Im Denken der französische Philosophin Simone Weil (1909–1943) sind Religion und Mathematik durchgängig präsent. Den Begriff der »zweiten Potenz« (deuxième puissance), der diese beiden Sphären verbindet, mag man dagegen übersehen oder als marginal abtun. In ihm treffen jedoch verschiedene Figuren und Bewegungen der Vermittlung aufeinander und machen ihn für das Verständnis von Weils Schaffen wertvoll.
Simone Weil, die Mathematik und die Religion
Simone Weils Naheverhältnis zur Mathematik führte dazu, dass in Charakterisierungen ihrer denkerischen Persönlichkeit neben Mystikerin, Philosophin, und Sozialistin auch oft Mathematikerin genannt wird. Im engeren, akademischen Sinn lässt sie sich allerdings eher nicht als Mathematikerin bezeichnen, absolviert sie doch ihre Agrégation im Fach Philosophie, nicht in Mathematik. Gleichwohl gestaltet sie ihre Affinität zur Mathematik auf mehreren Ebenen: Von Jugend an zeigt sie neben einem besonderen Talent für Sprachen auch ein ausgeprägtes Interesse an Mathematik, in ihrem Philosophieunterricht baut sie mathematische Sequenzen ein, und sie verfertigt didaktische Notizen zum Sinn der Mathematik für die Schule. Zu ihrem Bruder André, einem sehr bedeutenden Mathematiker, und dessen Freunden hält sie engen Kontakt und befragt ihn zu seiner Arbeit. Sie bezieht sich immer wieder (in ihren Cahiers) mit kurzen, häufig kritischen Hinweisen auf »höhere« Mathematik (Galois, Gruppen, …), als wichtig für ihre Philosophie erweist sich jedoch die antike Mathematik.
Religion steht für Weil nicht nur in Gestalt mystischer Erlebnisse, sondern auch in ihren theoretischen Überlegungen im Zentrum. Das schlechte Verhältnis zur Religion ihrer Herkunft, dem Judentum, gab und gibt viel Grund zu Kritik. Ihre Wendung zum Christentum verbindet sie mit einer Verachtung verschiedener Facetten des Judentums und der hebräischen Bibel, in der sie Gewalt und Götzendienst am Volk als dominierende Momente zu identifizieren meint. Neben ihrer stetigen Beschäftigung mit dem Christentum entwickelt sie auch Begeisterung und Verständnis für die Schriften des Hinduismus und Buddhismus; das Christentum – wenn auch ein auf sehr eigene Weise verstandenes Christentum – bleibt aber wohl Zeit ihres Lebens die Religion, mit der sie am intensivsten ringt.
Verschiedentlich kreuzen sich nun Simone Weils Interesse für Mathematik und ihre Beschäftigung mit dem Christentum. An einigen solchen Stellen der Koinzidenz spricht Simone Weil von der »zweiten Potenz« (»deuxième puissance«) – einem Begriff, der nicht nur bei ihr seinen ersten Platz in der Mathematik hat. Die folgenden beiden Passagen möchte ich in diesem Essay in den Fokus rücken:
»Gewisse Formeln […] wie ›die Gerechtigkeit ist eine Zahl in der zweiten Potenz‹ […] haben die Begriffe der mittleren Proportionale und der Mittlerschaft im theologischen Sinn zum Schlüssel, wobei die erste das Bild der zweiten ist.« (»Zur Pythagoräischen Lehre«, 105)
»Die Schöpfung besteht aus der Abwärtsbewegung der Schwerkraft, der Aufwärtsbewegung der Gnade und der Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz.« (Cahiers 3, 34)
Diese Zitate geben einen ersten Eindruck davon, auf welche Weise Weil Religion und Mathematik in Verbindung bringt: enigmatisch, mit starken Anleihen bei den Pythagoräern, aber auch zentral für ein religiöses Leben, wie Weil es versteht.
Médiation – Figuren der Vermittlung
Zugänglich wird der Ausdruck »(zweite) Potenz« bei Weil über den Begriff der médiation. Das französische Wort médiation[1] hat zwei sehr verschiedene Bedeutungen: Es bezeichnet einerseits das Mittel im mathematischen Sinn – den Mittelwert – und andererseits die Vermittlung, wie sie insbesondere im christlichen Kontext zentral ist.
