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Nr. 1 / 2019
Plurale Identität

Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert

Ausgangspunkt meines Buches ist eine Frage gewesen. Eine übersehene Frage. Die europäischen Gesellschaften, vorwiegend die westeuropäischen, haben in den letzten 30 bis 40 Jahren eine grundlegende, aber schleichende Veränderung erfahren. Eine Veränderung, die eben deshalb – eben ob ihres schleichenden Charakters – lange Zeit nicht als solche, nämlich als Veränderung, und schon gar nicht als grundlegende Veränderung wahrgenommen wurde. Wenn diese Veränderung, die zu einer Pluralisierung der westeuropäischen Gesellschaften geführt hat, thematisiert wurde – und sie wird nunmehr seit den dramatischen Ereignissen im Jahr 2015 ständig thematisiert –, dann immer als ein äußerlicher Vorgang, also als das Eintreffen von Fremden, die dazu kommen.

Gesellschaftliche Vielfalt wird als Ansammlung diskutiert – als Ansammlung unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Als sei Vielfalt einfach eine Addition. Als gäbe es das Bestehende, das sind die Einheimischen, zu denen dann einfach etwas Neues hinzu käme: die Türken, die Jugoslawen, die Polen. Später dann „die“ Moslems. Und nun die Flüchtlinge. Aber Pluralisierung ist keine Addition. Es scheint mir ein Gebot der Stunde zu sein, zu verstehen, was Pluralisierung eigentlich bedeutet. Und da muss man zweierlei festhalten:

Erstens: Pluralisierung ist ein unhintergehbares Faktum. Es gibt keinen Weg – keinen unschuldigen Weg – zurück in eine nicht-plurale, in eine homogene Gesellschaft. Auch nicht durch noch so viel Integration. Das Faktum der Pluralisierung lässt sich nicht rückgängig machen.

Und zweitens: Pluralisierung ist kein äußerlicher Vorgang. Die Vorstellung einer Addition ist trügerisch. Sie suggeriert nämlich, die einzelnen Posten der Addition, also die Menschen, die sie verbindet, blieben unverändert. Die Vorstellung der Addition ist eine Erzählung, die einen blinden Fleck erzeugt. Dieser blinde Fleck lautet: Die Pluralisierung verändert uns alle. Und genau diese Veränderung wird durch die Vorstellung einer Addition verdeckt. Die Pluralisierung verändert aber nicht nur die, die neu hinzukommen. Sie verändert auch die, die schon da waren. Eben weil sie keine einfache Addition ist.

Deshalb war meine Ausgangsfrage nicht: Was verändert sich?, sondern vielmehr die übersehene Frage: Was macht die Pluralisierung mit uns? Wie verändern wir uns? Was verändert sich an uns? Denn das ist der Punkt: Wir verändern uns alle. Dies scheint mir zentral, um zu verstehen: Wie haben sich unsere Gesellschaften insgesamt verändert?

Die Veränderung, um die es geht, ist eine doppelte: Pluralisierung verändert unsere Zugehörigkeiten (also unseren Bezug zu Anderen). Und sie verändert unsere eigene Identität (also unseren Bezug zu uns selbst). Von daher rührt auch der Titel: Ich und die Anderen.

Die homogene Gesellschaft hatte uns ein doppeltes Versprechen gegeben: das Versprechen einer vollen Identität – und das einer ganzen Zugehörigkeit.

