, Oliver/Nonhoff, Martin (Hrsg.): Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch. Berlin: Suhrkamp (2019), 793-806.

Weil, Simone: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Zürich/Berlin: diaphanes (2009 [1943]).