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Die Idee personaler Authentizität als Entsprechung von Schein und Sein einer Person, d.h. als konsequentes Entscheiden, Handeln und Reden im Einklang mit den eigenen Werten und Überzeugungen, findet sich bereits in der Antike. Insbesondere Sokrates und die Stoiker plädieren für den Mut zur Echtheit und stellen diesen in den Kontext einer als Lebenskunst verstandenen Philosophie sowie einer philosophischen Selbstsorge: Authentizität gilt als Tugend, die mit anderen Tugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit etc.) untrennbar verbunden ist. Eine Person gilt beispielsweise nur dann als gerecht, wenn sie zuverlässig und unter allen Umständen in Wort und Tat für das Gerechte eintritt und dieses nicht aus opportunistischen Gründen preisgibt.
Nicht nur die antiken Philosoph*innen, sondern auch zeitgenössische, humanistisch orientierte psychotherapeutische Paradigmen gehen davon aus, dass Echtheit, Glaubwürdigkeit und Integrität ebenso wie andere Tugenden, Haltungen und Handlungsdispositionen durch Selbsterziehung und Gewöhnung erlernbar sind und ein wichtiges Moment einer gelingenden Persönlichkeitsbildung darstellen; die von Viktor Frankl entwickelte Logotherapie hat zu diesem Zweck eine eigene Methode, die Personale Existenzanalyse (PEA), ausgearbeitet.
Einer der wichtigsten Gründe für die guten Erfolgsaussichten des Bemühens um Authentizität ist deren Bedeutung für ein erfülltes und gutes Leben. Eine authentische Lebenspraxis aktualisiert Kompetenzen und Fähigkeiten, die für menschliche Lebewesen spezifisch sind und ebendeshalb deren artspezifisches Gedeihen befördern: Authentizität bedarf erstens einer durch kritische Selbstreflexion gewonnenen Erkenntnis der eigenen Person, d.h. ihrer Eigenschaften, Überzeugungen, Werte und Neigungen ebenso wie ihrer biographischen Vergangenheit. Damit diese Selbstbetrachtung „Erkenntnis“ im Wortsinn beinhaltet, also einen möglichst hohen Grad an Realitätsbezug gewährleistet, ist ferner Wahrhaftigkeit vonnöten: Die Voraussetzung für eine authentische Selbstpräsentation nach außen ist eine authentische Selbstpräsentation nach innen. Wir müssen uns mit eigenen Defiziten, persönlicher Schuld oder Versagen ebenso konfrontieren wie mit unseren Fähigkeiten, Charakterstärken und Leistungen und bereit sein, kritische Rückmeldungen anderer gewissenhaft in die eigene Selbstprüfung einzubeziehen. Der beschriebene Umgang mit dem eigenen Selbst ist schwierig und erfordert Beherztheit und Einübung, doch er wird belohnt mit der zunehmenden Fähigkeit, sich (nicht nur in der Selbstreflexion) der ungeschönten Realität zu stellen, und ermöglicht zugleich eine konstruktive persönliche Weiterentwicklung gemäß den eigenen Idealen und Zielen. Das Bewusstsein dieser gewonnenen Kompetenzen vermittelt zugleich ein Vertrauen in die eigene innere Stärke. Letztere zeigt sich dann auch in der nach außen vermittelten Authentizität, wo sie mit der Wahrnehmung von Autonomie, Souveränität und Selbstmächtigkeit verknüpft ist. Die positive Wirkung praktizierter Wahrhaftigkeit und Echtheit wird ergänzt durch eine Vertiefung sozialer Fertigkeiten: Wer sich zu den eigenen Schwächen bekennt und keine Scheu hat vor kritischen Rückmeldungen, ist teamfähiger in beruflichen Kontexten und kompetenter in privaten sozialen Beziehungen. Idealerweise geht die bewusste Einübung von Authentizität mit einer zunehmenden Toleranz für die Autonomie anderer einher.
All diese Vorteile gelebter Aufrichtigkeit wirken selbstverstärkend und motivieren zu einer Fortsetzung des Strebens nach Authentizität: Wir können Authentizität lernen, weil wir spüren, dass sie zu einem gelingenden Leben beiträgt.
Einfach ist dies freilich nicht – doch wie bei jeder anderen Form von Kompetenz (intellektuell, sportlich, künstlerisch etc.) liegt ein Teil der Werthaftigkeit von Authentizität eben darin, dass sie unter Anstrengungen und manchmal auch mit Rückschlägen erworben wird. Eine der schwierigsten Aufgaben dabei ist zweifellos die Selbsterkenntnis. Wir befürchten, unbewusst eben doch Opfer des blinden Flecks unserer Selbstwahrnehmung zu sein, oder sind unsicher, welche kritischen Außenperspektiven auf unsere Person wir uns zu eigen machen sollten. Doch die Akzeptanz der Unmöglichkeit einer absoluten Selbsterkenntnis ist vielleicht selbst ein integrales Moment von Authentizität. (dk)
contra
Personale Authentizität bedeutet vor allem, in einem aufrichtigen Verhältnis zu seinem eigenen Leben zu stehen. Was heißt das und wie kommt man genau dorthin? Wohl niemand würde bestreiten, dass Aufrichtigkeit viel mit Selbsterkenntnis zu tun hat. Setzen wir das einmal voraus und fragen uns also, ob man Selbsterkenntnis erlernen kann. Klar zu bejahen wäre die Frage, wenn Lernen einfach mit Wissenserwerb gleichzusetzen wäre. Ich kann fraglos mit der Zeit immer mehr Wissen über einen Gegenstand anhäufen und ihn in diesem Sinne immer besser erkennen.