Jürgen Kaube hat jüngst in der FAZ das Ideal des Ganz-Dazu-Gehörens kritisiert. Ganz-Dazu-Gehören sei eine Fiktion, meint Kaube. Ein Ideal, das „von niemandem in allen Dimensionen verwirklicht (wird). In irgendeinem Sinne gehört man immer nicht dazu, ist man an kulturelle Muster nur teilweise assimiliert.“ Das ist natürlich richtig – aber man muss hinzufügen, dass es sich dabei um eine Fiktion mit sehr realen, sehr konkreten Folgen handelt. Die homogene Gesellschaft war solch ein Angebot einer fiktiven ganzen, einer imaginären vollen Zugehörigkeit. Nun mag es da immer schon Abweichungen gegeben haben – aufgrund eigener Entscheidungen ebenso wie aufgrund äußerlicher Zuschreibungen. Aber trotzdem folgte etwas aus der Fiktion: nämlich die Selbstverständlichkeit der Zugehörigkeit in allen Lebensbereichen. Darin, in dieser Unhinterfragtheit, in dieser unmittelbaren Evidenz besteht ganze Zugehörigkeit – und nicht in der vollen Deckung aller Identitätsteile mit den gesellschaftlichen Vorgaben. Die Selbstverständlichkeit und nicht das völlige Entsprechen ist jenes Ganz-Dazu-Gehören – jenes Dazugehören, das man nicht erreichen, in das man sich nicht integrieren kann.

Was aber heißt es, eine volle und ganze Identität zu haben? Seit Freud wissen wir, dass jede Identität, die glaubt, sie sei vollständig, ein Irrglaube ist. Jede Identität, die meint, man sei wirklich der, der man ist, der man zu sein glaubt, jede Vorstellung, man sei wirklich identisch mit sich selbst, ist eine Illusion. Seit Freud wissen wir: jede Zugehörigkeit, die von sich meint, sie sei selbstverständlich und unmittelbar, sitzt einer Fiktion auf. Aber die Nation war lange Zeit der erfolgreiche Versuch, genau diese zwei Illusionen – die Illusion der vollen Identität und die Illusion der ganzen Zugehörigkeit – im großen Maßstab, im Maßstab der Gesamtbevölkerung aufrecht zu erhalten. Benedict Andersons „imagined community“ meint genau das: die Nation als eine funktionierende Illusion.

Dem muss man aber etwas hinzufügen – etwas, das für das Funktionieren dieser Illusion zentral ist: Die Nation hat den Subjekten eine Gestalt angeboten. Eine Gestalt mit positiven Identitätsmerkmalen für das Individuum als öffentliche Person. Ist der Bürger als Wähler ein abstrakt Gleicher, der nur in numerischer Hinsicht zählt, ist das politische und das juristische Subjekt ein abstrakt Gleiches, das nur in dieser Hinsicht gleicher Teil des Souveräns ist, so ist das nationale Subjekt konkret, spezifisch. So konnte man nicht nur abstrakter Teil des Gesellschaftsganzen sein. Dies war das Gegengewicht zur demokratischen Abstraktion: die nationale Gestalt, der „nationale Typus“. Der nationale Typus stellt etwas Gemeinsames bereit. Dieses Gemeinsame beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit: In dieser Gestalt können sich alle Mitglieder der Nation wiedererkennen. Die „imagined community“ ist eine Gemeinschaft der Ähnlichen. Und genau das ist der Punkt, an dem sich der Unterschied zu unserer heutigen Gesellschaft ablesen lässt, die Folie, an der wir die Differenzen zu unserer heutigen, zur pluralisierten Gesellschaft ablesen können.

Wenn die homogene Gesellschaft uns versprochen hat, dass wir ihr voll angehören können, und wenn die homogene Gesellschaft uns versprochen hat, dass sie uns ganz macht, dass sie uns mit einer ganzen Identität versorgt, dann muss man jetzt im Umkehrschluss sagen: Eine heterogene, eine pluralisierte, eine vielfältige Gesellschaft bedeutet, dass man ihr nicht mehr ganz, nicht mehr direkt, nicht mehr selbstverständlich angehört. Und eine heterogene Gesellschaft bedeutet auch, dass wir nicht mehr auf dieselbe Art ICH sind – wir sind nicht mehr auf dieselbe Art wir selbst wie früher. Wir sind nicht mehr ganz.

