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Nr. 1 / 2023
Abstraktes Bild mit einer schwarzen Silhoutte
Simone Weil

Liebe Leser*innen

»Simone Weil zu lesen, ist nicht leicht – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist es nicht leicht, weil es nicht naheliegend ist. Sie teilt das Schicksal vieler Frauen, denen trotz immenser Schaffenskraft, Originalität und Inspirationsvermögen nicht die Anerkennung zu Teil wurde, in den Kanon der großen Denker der Philosophiegeschichte aufgenommen zu werden. Nicht nur ihr Geschlecht, auch ihre kurze Lebensdauer und vor allem ihre Weigerung, sich in Schubladen einordnen zu lassen, dürften dazu beigetragen haben.

In ihr findet sich eine Denkerin, die für viele Linke eine zu laute Kritikerin des Marxismus war, für konservative Marx-Feinde zu revolutionär, für die Revolutionäre zu mystisch, zu sehr Arbeiterin für die Mystiker*innen. Ein stetes zu sehr, das in ihrer eigenen Wahrnehmung wohl immer ein zu wenig geblieben ist. Für einen Menschen, der es, wie Simone de Beauvoir einmal über sie sagte, vermochte, ihr Herz für den ganzen Erdkreis schlagen zu lassen. Die vom Leid der Arbeitslosen in ihrer Stadt ebenso betroffen war wie vom Hunger der Menschen auf der anderen Seite der Welt.

Schon die Form, in der wir ihre Werke vorfinden, fordert uns dazu auf, den Umständen, unter denen sie verfasst wurden, Aufmerksamkeit zu schenken. Vieles davon ist fragmentarisch geblieben, eben weil sie arbeitete, reiste, in Gesprächen war und die Begegnung mit Gott und den Menschen suchte. Sich auf ihre Werke einzulassen, muss aber nicht zugleich heißen, alle Rationalität fahren zu lassen. Vielmehr muss es bedeuten, zu hinterfragen, was wir unter Rationalität verstehen. In einer Welt, in der es rational scheint, Menschen und Umwelt zugunsten von ökonomischem Profit auszubeuten; in der Kriege wüten und Arbeitslosigkeit nicht nur Stigma, sondern Armuts- und Gesundheitsrisiko ist. Die Frage nach der Aktualität von Simone Weils Denken erübrigt sich vor diesem Horizont schneller als uns lieb sein mag. Und auch deshalb ist es nicht leicht, Simone Weil zu lesen. Sich von ihrem Anschreiben gegen die Zerstörung nicht anstecken, berühren zu lassen. Von ihrer Aufrichtigkeit, ihrer Entrüstung und ihrer Hoffnung« – so eröffnete Anne Specht (fiph) jüngst ein Kolloquium zu Simone Weil in Berlin.[1]

Es waren solche Fragen und Anfragen, die uns dazu motivierten, diese Ausgabe Simone Weil zu widmen. Die hier versammelten Beiträge nehmen dabei Weil als Philosophin ernst, deren Intelligenz und Sensibilität für das Unrecht der Welt dem Kampf um Befreiung gegolten hat. Und doch scheuen die Autor*innen nicht die Kritik, wo sich Weils Denken als zu widerspenstiges oder erratisch einem direkten Anschluss entzieht. Auch das heißt, Simone Weil ernst zu nehmen.

Tom Vandeputte stellt in seinem Beitrag die ambivalente Haltung Simone Weils gegenüber dem Begriff des Politischen vor. Einerseits finde sich so etwa in ihrer Rechtskritik eine generelle Skepsis gegenüber der Sphäre der Politik, andererseits lasse sich – so Vandeputte – eine »Archäologie des Politischen« ausmachen. Dieser gehe es weniger um konkrete Politiken, denn um das Freilegen nach proto-politischer Ursprüngen der Politik. Da diese sich allerdings einer direkten Artikulation entziehe, greife Weil auf Denkfiguren der Religion zurück, wie sich an der Figur des Bettlers und einer Einwilligung ohne Verweigerung zeigen lässt.

Leonie von Lieben analysiert Simone Weils Antijudaisimus anhand ihrer dekontextualisierten Platon- und Jesaja-Interpretation. Dabei stolpere man nicht nur über eine verkürzte Lektüre der Hebräischen Bibel. Es zeichne sich ein fataler Kurzschluss zwischen der platonischen Kritik an dem Volk als dem »großen Tier« und der Identifikation des jüdischen Volkes als exklusivem Kollektiv ab. Weils idiosynkratische Verwendung philosophischer und religiöser Metaphern führe unter dem Einfluss gnostischer Gedanken zu einem problematischen Antikollektivismus, bei dem Israel zur idealen Negativfolie wird.

Christian Leonhard fragt, wie Simone Weils radikale politische Forderung der Abschaffung der Parteien, wie sie sie in einem späten Text von 1942 fordert, anschlussfähig für aktuelle Debatten der radikalen Demokratietheorien sein könne. Während Weils Diagnose einer »Parteiisierung« gesellschaftlicher Konflikte auch heute noch treffend sei, bleibe die Ausarbeitung ihres heterogenen Gegenentwurfs einer »Zeitungs-Demokratie« unterkomplex. Ebenso steht ihre starke Wahrheitstheorie in Spannung zu dem geforderten Pluralismus, wie er sich etwa am Beispiel der Occupy Wall Street zeige.

Esther Heinrich-Ramharter untersucht in ihrem Beitrag schließlich den Einfluss der Mathematik auf das Denken Simone Weils. Obgleich Weil nicht im strengen Sinne eine mathematische Ausbildung erfuhrt, tauchen in ihrem Werk verschiedene mathematischen Termini auf, die mit zentralen Begriffen wie »Gerechtigkeit« oder »Gnade« verschränkt werden. In Heinrich-Ramharters exemplarischen Darstellung eines »Denken in der zweiten Potenz« entpuppt sich Weil so als Denkerin der Proportionen, in der es um die Vermittlung von Verhältnisse zweiter Ordnung geht.



[1] Dabei handelte es sich um das Kolloquium Junge Religionsphilosophie in Berlin mit dem Titel: Der Abwesende Gott. Simone Weil und die Folgen (23. bis 25. Februar 2023).

 

           Jürgen Manemann                             Marvin Dreiwes