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Nr. 1 / 2019
Plurale Identität

Soziale Herkunft als verworfene Identität. Die (Un)Möglichkeit einer pluralen Identität bei Didier Eribon

Das Verlassen der Herkunftsklasse, das Verdrängen und Verleugnen der Herkunft zugunsten der Möglichkeit eines anderen Lebens und eines anderen Verhältnisses zum Selbst bilden zentrale Motive in der autobiographischen Schrift Didier Eribons Rückkehr nach Reims von 2016. Ebenso legen sie den Ausgangspunkt für das ein Jahr später erschienene Buch Gesellschaft als Urteil, in welchem Eribon ausgehend von den eigenen biographischen Erfahrungen tiefergehende Gedanken über die Sozialstruktur der Gesellschaft und den symbolischen Gehalt ihrer Gewalt entwickelt. Eribon stammt aus der französischen Arbeiterklasse und erlebte eine mit Homo-Feindlichkeit, mit Armut und geringen Chancen belastete Jugend im Reims der 60er Jahre, bevor ihm der Bildungsaufstieg und damit die geographische und soziale „Flucht“ aus seinem Herkunftsmilieu gelang. In den Werken des Schriftstellers wird spürbar, was es heißen mag, die Identitätskomponenten, die mit der eigenen Herkunftsklasse einhergehen, mit weiteren Identitätsanteilen vereinen zu müssen. Insbesondere im Kontext von pluralen Vorstellungen von Identität scheinen die Darlegungen Eribons darauf hinzudeuten, dass die Möglichkeit der Ausbildung einer pluralen Identität in seinem Fall eine klare Grenze hat. Denn die Dringlichkeit und Not, die mit Eribons Herkunftsverleugnung und seiner Flucht in andere soziale Verhältnisse deutlich wird, macht offensichtlich, dass Identitätsanteile, die sich affirmierend aus einer sozialen Herkunft aus der Unterschicht speisen, nicht ohne Weiteres mit jenen zu vereinbaren sind, die ein Ankommen in der bildungsbürgerlichen Mittelschicht überhaupt erst möglich erscheinen lassen. Vielmehr scheint in der Verweigerung einer solchen pluralen Identität ein emanzipatives Potential zu liegen, die das Leben der Betroffenen zwischen zwei gesellschaftlichen Realitäten erst möglich macht.

 

Scham und Selbstveränderung als Umgang mit der sozialen Herkunft

In den Büchern Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil, in welchen Didier Eribon autobiographisch seine eigene Herkunftsgeschichte aufarbeitet und sie mit soziologischen und sozialphilosophischen Überlegungen über das Frankreich der 50er und 60er Jahre verbindet, berichtet er von der geistigen Enge, der erbitterten Homophobie und dem gängigen Rassismus in seinem Herkunftsmilieu. Eribon beschreibt den Abstand, den er seit der Jugendzeit bewusst zu seiner Herkunft aufgebaut hat, in seiner physischen und sozialen Dimension: Er empfindet sie als  alternative, durch ihn abgelehnte Lebensbahn, die ihn als parallele Gegenwart begleitet und für die er tiefe Scham empfindet:

„Als mein Vater 2006 starb, war ich auf einmal in einer Art Verwirrung. Ich hatte ihn seit vielen Jahren nicht gesehen. Er war schrecklich krank. Ich habe nicht versucht, ihn ein letztes Mal zu sehen. Als er starb, war ich aber plötzlich gezwungen, darüber nachzudenken: Warum hatte ich mich so sehr von meiner Familie distanziert? Weil ich die unerträgliche Homophobie meines Vaters, meines Milieus gespürt habe? Oder lag es nicht auch daran, dass ich, wollte ich mich neu erfinden, diesen ganzen Teil meines Lebens, meiner Vergangenheit, meiner Jugend – eben Sohn einer Familie aus der unteren Arbeiterklasse zu sein – beiseite schieben musste.“ (Eribon: taz-Interview vom 23.09.2016)