Wenn wir also im Individualismus leben – und das tun wir –, so ist dies ein neuer, genauer gesagt ist es der dritte Individualismus. Der erste Individualismus, der sich von 1800 bis in die 1960er Jahre erstreckte, war jener paradoxe Individualismus, der die Individuen alle gleich gemacht hat. Denn er bedeutete Abstraktion von Herkunft, Abstraktion von sozialer Stellung, Abstraktion von partikularen Bestimmungen. So entstand das „Individuum des Universellen“, wie Rosanvallon es nennt (Rosanvallon 2013, passim). Jenes Subjekt also, das sich über die Abstraktion, über das Absehen von seinen konkreten Bestimmungen vergesellschaftete. Individualismus bedeutete somit nicht Vereinzelung, sondern Eintritt als abstrakt Gleicher, als Citoyen in die Gesellschaft.

In den 1960er Jahren kann man eine Zäsur im Individualismus verorten. Da beginnt der zweite Individualismus. Dieser bestimmte sich durch die Suche nach „authentischen Lebens- und Ausdrucksformen“(Taylor 2009, 788). Es war das „Zeitalter der Authentizität“.

Diesem Individualismus entsprach eine Pluralisierung der Lebensformen, ausgehend von den „Neuen sozialen Bewegungen“ – wie der Frauen-, der Schwulen- und all den anderen Minderheitenbewegungen, die ihn prägten. Diese eröffnete eine Politik in der ersten Person, eine Politik, die Identitätspostulate wie Geschlecht, Rasse, Religion oder Ethnie verhandelt. Das Ich-Gefühl ist damit in die politische Arena eingetreten.

Pluralisierung aber bedeutet einen Individualismus eigener Art. Es ist eine wesentliche Intention meines Buches, dies klar zu machen. Deshalb lautet dessen Ausgangsthese: Pluralisierung bedeutet einen dritten Individualismus. Dieser ist weder Herstellung von Gleichheit durch Ähnlichkeit, noch ist er die öffentliche Behauptung der jeweiligen Besonderheit.

Der heutigen Pluralisierung – die nicht eine Pluralisierung der Lebensformen, sondern eine Pluralisierung der Bevölkerung ist – geht es nicht mehr darum, die nationale Gestalt umzuschreiben. Wir sind dieser Gestalt vielmehr verlustig gegangen. Und das ist eine wesentliche Änderung. Denn jetzt ist die Demokratie mit ihren Abstraktionen ohne Gestalt – also nackt: Was aber bedeutet das für den Einzelnen? Wie schreibt sich dies ins Subjekt ein?

Grob gesagt: als Abzug. Die Leerstelle kann sich nicht positiv darstellen, als Gestalt, wie die nationale Gestalt, als etwas, das hinzukommt. Sie kann sich nur als Abzug, als Weniger, als Minus manifestieren und bemerkbar machen. Genau das ist es, was den dritten Individualismus, den Individualismus der Pluralisierung, ausmacht: das Minus-Subjekt, das Weniger-Ich.

Pluralisierter Individualismus (also der Individualismus der Pluralisierung) bedeutet die Spaltung des Individuums, die Erfahrung der Kontingenz, die Erfahrung der Ungewissheit, der prinzipiellen Offenheit. Anders gesagt: Der dritte Individualismus bedeutet die Einführung der Kontingenz ins Herzen dessen, was gegen die Kontingenz im eigenen Leben gerichtet sein sollte – in die Identität.[1]

Das hat zur Folge, dass wir uns heute alle immer und immer wieder versichern müssen, wer wir sind und wo unser Platz ist. Diese Versicherung ist nicht mehr einfach gegeben. Diese Garantie, wer wir sind, ist nicht mehr selbstverständlich. Sie wird nicht mehr von außen, öffentlich angeboten. Diese Versicherung ist heute gewissermaßen privatisiert. Das verlangt dem Einzelnen viel ab: Er muss sich seiner eigenen Identität versichern. Wir müssen uns selbst ständig unserer eigenen Identität versichern.

