Bild der Startseite
Nr. 1 / 2019
Jack B on Unsplash
Plurale Identität

Editorial

 

Identitätsfragen bestimmen gegenwärtig die politische Agenda. Die Philosophin Isolde Charim hat im Kontext dieser Debatten ein Buch mit dem Titel „Ich und die Anderen“ veröffentlicht, in dem sie der Frage nachgeht, wie die Erfahrung des Pluralismus die Menschen in demokratischen Gesellschaften verändert. Wir haben ihre Perspektive zum Anlass genommen, uns in dieser Ausgabe dezidiert mit der Frage zu befassen: Was heißt eigentlich „plurale Identität“? Diese Frage setzt radikaler an als die bislang bekannten Debatten über die Herausforderungen der Pluralisierung. Sie zielt nicht nur darauf ab, zu fragen, wie ich mit Andersheit leben und diese anerkennen kann. Der Begriff „plurale Identität“ thematisiert mehr, nämlich die Pluralisierung des Ich.

Die Beiträge dieser Ausgabe beleuchten den Zusammenhang von Pluralisierung und Identität und loten die Möglichkeit einer pluralen Identität aus, einer Identität unter pluralistischen Bedingungen. Dass die Pluralisierung uns alle tiefgreifend verändert und unsere Ich-Konstitution beeinflusst, führt Isolde Charim aus und stellt sich damit gegen eine rein additive Vorstellung von Pluralisierung. Wir finden uns, so Charim, in einem identitären Prekariat wieder, unter dessen Vorzeichen das Zusammenleben neu gedacht werden muss, sofern es der fundamentalistischen Versuchung widerstehen soll. Heidi Salaverría zeichnet die transformativen Potentiale nach, die in den nicht mehr eindeutigen Identitäten liegen. Die Verunsicherung, der Zweifel, die im Zuge der Verundeutigung auftauchen, fragen gewohnte Gewissheiten an. Dadurch kann auch ein imaginativer Raum entstehen, das potentiell Gewaltförmige des für selbstverständlich Gehaltenen wahrzunehmen und das vermeintliche Festgeschriebene neu zu verhandeln. Im Anschluss an Didier Eribons autobiografischen Roman „Rückkehr nach Reims“ verhandelt Agnes Wankmüller die (Un)Möglichkeit pluraler, hybrider Identität: Um welchen Preis geschieht die Überwindung der eigenen sozialen Herkunft? Mit welchen Brüchen geht die Aneignung einer Zielidentität einher? Dabei scheint auch die politische Dimension der Herrschaftsfrage auf, die in der Forderung nach bzw. Verweigerung gegenüber pluraler Identität liegt. Hannah Feiler und Marvin Dreiwes schließlich greifen die Thematik pluraler Kollektivität aus handlungstheoretischer Perspektive auf. Denn auch Zusammenschlüsse von Individuen sind nicht interessensuniform, sondern hochgradig durch Pluralität bestimmt und zeichnen sich daher durch Fragilität aus. Wie funktionieren solche pluralisierten Kollektive? Bleiben sie flüchtige Zusammenkünfte oder können sie zu stabilem politischen Handeln führen?

Wir laden Sie ein, das Spannungsfeld, aber auch den Möglichkeitsraum, den die Pluralisierung eröffnet, philosophisch zu erkunden.

 

            Jürgen Manemann                                     Ana Honnacker