Doch die Scham bezieht sich nicht allein auf die tendenziell rassistischen und homophoben Einstellungen seines Herkunftsmillieus, sondern sie scheint sich aus der gesamten Realität der Lebenswelt seiner Eltern zu speisen. Er schämt sich für das, „was meine Eltern waren, für den Ort an dem sie lebten, für ihre Art zu sprechen.“ (Eribon 2017, 70) In dieser Scham offenbart sich für ihn das „Elend der Position“ als subjektives Leiden an der materiellen und symbolischen Grundlage der sozialen Klasse, auf welche man festgeschrieben ist; also ein Leiden, das sich mit dem Bewusstsein einstellt, dass man weniger Wohlstand und Wert hat als die „besseren“ Leute im Dorf oder im Viertel, dass diese soziale Positionierung und die Behandlung in der Gesellschaft, die damit einhergeht, tendenziell als selbstverschuldet oder verdient angenommen wird. Dazu kommt, dass gleichzeitig nur eine sehr geringe Möglichkeit besteht, etwas an der eigenen Position oder an der Position der eigenen Kinder zu verändern. Der Begriff des Elends der Position beschreibt eine prägende Dimension des Welt- und des Sozialbezuges der Angehörigen ausgegrenzter oder minderheitlicher Gruppen, und ist ihnen durch die symbolischen Ordnungen, die sie täglich im Vollzug der sozialen Beziehungen in ihrem Alltag erleben, physisch und psychisch in Körper, Denken und Empfinden eingeschrieben. Die Konsequenzen der sozialen Position sind in Eribons Schilderungen der sozialen Herkunft also bspw. nicht nur die physischen Effekte (jahrzehntelanger) harter körperlicher Arbeit, sondern ebenfalls ein scheinbar selbstgewähltes sehr frühes Ausscheiden aus der Schule (das Eribon bei einigen seiner Mitschüler beobachtet) und eine wiederkehrende Situation des Beschämt-Werdens seitens der sozial höher Positionierten. Die Konsequenz solcher und ähnlicher Erfahrungen legt Eribon im eigenen Erleben als ständige Angst dar, als „Intensität einer unüberwindbaren Panik oder als dumpfes Gefühl der Unruhe“ (Eribon 2017, 48).

Daneben äußert Eribon sein Bedürfnis, von seinen Mitschüler*innen, seinen Mitstudierenden und später in seinem intellektuellen Umfeld als jemand von gleicher Herkunft wahrgenommen zu werden. Dieses Bedürfnis bewegt ihn dazu, sich so zu kleiden, so zu sprechen, sich so zu bewegen wie sie. Ebenfalls bildet er ein ähnliches Wissens- und Interessenspektrum aus und wendet sich der bürgerlichen Bildung zu. Diese bewusst forcierte Selbstveränderung entlang bildungsbürgerlichen Werten geht in Eribons Biographie scheinbar notwendig mit einer völligen Abwendung von dem durch sein Herkunftsmilieu spezifizierten Werte- und Zukunftshorizont einher. Er beschreibt

„die kulturelle Transformation eines Selbst als Mittel und zugleich Resultat einer sozialen; der Wille, sich im Übergang in eine andere Welt von derjenigen, aus der man kommt, so gut es geht zu entkoppeln und mit derjenigen, in die man geht, so gut es geht zu verschmelzen. Die ‚Rückkehr‘ zwingt einen dazu, den Weg den man zurückgelegt hat, aufs Neue zu durchdenken und sich zu fragen, was die hergestellte Distanz bedeutet.“ (Eribon 2017, 20)

Welche Bedeutung hat nun dieses Bestreben Eribons, die eigene soziale Herkunft dauerhaft und mit aller Konsequenz zurückzulassen, im Kontext des Nachdenkens über plurale Identität? Der Begriff der pluralen Identität deutet, entgegen starren und statischen Vorstellungen von Identität, die Möglichkeit einer dynamischen und komplexeren Identitätskomposition an, in der die Widersprüchlichkeiten und die Mehrdimensionalität der sozialen Welt nicht verloren gehen. Doch welche Erzählung über Identität wird in Eribons Biografie sichtbar und welche Rückschlüsse erlauben seine Einsichten in Bezug auf die Möglichkeit einer pluralen Identität, der es gelingt, eine soziale Herkunft aus der Arbeiterklasse mit einer Zugehörigkeit zur (bildungsbürgerlichen) Mittelschicht lebendig zu verbinden?

 

Überwindung der sozialen Herkunft als Aufgabe an Identität?