Weil denkt bei médiation, wenn sie die mathematische Bedeutung meint, an das geometrische Mittel, dessen Wichtigkeit schon die Pythagoräer hervorgehoben haben. »Alles ist Zahl« gilt dem pythagoräischen Denken als synonym mit einem Denken in Proportionen. Jegliches Messen erfordert Proportionen, die Harmonien in der Musik bestehen in Proportionen, aber auch ganz allgemein jedes Übertragen einer Beziehung in einen anderen Zusammenhang beruht auf Proportionen (etwa: Dieser Planet verhält sich zu jenem Planeten wie diese Kugel im Modell zu jener Kugel). Algebraisch ausgedrückt haben Proportionen die Gestalt a/b = c/d, geometrisch gesprochen handelt es sich um ähnliche Dreiecke. Häufig findet man sich in der Situation, dass eine der Größen – x – gesucht ist, die anderen bekannt sind. Wird beispielsweise in x/b = c/d die Größe x gesucht, so errechnet sie sich als x = (b∙c)/d. Eine bestimmte solche Situation war nun für die Pythagoräer und mit ihnen für Weil von besonderer Relevanz, nämlich jene, in denen die mittlere Größe der Proportion übereinstimmt – in denen x zwischen a und d vermittelt (wie der Mittelbegriff in den Aristotelischen Syllogismen): a/x = /d. Daraus errechnet man x2 a∙d und schließlich die mittlere Proportionale oder das geometrische Mittel x = √(a∙d).
Médiation hat aber auch noch die andere Bedeutung, jene des Mittlers oder der Vermittlung, wie sie etwa in 1 Tim. 2:5 zum Ausdruck kommt: »Denn es ist ein Gott und ein Mittler [μεσίτης, Vulgata: mediator] zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus«. Oder auch in Hebr. 9:15: »Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, auf dass durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.«
Für Simone Weil überlagern sich diese beiden zunächst so verschieden erscheinenden Bedeutungen:
»Nun hat aber eine große Anzahl der Worte Christi, wie sie in den Evangelien überliefert sind (vor allem bei Johannes), mit einem höchst auffallenden Nachdruck, dem eine Absicht zugrunde liegen muß, die algebraische Form der mittleren Proportionale. Beispiel: ›Wie mein Vater mich gesandt hat, so sende ich euch‹, usw. (Joh 20,21) Ein gleiches Verhältnis besteht hier zwischen dem Vater und Christus, zwischen Christus und den Jüngern. Christus ist die mittlere Proportionale zwischen Gott und den Heiligen. Das Wort Mittlerschaft selbst zeigt dies an.
Ich schließe daraus: wie Christus sich in dem Messias der Psalmen wiedererkannt hat, […] ebenso hat er sich wiedererkannt in der mittleren Proportionale der griechischen Geometrie […].« (Entscheidung zur Distanz, 18)
Simone Weil konstatiert hier also das Verhältnis Vater/Christus = Christus/Jüngern. Dass sie tatsächlich – auch visuell – mit Begriffen wie mit mathematischen Ausdrücken operiert, sieht man auch an Stellen wie der folgenden:
»Das Mittel (μεταξύ) ist der vollkommen Gerechte. Gott/(Gott-Mensch) = (Gott-Mensch)/Mensch.« (Cahiers 3, 30)
Gott, Mensch und Gott-Mensch werden hier als Zähler und Nenner eines Bruchs angeschrieben. Und wenn Weil in obigem Zitat meint, dass Christus sich in der mittleren Proportionale wiedererkennt, dann ist das wörtlich zu nehmen: In einer Liste von möglichen Inkarnationen Gottes kommt neben Dionysos, Krishna, Odin, Schneewittchen und der Weisheit im Phaidros auch das geometrische Mittel vor (siehe Sojer 2020 für eine Erläuterung dieser Liste). Ihre Ausführungen zur Mittlerschaft vermögen Ihrer Idee, Gott könnte sich möglicherweise in der mittleren Proportionale inkarniert haben, wohl nicht die Extravaganz zu nehmen, aber doch zumindest einen Ansatz zum Verständnis dieser Idee liefern.
Am Rande möchte ich noch darauf hinweisen, dass Weil die Interpretation ihrer Auffassung von médiation noch schwieriger macht, indem sie die Vermittlung mit dem Widerspruch identifiziert. Den – vielleicht Platonischen – Dialog Epinomis kommentiert sie zustimmend: »Die Angleichung zweier Zahlen ist die Entdeckung einer mittleren Proportionale. Also ist die Angleichung des Menschen an Gott die Entdeckung einer Vermittlung. Der Widerspruch ist die Vermittlung.« (Cahiers 3, 31) Mit dieser zusätzlichen Herausforderung will ich mich im Folgenden jedoch nicht befassen.