Und diese unsere Identität steht heute immer neben anderen Identitäten. Das ist nicht einfach nur ein äußerliches Aufeinandertreffen. Es stellt uns vielmehr täglich und immer wieder aufs Neue in Frage. Und genau das ist es, was uns verändert: die Erfahrung, dass unsere eigene Identität immer nur eine Option unter anderen ist. Sie ist zwar unsere Identität, aber wir haben notwendigerweise auch eine Distanz zu ihr – eine Distanz zu uns selbst gewissermaßen. Jeder spürt heute, dass er selber nur eine Möglichkeit neben anderen ist. Dass seine Identität nicht beanspruchen kann, „normal“ zu sein. Sie kann das nicht nur für andere nicht beanspruchen – also sie kann anderen nicht mehr vorgeben, was Normalität ist. Wir können es auch für uns selbst nicht mehr. Das heißt: Wir können nicht mehr unhinterfragt, ungebrochen, selbstverständlich wir selbst sein. Denn wir erleben täglich: Wir könnten auch ganz anders leben, wir könnten auch ganz anders sein.

Pluralisierung bedeutet also: Vielfalt, die sich in jeden von uns einschreibt. Und übersetzt für den Einzelnen bedeutet Pluralisierung: weniger Identität! Wir sind heute weniger Ich, weil wir eingeschränkt, weil wir nicht selbstverständlich, weil wir infrage gestellt sind. Wir sind nicht-volle Ichs, unsere eigenste, unsere persönliche Identität ist heute immer auf andere Identitäten bezogen, auf Identitäten, die ganz anders sind. Wir müssen heute notwendigerweise die Außenperspektive auf uns in unsere Innenperspektive, in die Innerperspektive darauf, wer wir sind, einbeziehen. Wir sind weniger selbstverständlich ICH. Kurzum: Wir leben im identitären Prekariat. Und wie jedes Prekariat verlangt uns das mehr Arbeit ab als in gesicherten, fixen Verhältnissen. Es kostet also mehr Aufwand, weniger Ich zu sein – so lautet die paradoxe Folge des pluralisierten Individualismus.

Nun ist zu der Prekarisierung der Identitäten anzumerken, dass diese nicht unabhängig von der gesamtgesellschaftlichen Prekarisierung zu denken ist. Die ökonomische De-regulierung hat unser aller Existenz ihrer Sicherheitsgarantien beraubt. Was hier aber in den Blick genommen wird, ist, dass sich die Grundlagen unseres Zusammenlebens, die Grundlagen der Demokratie verändert haben.

Wenn man Pierre Rosanvallon folgt, dass der demokratische Gedanke mit seinem Anspruch, dass „jeder als einer zählt“, dass „jeder den gleichen Anteil an der Souveränität hat“ (Rosanvallon 2013, 49) und dass dieser Gedanke der tiefste und utopischste Einschnitt war und ist – wenn man dem folgt, dann muss man sagen: Wir leben heute an der Kippe. An einer gefährlichen Kippe.

An jener Kippe, wo der dritte Individualismus, jener, der sich der nationalen Gestalt entledigt hat, einen Demokratisierungsschub bewirken könnte. Denn pluralisierte Subjekte mit ihren eingehegten Identitäten sind sozusagen wahre demokratische Subjekte. Sie könnten es zumindest sein – weil ihr Weniger-Ich psychopolitisch der Kategorie der demokratischen Leere entspricht. Jener Kategorie also, die Claude Lefort zufolge die Demokratie auszeichnet. Zugleich aber gehen mit dem dritten Individualismus auch Formen der Abwehr gegen eben diese Pluralisierung einher, Abwehrformen religiöser, kultureller, politischer Natur, die durchaus vehement ausfallen können – wie wir tagtäglich erleben. Vehement, denn der Begriff für diese Abwehr der Pluralisierung lautet: Fundamentalismus. Zentral aber ist, dass dieser dritte Individualismus kein einfacher, sondern vielmehr ein dialektischer Effekt ist. So sind auch die Abwehrformen immer noch von ebendiesem dritten Individualismus geprägt. Dies zu verstehen ist nicht nur für die Analyse, sondern auch für jede mögliche politische und gesellschaftliche Gegenstrategie gegen solche Abwehrformen relevant.