Die Schilderung Eribons beschreibt nicht lediglich seine Aneignung der Kultur der bildungsbürgerlichen Mittelschicht und eine entsprechende Anpassung seiner Identität als übliche Lern- und Veränderungsprozesse. Vielmehr erzählt er das Ausbilden einer Identität, die nur existieren kann, indem sie eine andere, nämlich die Identität der Erstsozialisation im sozialen Herkunftsmilieu, sowie die Sprache, die Lebensrealität und die familialen Beziehungen, die mit ihr einhergehen, in Gänze ablegt und negiert:

„Als ich in diesem Milieu der Kultur und Bildung in Paris ankam, war es sehr schwer, zu meiner Herkunft zu stehen. Dort stammt man vielleicht nicht unbedingt aus dem höchsten Bürgertum, aber die Welt der Arbeiter kennt keiner. Um dazuzugehören, musste ich den Geruch des Proletariers, der an meiner Haut klebte, abwaschen. Ich musste meine Art zu sprechen ändern und mich zu einem kultivierten Intellektuellen umformen. Gleichzeitig dachte ich, ich könnte als Schwuler nur unbehelligt leben, wenn ich mich von dem homophoben Milieu, aus dem ich komme, ablöse. All das betrachte ich heute als eine gesellschaftliche Gewalt, die gegen mich ausgeübt wurde.“ (Eribon, nach Dirk Fuhrig 26.09.2016)

Durch diese und ähnliche Formen der Negation, die die Angehörigen marginalisierter Gruppen leisten müssten, erwerben sie sich ihre Integration in das herrschende kulturelle Universum: Sie bilden eine mit diesem kulturellen Universum kompatible und dort anerkannte Identität aus – zum Preis der Zurückweisung der eigenen Familie, eine Zurückweisung, die so notwendigerweise zum konstitutiven Prinzip des eigenen Selbst- und Weltbezugs wird (Bourdieu 1998, 5f[1]). Dies legt die Vermutung nahe, dass ein Eintreten in die bildungsbürgerliche Mittelschicht durch sogenannte Arbeiterkinder gerade das Abweisen der Möglichkeit einer pluralen Identität nötig macht. Eine Zugehörigkeit zu beiden sozialen Sphären miteinander bruchlos zu vereinen, scheint also unmöglich zu sein.

Gleichsam erweist sich ein nachhaltiges Abweisen einer pluralen Identität als schwer durchführbar – bleibt es in Eribons Biographie doch bei dem Versuch, die Herkunftsidentität komplett abzulegen und eine neue Identität vollständig und mit aller Konsequenz anzulegen:

„Gegen unseren Willen kommt zu uns zurück, wovon wir uns losreißen wollten, und ja, in diesem Fall ist die Vergangenheit die Hölle, genau wie auch die Menschen die Hölle sind, die sie als unsere Vergangenheit festschreiben und dadurch ein soziales Sein, eine feste Identität zuweisen.“ (Eribon 2017, 23f)

In diesen Zeilen wird gleichsam der verpflichtende und unausweichliche Charakter der sozialen Herkunft deutlich, die sich in das eigene Selbst einschreibt und sich nicht durch Bildung oder Maskerade überwinden lässt. Eribons eigener Lebensweg suggeriert ein vollständiges Ankommen in der Identität eines gebildeten Intellektuellen. Doch gerade die Nachhaltigkeit, mit der er das Thema der eigenen Klassenherkunft, der mit ihr einhergehenden Identitätsbrüche und der sie begründenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zunächst von sich weist und dann bearbeitet, impliziert, dass ein wirkliches Ankommen nicht möglich ist. Denn die Kluft zwischen den in der Klassendimension Privilegierten und den durch ihre soziale Herkunft Nicht-Privilegierten existiert auch für diejenigen, die es in die Berufe der Mittelschichten oder Oberschichten geschafft haben:

„Sie verfügen nicht über das soziale Kapital der Privilegierten, sie beherrschen nicht die notwendigen Codes. Dieser Unterschied spielt in den Details des beruflichen und privaten Lebens eine wichtige Rolle. Man fühlt sich unwohl, wenn man in einem bürgerlichen Haus zu Gast ist, man weiß nicht, wie man im Restaurant mit dem Besteck umzugehen hat, man ignoriert die passenden Redeweisen in bestimmten Situationen usw.“ (Eribon 2017, 181)

