Seit Ausbruch der Corona-Pandemie wird regelmäßig von vulnerablen Gruppen gesprochen. Dabei zeigt sich, dass manche Personen verwundbarer sind als andere – sei es aufgrund körperlicher Dispositionen oder sozialer Umstände. Diese Form der Verwundbarkeit ist eine der sozialen Ungleichheit. Jule Govrin nennt sie die strukturelle Verwundbarmachung, weil sie »politisch bedingt und geschichtlich gemacht« sei (72). Ihr stellt sie eine andere Form der Verwundbarkeit gegenüber, die sie an Judith Butler anlehnt: die ontologische Verwundbarkeit, die »eine Grundbedingung des Daseins bildet« (72). Während erstere überwunden werden müsse, biete zweitere für Govrin einen Ansatzpunkt für eine Politik der Sorge und Solidarität (79). Dabei richten sich Praktiken »nicht an Unversehrtheit, sondern verbindender Verwundbarkeit« (210) aus.
Praktiken der solidarischen Sorge, die in ontologischer Verwundbarkeit gründen bieten für Govrin das Fundament für einen Universalismus »von unten« (85). Das »aufklärerische Prinzip« (84) der Gleichheit sei ein Versprechen, das es weiterhin einzulösen gelte, das sich jedoch in der Fundierung und konkreten Praxis verändern müsse, um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden (84). Im ersten Teil des Buchs arbeitet sie sowohl geistesgeschichtlich als auch historisch auf, inwiefern die Aufklärung Körper und Menschen trotz Universalismus ungleich mache. Den Universalismus verwirft sie jedoch nicht, sie versucht hingegen, »das Gleichheitsversprechen radikal [zu] erweitern« (45). Um zu solidarischen Körpern zu gelangen, die in der ontologischen Verwundbarkeit verbunden sind, gehe es nach Govrin zunächst darum, sich von der Annahme zu lösen, dass Gleichheit ein Merkmal der europäischen Aufklärung sei, sondern vielmehr ein räumlich und zeitlich unabhängiges Phänomen sei (213). Dies bedeute die Überwindung von Unterdrückungsstrukturen, die sich aus aufklärerischen Traditionen und historischen Momenten entwickelten (212 f.). Zweitens arbeitet sie heraus, wie sich das Verständnis von Körpern als politische Entitäten radikal ändern müsse, damit diese in ihrer gegenseitigen Verbundenheit und Verwundbarkeit in das Zentrum eines solidarischen Miteinanders gestellt würden (213).
Zuallererst macht sie deutlich, inwiefern Körper immer schon politisch sind: Als Metaphern der Macht und Repräsentation, in ihrer Ungleichmachung, in ihrer Produktivkraft und als Dimension der Affekte können Körper sowohl Objekte politischer Verhältnisse als auch Subjekt der Politik sein (11 ff.). Sie analysiert, wie in liberalen und vertragstheoretischen Denktraditionen schon bestimmte Ungleichheiten angelegt sind. Im Zentrum steht der Subjektbegriff, der ein gesellschaftsloses, vereinzeltes Individuum impliziere, das sich selbst als Eigentum besitze und sich im Kapitalismus als Produktivkraft veräußere (33 f.). Wie diese Theorien – obwohl sie auf vermeintlicher Gleichheit ausgelegt seien – seit dem 17. Jahrhundert mithilfe der europäischen bürgerlichen Gesellschaft die Trennlinien von class, race, gender zwischen Menschen gezogen haben, stellt sie eindringlich dar (39). Dabei zeigt sie, wie der Kapitalismus auf der einen Seite die Menschen vereinzelt, diese aber gleichzeitig durch die Verbundenheit der Wirtschaftssysteme voneinander abhängig macht und aufeinander bezieht (50). Diesem stellt sie eine andere Verbundenheit durch Verwundbarkeit in Solidarität und Sorge entgegen.
Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem 20. Jahrhundert und dem, was Foucault Biopolitik nennt und dem Begriff der Nekropolitik von Achille Mbembe, »der Foucaults Begriff der Biopolitik entscheidend ergänzt. Im Schatten der der schützenden Biopolitik ist eine staatliche Kontrolle von Körpern zugange, welche man mutwillig dem Sterben überlässt« (55). Der foucaultschen body politic, stellt sie die feministische body politics seit den 1970er und 1980er Jahren entgegen, die in radikaler Körperlichkeit emanzipatives und weniger machtpolitisches Potential sehen (63). Das ist Govrins erster Ansatzpunkt für einen Universalismus von unten, der sich in Eigensinnigkeit und Unverfügbarkeit der Körper manifestiert (64). Das vereinzelte Individuum als Eigentum und Produktivkraft kontrastiert sie mit dem Verbindungsgeflecht der Körper und Menschen, die sich am Gemeinwohl und »konkreten Kämpfen für Gleichheit und Gerechtigkeit« (86) orientieren und hegemoniale Verhältnisse der Ungleichheit nicht weiter fortschreiben möchten. Dabei denkt Govrin Differenz immerzu mit: In der Verschiedenheit der Körper liegt die gemeinsame Gleichheit, die sie verbindet (85). Statt von Gleichheit auszugehen und Andersartiges nicht miteinzubeziehen, dreht sie hier das Verhältnis also um: Durch die Differenz entsteht die Gleichheit (85).