Dabei ist zu bedenken, dass der dritte Individualismus keine gewollte, keine willentlich herbeigeführte, keine erkämpfte Identität ist. Pluralisierung ist kein politisches Projekt. Sie ist vielmehr passiert. Ein Effekt, eine Folge der globalisierten Lebensumstände. Und diese Folge ist kein autonomes, selbstermächtigtes Subjekt. Der pluralisierte Individualismus hat – zunächst – keinen eigenen Inhalt. Es gibt keine eigene Bestimmung des pluralisierten Individuums wie etwa den abstrakten Citoyen oder das singularisierte Identitätssubjekt. Was ihn auszeichnet, ist einzig die Einschränkung seiner Identität. Das aber ist ein Unterschied ums Ganze. Im Gegensatz zum ersten und im Gegensatz zum zweiten Individualismus wissen die Leute meist nicht, dass sie längst pluralisierte Subjekte geworden sind. Aber sie spüren, dass ihre Traditionen brüchig, dass ihre Identitäten prekär geworden sind. Und sie empfinden die Anstrengung, diese prekäre Identität herzustellen und zu halten. Manche empfinden das als Freiheit, als Befreiung. Manche erleben das aber als Verlust, als tiefe Verunsicherung und somit als Bedrohung. In jedem Fall aber ist klar, dass wir heute andere Subjekte sind, als es die Subjekte der homogenen Gesellschaft waren. Ja mehr noch: Wenn wir alt genug sind, dann sind wir selbst andere Subjekte, als wir es noch in der relativ homogenen Gesellschaft Ende des 20. Jahrhunderts waren.

Und da stellt sich die Frage: Wie können wir als solche, als pluralisierte Individuen zusammenleben? Denn das radikal Neue an dieser Pluralität liegt nicht einfach darin, dass unsere Gesellschaften moralisch und religiös vielfältiger werden. Das radikal Neue liegt darin, dass wir überhaupt kein Weltbild mehr haben, „das von allen geteilt wird“ (wie Charles Taylor es genannt hat). Wie aber können wir, wie können pluralisierte Individuen ohne ein gemeinsames Weltbild, ohne geteilte Überzeugungen zusammenleben?

Die Gesellschaft des dritten, des pluralisierten Individualismus tut sich schwer damit, eine übergreifende Identität, eine Identität, die alle umfassen würde, anzubieten. Alles, was sie anbieten kann, ist – Neutralität.

Diese Neutralität materialisiert sich als Zone, als Raum, als öffentlicher Raum. Wenn unterschiedliche Kulturen, Religionen, Identitäten aufeinander treffen, die sich nun eine Gesellschaft „teilen“ sollen, dann braucht es dringend eine neutrale Öffentlichkeit. Dann bedarf es neutraler Zonen, in der sich diese Verschiedenheiten begegnen können. Bereiche, in denen man auch als Verschiedener, als Pluralisierter gleich sein kann. Es bedarf des öffentlichen Raums, der Öffentlichkeit als einer neutralen, als einer Begegnungszone.

Die Begegnungszone – das ist ein neues Bild von der Gesellschaft. Ein Bild, das man sozusagen auf der Straße findet. Angelehnt an die Verkehrsberuhigung (wo das Konzept herkommt) ist die Begegnungszone das gesellschaftliche Konzept eines gleichberechtigten Miteinanders unterschiedlicher Teilnehmer – eine Gesellschaftsberuhigung also, wo die Begegnung sich gerade durch die Unterschiede reguliert. An der Begegnungszone wird deutlich, dass wir heute eben keine individualisierten Monaden sind (wie etwa Mark Lilla unterstellt) – wir sind keine gegeneinander abgeschlossenen Entitäten. Denn die Verschiedenen, die hier aufeinandertreffen, affizieren sich sehr wohl gegenseitig. In ihrem Zusammentreffen, in ihrer Begegnung, in dem, worin eben die Pluralisierung der Gesellschaft besteht, kommt das Weniger, das Minus zum Tragen, das jeden Einzelnen betrifft. Denn die Einzelnen sind ja in ihrem Innersten geprägt von der Pluralisierung – eben durch das Weniger, den Abzug von ihrer Identität. Es ist keine positive Citoyengestalt, es ist dieses Minus, das sie verbindet.