Diese Wahrnehmung einer unablegbaren Unsicherheit des eigenen Selbst, gepaart mit den darauf folgenden Reaktionen, geht notwendigerweise einher mit der Erfahrung der eigenen Identität als aus der Reihe springend, als ungewollt unangepasst, bis hin zu einer Erfahrung der eigenen Minderwertigkeit: Man spürt den Abstand, den die eigene Lebenswelt zu der jener anderen hat, denen man sich anpassen soll. Denn bei allen Versuchen, sich in die soziale Umgebung und in die zwischenmenschliche Kultur der Ankunftsschicht angemessen einzufügen; bei allen Versuchen, die entsprechende Haltung und den notwendigen Habitus zu kopieren und sich damit der eigenen „Wahl-Identität“ zu versichern, wird man in den eigenen Bestrebungen immer wieder schon daran scheitern, dass man die neue soziale Umgebung nicht kennt und sich nicht angemessen und komfortabel in ihr bewegen kann. Unabhängig von den eigenen Anstrengungen, in der neuen Schicht anzukommen, wird also immer wieder die Relevanz der eigenen Herkunft für die konkrete Ausbildung der eigenen Identität aktualisiert und in einer Art und Weise auf sie zurückgeworfen, die sich im eigenen Erleben als Eindruck einer zwischenmenschlichen oder sozialen Unfähigkeit äußert und die mit dem geringen Wert und Ansehen korrespondiert, die die Mittel- und Oberschicht häufig den Angehörigen aus den unteren Schichten entgegenbringen.

Doch dieses Erleben von Abstand offenbart sich ebenfalls im Hinblick auf das Herkunftsmilieu. In seinen Überlegungen über eine mögliche Versöhnung mit seiner Herkunft zeigt sich für Eribon die Ablehnung der alternativen, durch ihn ausgeschlagenen Identität nicht nur als solche, sondern ebenfalls als Verrat an der eigenen Familie und Herkunftsschicht. Denn das Negieren der Herkunftswelt in der neuen Identität manifestiert sich in der gesamten Person gerade im Kontrast zu den „Zurückgelassenen“: Eribon spricht und denkt nun zu einem gewissen Grad notwendigerweise aus der privilegierten Position heraus, nach der er sich geformt hat.

Die Ausbildung einer pluralen Identität im Sinne einer hybriden Identität, die seine Erstsozialisation im Arbeitermilieu und seine später angenommene Rolle des nach bürgerlichen Maßstäben gebildeten Intellektuellen vereint, scheint für Eribon deshalb nicht möglich zu sein. Vielmehr wird in seinen Schilderungen deutlich, dass die Hinwendung zur bildungsbürgerlichen Identität mit einem Ausweg aus jener homo-feindlichen Deutung des eigenen Schwul-Seins korrespondiert, auf die er mit der in seiner Herkunftswelt herrschenden Interpretation zurückgeworfen gewesen wäre. Eribons Selbstveränderung hat zunächst die Funktion einer sozialen und subjektiven Bewältigungsstrategie: Er entzieht sich Stück für Stück seiner Herkunftswelt, die er als einengend und unfrei erfährt. Doch insbesondere die Ausführungen in Gesellschaft als Urteil offenbaren, dass die Unmöglichkeit, beide Klassenidentitäten und Klassenidentifikationen nebeneinander zuzulassen, nicht lediglich auf eine persönlich-individuelle Unfähigkeit und auf eine damit zusammenhängende Flucht aus einer homophoben Umgebung zurückzuführen ist. Die Unvereinbarkeit ist tatsächlich eine notwendige Konsequenz eines Bruches in der Sozialstruktur, der sich in Eribons eigene Existenz, in sein Erleben und damit in die individuelle Identität hineinverlagert und dort nur schwer überbrückbar weiter existiert.

 

Die Unvereinbarkeit der Herkunfts-Identität als Resultat eines sozialen Bruchs

Der Bruch, der sich in Eribons Erfahrungswelt als „Klassenflüchtiger“ einschreibt, ist für ihn kein Ausdruck einer rein in der persönlich-individuellen Dimension entstandenen Scham und einer entsprechend individuell verursachten Unvereinbarkeit in der Identität einer vereinzelten Person. Vielmehr liegt diesen individuellen Erscheinungen und Erfahrungen auch eine gesellschaftlich-soziale Dimension zugrunde, aus der sich ein sozialer Bruch in das Erleben der Einzelnen überträgt. Den Bruch seiner Erfahrungswelt führt Eribon auf die soziale Spaltung zwischen gesellschaftlichen, hierarchisch zueinander angeordneten Klassen zurück, eine Erzählung, die umso deutlicher wird, wenn man bemerkt, dass er diese Spaltung in Gesellschaft als Urteil unter der Kapitelüberschrift „Klassenkampf“ verhandelt. Hier macht er durch verschiedene Gegenüberstellungen deutlich, für wie grundlegend und politisch er die Unterschiede zwischen den Klassen hält: Während ein gemeinsames, kollektives und geschichtliches, Gedächtnis in den herrschenden Klassen selbstverständlich sei, müsse dasjenige der Beherrschten zuerst formuliert und eingefordert werden:

„Kann man sagen, dass den populären Klassen die Selbstverständlichkeit eines solchen Gedächtnisses abgeht? [...] weil es nicht in Institutionen und Denkmäler eingraviert ist, sondern nur in den Körpern und Seelen, in den Schichten des sozialen Seins und der individuellen Subjektivität besteht – oder sogar erst von politischen Bewegungen eingefordert, formuliert und reformuliert werden muss?“ (Eribon 2017, 178)

Die Selbstverständlichkeit eines geschichtlichen Bewusstseins speist sich für Eribon also aus seiner Allgegenwart, wie sie in Institutionen, in Bildungskonventionen, Straßennamen und vielem mehr historisch eingelassen ist. An diesen hat die Arbeiterklasse nur sehr wenig Teilhabe, insofern als sich ihr soziales Sein und Wirken kaum in ihnen absetzen konnte: Die (Schul-)Bildung, die Hochkultur und die in Städtebau und Denkmalen materiell gewordene Geschichte bleibt stark eingenommen von der Kultur und dem Habitus der Mittel- und Oberschichten. Wo sich also die Identitäten der bourgeoisen Citoyens und Citoyennes überall in der sie umgebenden Gesellschaft historisch-kollektiv zu Hause sehen können und sich in ihr zu spiegeln vermögen, da sieht Eribon bei den Arbeiter*innen und den Klassenflüchtigen einen Mangel, der direkt mit dem ihnen eingeräumten Platz in der sozialen Welt zu tun hat. Deutlich wird dieser Gedankengang durch die Schilderung Eribons eigener Familienumstände: So haben sein Vater und sein Onkel bereits mit 14 Jahren die Schule verlassen, um in der Fabrik zu arbeiten. Ihnen wurde durch Selbstselektion und Ausgrenzung im Bildungssystem früh die Gelegenheit genommen, jene Arten der Beziehung zu ihrer Umwelt, ihrer kollektiven Vergangenheit und Gegenwart aufzubauen, die man in der späteren Schulzeit auszubilden lernt. Eine Konsequenz daraus ist, dass sie die Straßen- und Ortsnamen der Welt, die sie umgibt, nicht einordnen können, weil sich diese aus einem rein bildungsbürgerlichen Bezug zur Welt rekrutieren: Ihre Welt bildet also keinen Hintergrund, in welchem sie sich so als geschichtliche Subjekte erfahren, wie dies die Angehörigen anderer Schichten können (Eribon 2017, 182).

Die Konsequenz aus dieser „Beraubung“, diesem Beraubt-Werden eines möglichen Gesellschafts- und Weltbezuges ist ein Nicht-Zuhause-Sein in weiten Teilen der Gesellschaft. Dagegen sieht Eribon die bourgeoisen Citoyen*nes überall zuhause:

„Überall sind sie in ihrem Element, denn sie sind überall zu Hause [...] sie können Ungerechtigkeit und Unterdrückung hassen und gegen die Verheerungen des Kapitalismus kämpfen. Trotzdem tragen sie tief in ihrem Inneren ein bürgerliches Ethos, das gewisse Reaktionen und Aussagen hervorbringt. [...]: der Korpsgeist, den all das mit sich bringt und der eine Art berufs- und lagerübergreifende Klassensolidarität begründet, ein Geist der umso effizienter ist, als er gar nicht eigens formuliert und ausgedrückt werden muss, weil er für die Bürgerlichen so etwas wie eine zweite Haut darstellt – unbestreitbar, dass all das eine tiefe definitive Kluft zwischen denen herstellt, die diese Privilegien genießen, und denen, die irgendwo anders, an anderen Orten der sozialen Welt geboren wurden.“ (Eribon 2017, 180)

Diese Darlegung soll also gerade nicht nur die mangelnde Vertrautheit von Arbeiter*innen und Arbeiterkindern in der gesellschaftlichen Geographie deutlich machen, sondern ebenfalls die Klassenteilung anzeigen, die durch kumuliertes und sedimentiertes kulturelles Kapital nachhaltig historisch gefestigt wird und die bestimmte Gruppen vom „gemeinsamen“, also vom kulturell und politisch verallgemeinerten Weltbezug und dem Zugang zur entsprechenden Kultur zugunsten der Privilegien höherer Klassen ausschließt. Diese Enteignungen, die durch die Bildungssysteme abgesegnet und verstetigt werden, haben jedoch massive Konsequenzen für den Weltbezug der so Enteigneten, für die Art der Beziehung zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Umwelt. Aber nicht nur ihr Weltbezug wird beeinflusst, auch ihr Selbstbezug, da sich die Beziehung zu sich selbst im Spiegel ihrer sozialen Existenz ausbildet und die Art und Weise dominiert, wie sie sich selbst als Person erleben:

„Die Menschen von denen ich abstamme, waren keine Kommandanten: Sie waren diejenigen, die herumkommandiert, von ihren Bossen, den Priestern, Stadträten und Offizieren immerzu korrigiert, ermahnt und gelenkt wurden. Anders als ihr fühle ich mich nicht stark, wenn ich an meinen Großvater denke. Zu einer Zeit, als Louis-Phillippe den Aufstieg des Bürgertums beaufsichtigte, war er Arbeiter in der Waffengießerei von Lorient.“ (Paul Nizan, zit. nach Eribon 2017, 184).

„Er [gemeint ist Nizan] weiß nur zu gut, dass seine ‚Vorfahren, geht man fünfzig Jahre zurück, so unbekannt, ja so namenlos wie Tiere sind.‘“ (Nizan, zit. nach Eribon 2017, 189).

Vor dem Erfahrungshintergrund dieser Schilderungen Nizans wird die Anonymität und die Geschichtslosigkeit zu einem bestimmenden Faktor, zu einem sozialen Schmerz, den Eribon als Bildungsaufsteiger als den Kernpunkt des eigenen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit identifiziert. Vor diesem Erfahrungshintergrund erscheint ein Bildungsaufstieg als ein nachträglich notwendiger Schritt zur Befreiung der eigenen Existenz:

„Die bürgerliche Versuchung lockt mit all den Reizen der ‚Selbstverwirklichung‘ durch die Kultur. Ihnen nicht erlegen zu sein, der Falle zu entgehen, die darin besteht, dass man mit dem Eintritt in Kultur und Bildung gleichzeitig auch der bürgerlichen Welt beitritt, bedarf einer ganz bewussten Anstrengung. [...] Der Zugang zur Kultur, der Glaube an sie und der Hang all derer, die sich ihr wie einer Religion anschließen, zugleich ihre Klassenherkunft zu leugnen – weil sich die Herkunftsklasse, so heißt es, gerade dadurch auszeichnet, dass Kunst, Literatur, Musik in ihr abwesend, ja das Vorrecht der anderen Klasse sind – ist eine Triebfeder des ‚Klassenverrats‘.“ (Eribon 2017, 187)

Die bewusste Formierung und Reflexion der eigenen Identität von „Klassenflüchtigen“ oder „Aufsteiger*innen“ fasst Eribon daher entsprechend als etwas auf, das für ihre Identität existentielle und moralische Aspekte verwirklicht, das jedoch auch soziale und politische Relevanz besitzt: Denn ein bewusster und selbstbestimmter Umgang mit der eigenen Identitätsbildung erfordert demnach das Ausschlagen dessen, was er als „Kooptionsversuchs“ der Bildungsklassen identifiziert. Ebenfalls erfordert ein solcher Umgang das Ablegen der „begeisterten Komplizenschaft“ von jemandem, der gerade in den Bildungsklassen anzukommen hofft. So zitiert Eribon mit Bewunderung Nizans Verweigerungsgeste („Vergeblich habt ihr versucht, mich glauben zu machen, dass alle Menschen Bürgerliche und nur ein Bürgerlicher ein Mensch ist.“) als Geste der Revolte, die einen Bruch mit der bürgerlichen Kultur symbolisiert. Diese Geste Nizans, eine individuelle und kollektive Vergangenheit zurückzugewinnen, ohne sich diese über eine nahtlose Anpassung an die bürgerliche Hochkultur zu erkaufen, stellt den Versuch einer Wiederaneignung der eigenen Vergangenheit in einer symbolischen, ideellen Sphäre dar. Denn dieses Wiederaneignen besteht in der Sichtbarmachung des sozialen Bruchs, der sich über die Reproduktionsmechanismen der Gesellschaft in die eigene Identität hinein verlagert hat, und kulminiert notwendigerweise in der Verweisung dieses Bruchs aus der eigenen Identität zurück an den Ort, an dem er seine Austragung finden sollte: im Politischen.