Eine besondere Rolle nimmt die Corona-Pandemie im Buch ein, die im Kapitel »Pandemische Körper« als Beispiel für die vorher herausgestellten Ungleichheitsverhältnisse dient: Dabei zeigten sich in den pandemischen Körpern die von ihr bereits aufgezeigten Momente der Ungleichheit anhand der strukturellen Verwundbarmachung besonders deutlich: »So werden bestimmte Menschen, die ohnehin strukturell benachteiligt sind, stärker ausgebeutet als andere« (90). So sei der »Schutz der Vulnerablen« vor allem ein Akt, diese weiter an den Rand der Gesellschaft zu drängen, indem der Schutz dieser Gruppen zwar anerkannt werde, diese aber weiter isoliert würden: »Die Schattenseiten der Sorge beginnen dort, wo der Schutz der Risikogruppen angeführt wird, um deren Selbstbestimmung zu unterlaufen, und enden dort, wo das Sterben hingenommen oder sogar einberechnet wird, weil ihr Leben weniger wert erscheint« (96). Auch mit Blick auf weitere ökonomische und soziale bestehende Ungleichheiten zeigt sie eindringlich auf, wie diese durch die Pandemie weiter verstärkt wurden: sei es sexualisierte Gewalt gegen Frauen (145), Berichterstattung um Corona-Ausbrüche in Gegenden mit unterschiedlicher Gesellschaftsstruktur (Berchtesgaden vs. Iduna-Zentrum Göttingen) (125 f.), die ungleichen Möglichkeiten aufgrund unterschiedlicher Wohnverhältnisse bedingt durch verfehlte Wohnpolitik (126 f.) oder die Behandlung von ausländischen Arbeiter*innen in Schlachthöfen (133 ff.). Hier zeigt sie immer wieder auf, wie von Teilen der Öffentlichkeit sozialdarwinistische Forderungen verlautbart werden, die verschiedenen Leben unterschiedlichen Wert beimessen.
Im letzten Kapitel beschreibt sie, wie solidarische Körper entstehen können, die in einem Modus der Verwundbarkeit ein gemeinsames Miteinander begründen. Dabei betont sie, dass bei den konkreten Formen der Solidarität angesetzt werden müsse, die sich gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit im solidarischen Miteinander aufbäumen: »Solidarität muss bei den Tiefenstrukturen der Ungleichmachung ansetzen, um wirksam zu werden« (164). Für dieses Unterfangen schaut sie sich konkrete Graswurzelbewegungen an, um anhand dieser aufzuzeigen, wie diese für Solidarität und Sorge stehen, vor allem die Lateinamerikanischen Bewegung Ni una menos, die an feministische body politics anschließe, die anders als die body politic button-up und nicht button-down sei (179f.). Statt die kapitalistischen Besitzkörper des Individuums werde hier ein Körperverständnis vertreten, das Körper nicht als geschlossene Entitäten begreift, sondern als in Wandel und Entstehung begriffen (182).
Govrin hat ein dichtes und vielschichtiges Werk veröffentlicht, das einen wichtigen Beitrag zu aktuellen politischen und philosophischen Diskursen beisteuert. Durch die verschiedenen Facetten des gesellschaftlichen Lebens hindurch stellt sie Ungleichheiten dar, die sowohl theoretisch als auch historisch bedingt sind. Durch den Begriff der Verwundbarkeit gelingt ihr eine Verbindung unterschiedlicher Sphären, beispielweise der Ökonomie, der Gesundheitspolitik und des Kolonialismus. Verwundbarkeit bietet sich jedoch auch als Ansatzpunkt für alternative Praktiken, indem sie das Fundament für einen Universalismus von unten bietet. Sie öffnet den Weg für ein gelebtes Miteinander verwundbarer, solidarischer Körper.
Jule Govrin: Politische Körper.
Von Sorge und Solidarität,
Matthes & Seitz Berlin: 2022, 261 Seiten