Die Gerechtigkeit als zweite Potenz
Mit den nun gesammelten Kenntnissen zur médiation lassen sich, mit Simone Weil, vermeintlich unverständliche Passagen bei den Pythagoräern verstehen:
»Gewisse Formeln [der Pythagoräer] sind sehr dunkel wie jene, die Aristoteles verächtlich zitierte: ›ἡ δικαιοσύνη ἀρῐθμὸς ἰσάκις ἴσος, die Gerechtigkeit ist eine Zahl in der zweiten Potenz.‹ […] Diese […] und viele andere […] Formeln haben die Begriffe der mittleren Proportionale und der Mittlerschaft im theologischen Sinn zum Schlüssel, wobei die erste das Bild der zweiten ist.
Man weiß, daß bei den Pythagoräern die Eins das Symbol Gottes ist. […]
Die Pythagoreer betrachteten die geschaffenen Dinge, als habe jedes eine Zahl als Symbol.
[…] Unter den Zahlen haben bestimmte eine besondere Verbindung mit der Einheit. Es sind die Zahlen, die zweite Potenzen oder Quadrate sind. Durch die Vermittlung [médiation] gibt es zwischen ihnen und der Einheit eine Beziehungsgleichung:
1/3= 3/9
Ist der Gottessohn in einem vernunftbegabten Geschöpf wie der Vater im Sohn, dann ist dieses Geschöpf vollkommen gerecht.« (»Zur Pythagoräischen Lehre«, 105)
Weil verteidigt die Pythagoräer gegenüber Aristoteles; sie erläutert die vermeintlich »dunkle« Formel von »Gerechtigkeit als Zahl in der zweiten Potenz«: Gerecht ist jemand, zu dem der Mittler (Sohn, Christus) in demselben Verhältnis steht, wie der Vater zum Mittler steht, für den also der Mittler eine mittlere Proportionale ist. Ein Geschöpf ist gerecht, wenn die Beziehung
Vater : Sohn = Sohn : Geschöpf2
besteht. Verfährt man mit dieser Proportion nach den üblichen mathematischen Rechenregeln, so erhält man
Vater Geschöpf = Sohn2
Der Sohn ist dabei – so Weil – die (vollkommene) Gerechtigkeit und tritt in der Formel in zweiter Potenz [deuxième puissance] auf. Ganz analog wie in 1/3 = 3/9 die Zahl 3 in der zweiten Potenz auftritt (1∙9 = 32
) und allgemein der Weg von a/x = x/d zur Berechnung der mittleren Proportion x über x2 führt.
Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz
Wenden wir uns nun dem zweiten, nicht minder dunklen Zitat zu, dem diesmal nicht eine Formulierung der Griechen zugrunde liegt, das vielmehr gänzlich von Simone Weil stammt:
»Die Schöpfung besteht aus der Abwärtsbewegung der Schwerkraft, der Aufwärtsbewegung der Gnade und der Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz.« (Cahiers 3, 34)
Um diesen Satz zu verstehen muss man sich zunächst vergegenwärtigen, was Weil mit »Schwerkraft« und »Gnade« meint. Diese Opposition erstreckt sich über einen Kategorienfehler hinweg (»Schwerkraft« gehört der Physik zu, »Gnade« der Religion«), macht ihn sich gar zunutze –[2] sie schafft einen Gegensatz innerhalb einer Spannung, die die Notwendigkeit der Welt mit der göttlichen Zuwendung verbindet. »Gnade« bringt uns näher zu Gott, »Schwerkraft« zieht uns hinunter, hinein in die Gesetze der Materie. Wenn hier von »Schöpfung« die Rede ist, so schlage ich vor, darunter primär das Geschaffene zu verstehen. Das Geschaffene ist ständig eingespannt in diese beiden Kräfte. Man kann allerdings »Schöpfung« auch als den Prozess des Schaffens deuten, zumal Weil eine Vorstellung eines permanenten Schaffungs- und Ent-Schaffungs-Prozesses (décreation) entwickelt hat, an dem auch der Mensch beteiligt ist.