 

Die Möglichkeit pluraler Identität im Kontext sozialer Herkunft

Mein Nachdenken über plurale Identität findet statt vor dem Hintergrund der Perspektive einer intersektionalen Theorie, also auch mit einem Blick, der die verschiedenen Unterdrückungszusammenhänge in ihrer Überschneidung thematisieren und kritisieren möchte. Das Konzept der Intersektionalität geht ursprünglich zurück auf die afroamerikanische JuristinKimberlé Crenshaw, die auf die Überkreuzung von Diskriminierungsmechanismen in arbeitsrechtlichen Fällen in den USA aufmerksam machte, um sie insbesondere in ihren Effekten auf schwarze Arbeiterinnen zu kritisieren. Das Konzept ist im deutschen Sprachraum in den vergangenen Jahrzehnten häufig im Kontext von Bestrebungen rezipiert worden, die sich kritisch an jenen Vorstellungen von Identität abarbeiten, die Identitätskategorien als essentiell festschreiben; die also individuelle Identität hauptsächlich als homogene, einheitliche Gruppenidentitäten wahrnehmen, welche sich als Konsequenz gesellschaftlicher Verhältnisse bilden. Vor dem Hintergrund dieser Theoriebildung erscheint ein Verständnis von pluraler Identität zunächst als eine erste Lösung des Problems, indem entgegen starren und statischen Identitätsvorstellungen eine dynamische und komplexere Konzeption bevorzugt wird, in der sich die Widersprüchlichkeiten und die Mehrdimensionalität der gesellschaftlichen Realität abbilden können. Doch wie ist daran anschließend die in Eribons Biografie sichtbar werdende Unmöglichkeit zu verstehen, eine soziale Herkunft aus der Arbeiterklasse mit einer Zugehörigkeit zur (bildungsbürgerlichen) Mittelschicht lebendig zu verbinden?

In Eribons Ausführungen wird meines Erachtens die Idee einer pluralen Identität nicht grundsätzlich verworfen. Das Schreiben über die eigene Biographie und damit auch über die Herausbildung der eigenen Identität impliziert notwendigerweise etwas Plurales, da sich der Autor mit dem Akt des Schreibens selbst erst Klarheit über die zentralen Narrative seiner eigenen Geschichte verschafft. Dieses Herausarbeiten der Narrative des eigenen Lebens ist ebenfalls nicht beliebig. Der zentrale Bruch, der Eribons Beschreibung seiner Herkunft und seines Aufstieges durchzieht, ist nicht vor allem der Bruch zwischen seiner schwulen Identität und seiner sozialen Herkunft, auch wenn diese Verwerfung in seinem Leben besteht. Der zentrale Bruch, auf den sich seine narrative Bearbeitung der eigenen Geschichte bezieht, ist vor allem der Widerspruch zwischen Klassenherkunft und gewählter Ankunftsklasse. Sein Aufwachsen in der Arbeiterklasse ist durchzogen von dem Erleben materieller und symbolischer sozialer Grenzen, die er auch nach seinem Aufstieg in der eigenen Identität mitträgt: Er kann sie nicht einfach durch gekonnte Mimikry abstreifen oder durch Bildung überwinden; sie drängen sich ihm nachträglich auf, gerade dann, wenn sie schon überwunden scheinen.

Eribons Erleben von Grenzen deutet damit auf eine wichtige Kritik hin, die in Bezug auf oben genannte Intersektionalitätsvorstellungen gemacht werden muss: Denn der Fokus auf Beschreibungen der Diskriminierungsüberlagerungen, der dem intersektionalen Diskurs zu eigen ist, kann nicht einfach auf das Nachdenken über Dynamiken gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion übertragen werden – gerade darum, weil diese nicht vereinfacht überschneidend gedacht werden können, ohne komplexe gesellschaftliche Verhältnisse auf Merkmale von Gruppenidentitäten zu reduzieren (Soiland 2012). Strukturelle Gewaltverhältnisse übertragen sich nämlich nicht homolog auf die sich in ihnen versammelnden Personen. Sie können daher auch nicht auf eine Weise auf individuelle Identitäten und Identifizierungsprozesse einwirken, dass daraus klar abgrenzbare Gruppen mit homogenen Gruppenidentitäten entstehen würden, unter denen die Individuen dann mehrere Identifikationen (im Sinne mehrerer Zugehörigkeiten zu Gruppenkollektivitäten) ausbilden oder beanspruchen können.