An dieser Stelle muss man den Unterschied zwischen der Abstraktion (des alten Citoyens) und dem Minus (des pluralisierten Bürgers) deutlich machen. Die Abstraktion von den besonderen Identitäten, von den jeweiligen partikularen Bestimmungen war der Versuch, die Ähnlichkeit auf der nicht partikularen Ebene der Nation wiederherzustellen (mit allen positiven Effekten, aber auch mit allen Schattenseiten). Das Minus hingegen, das uns heute prägt, ist von keiner Ähnlichkeit mehr bestimmt. Es ist weder eine Feier der Differenz noch eine Verbindung der Ähnlichen: Es ist vielmehr nur eine Begegnung, eine Verbindung der Unterschiede. Was aber ist diese Begegnung, diese Verbindung?

Zunächst einmal ist es eine äußerst nüchterne Verbindung, die die Menschen in dieser Begegnungszone – bestenfalls – „zu freien und gleichen Mitbewohnern eines notwendig geteilten sozialen Raums (macht), wo alle unter Motivationsdruck stehen, sich auf die fairen Regeln des Zusammenlebens zu einigen“ (Müller 2010, 66) – so skizziert Jan-Werner Müller nicht die Begegnungszone, sondern den Verfassungspatriotismus. Damit ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung der Begegnungszone benannt.

Denn das Spezifikum der Begegnungszone besteht in den Folgen, die diese nüchterne Verbindung für uns alle hat. Die Begegnung, die Verbindung mit Nicht-Ähnlichen bewirkt etwas – sie macht uns nicht alle gleich, aber sie relativiert die Unterschiede aneinander. Sie macht deutlich, ja mehr noch, sie macht unmittelbar erfahrbar, dass die Besonderheit des Einzelnen, aller Einzelnen sich nicht absolut setzen kann, da sie immer neben anderen Besonderheiten bestehen muss. Die Verbindung der Unterschiede, deren Begegnung, belässt unsere verschiedenen Identitäten in ihrer Verschiedenheit – aber sie reduziert deren Geltung. Für jeden von uns.

In der Begegnungszone der pluralisierten Gesellschaft zirkulieren also nicht Verfassungspatrioten mit eindeutigen, sondern Menschen mit eingehegten Identitäten. Diese sind weder abstrakte Citoyens – dazu sind sie zu konkret in ihren Unterschieden –, noch substantiell abgeschottete Monaden mit Smartphones – dazu sind sie durch ihr Aufeinandertreffen zu sehr verändert. Man könnte sagen, in der Begegnungszone erfahren sich die Leute als das, was sie sind, plus einem Minus. Plus dem Minus, das ihre Identität durch jene der anderen eingrenzt. Wir müssen Gesellschaft völlig neu denken – als eine neue Art von Ganzem, das nicht in einem positiven Gemeinsamen, sondern vielmehr in einem negativen Gemeinsamen besteht: Die Verbindung besteht nur darin, dass die Partikularismen sich aneinander relativieren. Die Verbindung der pluralisierten Subjekte, das, was sie verbindet, besteht nur in dem Abzug, den sie aneinander erfahren.

Die pluralisierte Gesellschaft birgt kein Versprechen einer gemeinsamen Gesellschaft mehr. Das Minus ist ihr einziges „Versprechen“. Gesellschaft bedeutet also die Verbindung der Unterschiede qua einem Minus. Das ist die Formel, die die Pluralisierung benennt. Und das scheint die einzige Gesellschaftsform, die wir den Fundamentalismen aller Art entgegenhalten können.

 

Literatur

Isolde Charim, Ich und die anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien 2018.

Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus. Berlin 2010

Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013.

Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009.



Der Text basiert auf dem Vortrag zur Verleihung des Philosophischen Buchpreises 2018 am 14. September 2018.

[1] Wesentlich ist es, hier noch einmal daran zu erinnern, dass diese drei Individualismen zwar ihren Schwerpunkt, ihre Vorherrschaft abwechseln, sie aber in diesen unterschiedlichen Konstellationen heute alle drei parallel existieren.