Rätselhaft kann nun aber noch der dritte Teil des Satzes erscheinen: Was ist und vermag eine »Abwärtsbewegung der Gnade in der zweiten Potenz«? Zunächst: Warum überhaupt noch eine Abwärtsbewegung, nach der erhebenden Wirkung der Gnade? Eine christologische Antwort darauf kann in verschiedene Richtungen ausgestaltet werden, basiert aber immer darauf, dass die Inkarnation Gottes in Jesus – das Herabsteigen Gottes in die Welt in Menschengestalt – in irgendeiner Hinsicht erforderlich war. Für Simone Weil allerdings ist es nicht nur Gott, der in die Welt kommen muss, auch der Mensch darf sich nicht durch Gottes Gnade entrücken lassen, sondern muss sich (wieder) einlassen auf die Welt, sich einfügen in den Lauf der Welt, ausüben, was sie das »Gehorsam« nennt (nicht wie die Dinge, die der »Notwendigkeit« folgen, sondern aus Eigenem).
Immer noch aber bleibt die Frage nach der Bedeutung der »zweiten Potenz«. Einige luzide Lesarten drängen sich auf und sind auch keineswegs falsch: Eine neuerliche Abwärtsbewegung ist eine zweite Bewegung, und die »zweite Potenz« lässt sich sicherlich einfach als verstärkte – puissance als »Kraft« – Wiederholung der ersten Bewegung lesen: eine neuerliche Bewegung zur oder in die Welt. Ebenso steht fest, dass das Gravitationsgesetz eine zweite Potenz enthält, und Weil stellt in ihren Cahiers inédits umfangreiche Berechnungen im Zusammenhang mit der Schwerkraft an (Cahier Inédit I, 160–165). Allerdings ist in die zweite Abwärtsbewegung eben gerade keine Schwerkraft involviert, wie aus einer Stelle deutlich wird, die der in Rede stehenden sehr ähnlich ist: »Die Schwerkraft bewirkt ein Herabsteigen; der Flügel« – eine Anspielung auf den Seelenwagen in Platons Phaidron? – »bewirkt ein Aufsteigen; was für ein Flügel der zweiten Potenz bewirkt ein Herabsteigen ohne Schwerkraft?« (Cahiers 3, 29 f.)
Mit dem Wissen um die Bedeutung der médiation und der damit im Zusammenhang auftretenden zweiten Potenz im mathematischen Sinn legt sich jedenfalls auch eine Deutung nahe, die sich mit Hilfe folgende Grafik formulieren lässt:
↓ Schwerkraft (s) - Gnade ↑ - x ↓ … Gnade zur zweiten Potenz
Die Schwerkraft verhält sich zur Gnade so wie die Gnade zu jener zweiten Abwärtsbewegung , die im Sich-(wieder-)Einbringen in die Welt besteht:
s/Gnade = Gnade/x.
Daraus ergibt sich x als 1/s∙Gnade2
, und somit haben wir es bei dieser zweiten Abwärtsbewegung wieder, wie schon bei der Gerechtigkeit im leitenden Zitat des vorigen Abschnitts, mit einer zweiten Potenz in einem klaren, nämlich mathematischen Sinn zu tun.
Ein Denken der zweiten Potenz
Zwei – kryptische – Feststellungen machen noch kein Denken aus. Tatsächlich aber spielt die deuxiéme puissance für Weil eine wesentliche Rolle: In mathematischen Zusammenhängen interessiert sie der Status quadratischer Gleichungen (siehe z. B. Cahiers 1, 118 f.; Cahier Inédit II, 205). Die Physik sieht sie stets mit der Politik und dem Leben verbunden, und so meint sie, dass »[d]er Begriff Arbeit […] am Anfang der Physik [steht] und […] sie völlig [beherrscht]« (Cahiers 1, 145), aber auch dass die tägliche Arbeit der Menschen – Fabriken sieht sie als moderne Form der Sklaverei an – von Grund auf neu zu gestalten wäre (die Menschen müssten sich wieder verwurzeln können). Der mit der Arbeit verbundene Begriff der (kinetischen) Energie, verbindet für sie Leben und Physik (Cahiers 3, 7 f.) – und ihre Formel enthält eine zweite Potenz (Cahiers 1, 162).
Aber auch in Fragen der göttlichen Ordnung, etwa der Gerechtigkeit, taucht die zweite Potenz nicht nur an der bereits erläuterten Stelle, sondern immer wieder auf, z. B.:
»Die Gerechtigkeit ist eine Zahl in zweiter Potenz. Der Gerechte ist derjenige, bei dem eine Vermittlung zwischen ihm und Gott möglich ist.