Wenn ich versuche, eine ähnliche Denkbewegung auf die Überlegungen um plurale Identität zu übertragen, ist zunächst nach dem möglichen politischen Gehalt des Konzeptes zu fragen: Das Vorhandensein einer pluralen Identität impliziert die individuelle Anpassung an eine komplexe und widersprüchliche Gesellschaft, in der immer häufiger verschiedene, vieldimensionale Identitätszuschreibungen miteinander vereint werden müssen. Doch ein solches Identitätsverständnis impliziert nicht per se seine Rückbindung an soziale Teilungs- oder Gewaltverhältnisse und könnte als reine Beschreibung von individuellen oder kollektiven Identitäten gelesen werden. Gerade ein solches Verständnis von Identität wird die Dynamik, die das Erleben der Klassendimension bei Eribon als eine an soziale Gewalt angebundene Problemlage entfaltet, nicht differenziert nachvollziehen können. Genau hier ist jedoch eine deutliche Rückbindung des Identitätskonzeptes an die gesellschaftliche Dimension notwendig, weil jenes, insofern es die individuelle Identitätsbewältigung als zentralen Fokuspunkt einsetzt, die Verschiebung der Verantwortungszuschreibung in den westlichen Gesellschaften wiederholt, die sich im Zuge der neoliberalen Radikalisierung des Kapitalismus ergeben hat. Zu versuchen, mit einem so verkürzten Identitätskonzept die Konsequenz von Klassenlagen für individuelle Identitäten zu beschreiben, hieße, die Identität zu einer Sollbruchstelle zu erklären, um sich den Fragen nicht stellen zu müssen, die nach der Zuspitzung vieler Klassenlagen in Verbindung mit sozialer Herrschaft fragen.

Die Behauptung der Möglichkeit einer pluralen Identität, die sich verbindend zwischen zwei Klassenzugehörigkeiten bewegt, in einer Erfahrungswelt wie jener Eribons als rein emanzipativ einzufordern, hieße nach den obigen Ausführungen, die soziale Spaltung, die das Zentrum einer solchen Identität ausmacht, effektiv zu leugnen: Denn der Bruch, der ein affirmatives Erleben der eigenen sozialen Herkunftsidentität neben der von ihnen bewusst hervorgebrachten Intellektuellen-Identität unmöglich macht, ist ein Bruch, der sich aus der sozialen Sphäre in die Identitätskomposition jener hineinverlegt, die unter ihm zu leiden haben. Wenn man als sogenannte Bildungsaufsteigerin diesen Bruch verschleiert, um ihn aus der eigenen Identität zu verbannen, indem man die Herkunftsklasse (um einen Bildungsaufstieg abzusichern, der notwendigerweise den Mythos der Meritokratie affirmiert) oder die Ankunftsklasse (durch die pauschale Ablehnung von Bildung und damit dem kritischem Wissen, das die bürgerliche Welt hervorbringen konnte) verrät, reproduziert man ihn unweigerlich und verschleiert dadurch ebenfalls die Realität von sozialer Herkunft als Herrschaftsdimension. Die Verweigerung der Möglichkeit einer pluralen Identität im Kontext von sozialer Herkunft besitzt daher nur dann emanzipatives Potential, wenn es gelingt, den Bruch der eigenen Identität nicht als individuelle Unfähigkeit zu verkennen oder ihn auf eine Geschichte der Überwindung sozialer Herkunft zu verkürzen. Vielmehr ist er auf eine Weise zu bearbeiten, die die symbolische Gewalt des sozialen Bruchs in den Reproduktionsmechanismen der Gesellschaft sichtbar macht und sie, zumindest symbolisch, an ihren Austragungsort außerhalb der eigenen Identität zurückverweist.

 

Literatur

 

Bourdieu, Pierre (1998): L'Odyssée de la réappropriation; in: Awal, Cahiers d'études berbères 18.

Crenshaw, Kimberlé (1989): Demarginalizing the Intersections of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: University of Chicago Legal Forum; 1989/1; URL: https://chicagounbound.uchicago.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1052&context=uclf (letzter Zugriff: 13.03.2019).

Eribon, Didier (2017): Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn; Berlin: Suhrkamp.

Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn; Berlin: Suhrkamp.

Eribon, Didier; nach Dirk Fuhrig (26.09.2016): Soziologe Didier Eribon: Wie ein Land nach rechts rutscht; URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/literarischer-adventskalender-2-dezember-didier-eribon.1270.de.html?dram:article_id=372914 (letzter Zugriff: 13.03.2019).

Eribon, Didier (23.09.2016): taz-Interview „Ihr seid nicht das Volk“; URL: http://www.taz.de/!5340042/ (letzter Zugriff: 13.03.2019).

Soiland, Tove (2012): Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie, URL: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/soiland/ (letzter Zugriff 13.03.2019).

 

 


[1]Bourdieu bezieht sich auf die Beschreibung der Rückkehr Mouloud Mammeris in sein Herkunftsmilieu in dem Buch „Der vergessene Hügel“ von 1969 (zitiert nach Eribon 2017, 86-88).