Erkenntnis lässt sich freilich schwerlich rein quantitativ bestimmen. Es kommt ebenso darauf an, das angesammelte Wissen richtig ordnen zu können, also beispielsweise relevante von irrelevanten Aspekten trennen zu können, die gesammelten Erkenntnisse mit bereits bekannten in Verbindung zu bringen oder allgemeine Begriffe und Gesetze aus ihnen zu destillieren. Diese Fähigkeiten ermöglichen es überhaupt erst, sich in sinnvoller Weise Fakten aneignen zu können. Es ist, denke ich, kaum bestreitbar, dass auch diese Fähigkeiten erlernbar sind. Manche werden sich dabei schwerer tun, andere leichter, doch unser Bildungssystem basiert ja genau darauf, dass das möglich ist.
Erkenntnis setzt darüber hinaus eine sehr spezielle Fähigkeit voraus, die man als Fähigkeit zur Distanznahme bezeichnen kann. Es genügt nicht, Wissen über einen Gegenstand anzusammeln und zu ordnen, ich muss auch von meiner persönlichen, unmittelbaren Perspektive auf den Gegenstand abstrahieren können, um zu gewährleisten, dass mein Wissen über ihn auch für andere nachvollziehbar ist und nicht einfach nur auf meinen Vorurteilen basiert. Es könnte sonst passieren, dass ich mir mit der Zeit ein zwar in sich stimmiges und in quantitativer Hinsicht umfangreiches System des Wissens zurechtlege, das jedoch von anderen als völliges Wahnsystem empfunden wird.
Auch die Tugend der Distanznahme ist sicherlich erlernbar und auch das spielt in unserem Bildungssystem eine große Rolle. Wir kriegen beigebracht, unserer eigenen Intuition zu misstrauen und dem zu vertrauen, was die Wissenschaft sagt. Durch jahrelanges Training werden wir darin immer besser. Und das führt dazu, dass wir schließlich auch uns selbst gegenüber in ein immer distanzierteres Verhältnis treten können und uns immer besser selbst zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion machen können.
Doch ist es damit getan? Ich denke nicht, denn zu wahrhafter Erkenntnis gehört noch eine letzte Fähigkeit. Sie setzt voraus, zu dem Gegenstand in einem gleichzeitig distanzierten und engagierten Verhältnis stehen zu können und zugleich das Maß an Distanz und Nähe zum Gegenstand richtig einschätzen und kontrollieren zu können. Kann man diesen Geschmack, diese Intuition erlernen oder nicht? Hier habe ich meine Zweifel. Man kann durch die wiederholte Beschäftigung mit einem Gegenstand fraglos dahin kommen, in diesem Sinne ein Gespür dafür zu bekommen, um was es ‚eigentlich‘ geht, was eigentlich ‚der Witz‘ an ihm ist. Doch ebenso, wie es selbst für Expert*innen oftmals unmöglich ist, dieses eigenartige ‚Etwas‘ in auch nur halbwegs klar verständliche Worte zu fassen, gibt es auch einfach diejenigen, bei denen es nie ‚Klick‘ macht – und umgekehrt diejenigen, von denen man sagt, sie hätten ein besonderes ‚Talent‘ für die Sache, die sofort das richtige Gefühl für sie haben ohne jedweden Lernprozess.
Und so ist es eben auch mit uns selbst: Es gibt Menschen, die von sich aus ein gutes Selbstgespür haben, die in einer großen Nähe zu sich selbst leben. Gelingt es ihnen, diese Intuition mit der gleichzeitigen Fähigkeit zur kritischen Distanznahme zu verbinden, kann man von einem authentischen Selbstverhältnis sprechen. Fehlt dieses Gespür, verläuft sich die Selbstreflexion ins Leere und gerät zum bloßen ergebnislosen Grübeln über sich. Gründe dafür können etwa Traumatisierungen sein, die man durch bloßes Lernen nicht überwinden kann; oder auch ein angelerntes Übermaß an Reflektiertheit. Kann man das Lernen verlernen?
Erziehung ist unter dem gegenwärtigen Leitparadigma, dem zufolge erlernbares Wissen und entsprechende skills Hauptziele der Erziehung seien, leider überwiegend Erziehung zur Unauthentizität – denn authentische Menschen sind solche, die unbequem sind, die sich nicht von außen vorschreiben lassen, wie sie sich selbst zu verstehen haben. Eine demokratische Gesellschaft sollte das ändern. (ps)