Aber durch die Anwendung der ebenen Figuren, die ein übernatürliches Wunder ist, besteht Vermittlung zwischen der Einheit und einer beliebigen Zahl. Die Zahlen, die nicht auf natürliche Weise der Einheit ähneln [die Irrationalzahlen also, E.H.], werden ihr auf übernatürliche Weise angeglichen.« (Cahiers 3, 322)
An dieser Stelle wird noch ein zusätzlicher Aspekt der »zweiten Potenz« sichtbar: Sie ist eine Quelle – die einfachste – der Irrationalzahlen, die – wie sich in dieser Stelle schon andeutet – für Weil eine besondere Rolle bei der Annäherung an das Übernatürliche spielen.
Wenn diese Bemerkungen, wie ich hoffe, einen Eindruck davon geben, an wie vielen Orten sich ein »Denken der zweiten Potenz« bei Simone Weil ausgestaltet, so bleibt dieses Denken aber noch deutlicher zu konturieren: Das »Denken der zweiten Potenz« erweist sich
(1) als ein Denken und Empfinden in und über médiations. Darin sieht sie ein durch und durch religiöses Unterfangen: »Wir müssen Christus nachahmen, denn es ist unsere Berufung, Vermittler zu sein. Vermittler zwischen Gott und der Wirklichkeit, deren eigentliches Gewebe unsere Empfindungen sind.« (Cahiers 3, 28)
(2) als ein Denken mit einer doppelt eingesetzten Instanz: Proportionen sind mehr als Verhältnisse; sie sind Verhältnisse von Verhältnissen;[3] die zweite Potenz kommt nun durch eine weitere Dopplung ins Spiel, nämlich die Identität von zwei Größen, die in den Relationen vorkommen. Etwas oder jemand spielt eine Doppelrolle. (Christus steht im Verhältnis zum Vater und im Verhältnis zu den Menschen. 3 steht in 1:3=3:9 im Verhältnis zur Einheit und im Verhältnis zu 9.)
(3) als ein Denken eines Prozesses von aufeinanderfolgenden Vermittlungen. In der Proportion selbst – als Verhältnis von Verhältnissen, somit als Iteration – wie auch in den Passagen zu Schwerkraft und Gnade zur zweiten Potenz schon angelegt, findet sich das bei Weil andernorts auch ausbuchstabiert: »Unbegrenzte Reihen, die durch ein Verhältnis bestimmend werden. Die Einheit breitet sich durch das Zwischenglied des Verhältnisses (λόγος) grenzenlos aus, so wie Gott durch das Wort in der Schöpfung.« (Cahiers 3, 36)
Bei allem Hang zum Theologisch-Spekulativen, der in einem Begriff wie der deuxième puissance so deutlich sichtbar wird, liegt Weil die Welt sehr am Herzen – darauf deutet die geforderte Abwärtsbewegung ebenso hin wie ihr vielfaches und nachdrückliches Hinweisen auf die politische Dimension jener Gerechtigkeit, die sie in Christus vollkommen verkörpert sieht.
Literaturverzeichnis:
Sojer, Tom: »Der immer fremde Christus. Simone Weils interkulturelle Spurensuche als apophatische Theologie«. In: Kulturen und Methoden. Aspekte interkulturellen Philosophierens, hrsg. v. Anna Zschauer, Robert Lehmann, Tony Pacyna = InterCultural Philosophy 2020 (1), 49–65.
Weil, Simone: Cahiers. Aufzeichnungen. Bände 1–4. München: Carl Hanser (2017, 2. Auflage).
Weil, Simone: Cahier Inédit I und II. In: Cahiers 1. Paris: Gallimard (1994), 151–211.
Weil, Simone: Entscheidung zur Distanz. Fragen an die Kirche. München: Kösel (1988).
Weil, Simone: »Zur Pythagoräischen Lehre«. In: Vorchristliche Schau. München: Otto Wilhelm Barth (1959), 97–152.
[1] Das Verhältnis zu μεταξύ bespreche ich hier nicht. Manche Weil-Exeget*innen meinen eine zeitliche Entwicklung identifizieren zu können und qualifizieren μεταξύ als den späteren Begriff. Das bezweifle ich eher; ich glaube, μεταξύ meint mehr den Gegenstand, das Sein der Vermittlung, nicht die Tätigkeit, das, was von der Vermittlung da (manifest) ist.
[2] Ein solcher Zug erweist sich als für das Denken von Simone Weil typisch.
[3] An dieser Stelle würden sich Ausführungen zu Simone Weils Hegel-Lektüre nahelagen – für diesen Hinweise danke ich Thomas M. Schmidt sehr herzlich –, die ich aber aufgrund der Komplexität aufspare.