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Nr. 1 / 2019
Interview

Zur Konsonanz von Identität und Differenz. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn

weiter denken: Die zunehmende Pluralisierung unserer Gesellschaft wird häufig als Verlustgeschichte erzählt. Das „Ich“ scheint zunehmend entwurzelt und vereinzelt. Es ist, mit den Worten von Isolde Charim, nur noch ein „Weniger-Ich“. Wird es schwieriger, zu wissen, wer man ist?

Höhn: Da die Zahl und Diversität möglicher Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ zunimmt und nicht abnimmt, besteht die Schwierigkeit wohl eher darin, sich in dieser Pluralität zurechtzufinden und herauszufinden, wer man „eigentlich“ ist. Schwindende soziale Zugehörigkeit wird kompensiert durch das Authentizitätsideal eines „eigenen Lebens“. Hier wird nicht Maß genommen am Anderssein, sondern am eigenen, „wahren“ Ich. Hoch im Kurs stehen Angebote, die sowohl die Erfahrung des Selbstseins als auch die Erfüllung der darauf gegründeten Erwartung des „Mit-sich-selbst-in-Einklang-Stehens“ verstärken. Optimierungen des Daseins tragen fortan den Charakter der Intensivierung des eigensinnigen Selbstseins. Den Gleichstellungsbeauftragten gehen die Auftraggeber und die Nachfrage aus, wo es um die Ermittlung und Gewähr von Alleinstellungsmerkmalen eines Individuums geht.

weiter denken: Der Heimatbegriff hat seit einiger Zeit wieder Konjunktur. In ihm scheint sich die wachsende Sehnsucht nach Zugehörigkeit einzulösen. Dabei wird eine (vermeintlich) sichere und selbstverständliche Identität nicht selten über eine De-Pluralisierung, also eine Homogenisierung angestrebt. Welche Bilder und Erzählungen von nicht exkludierender Identitätsbestimmung haben wir anzubieten? Und: Müssen wir etwas gemeinsam haben, um verbunden zu sein?

Höhn: Häufig folgt die Bestimmung von Identität der Logik des Unterscheidens: Identität kann nicht ohne die Markierung von Differenzen erhalten und die Markierung eines Anders- oder Verschiedenseins gewahrt werden. Scheinbar ist es unumgänglich, um der Identifikation zweier Größen willen einen Unterschied zwischen ihnen auszumachen. In diesem Sinne verweist das Bemühen um Identitätssicherung eher auf Heterogenität als auf Homogenität. Erst nachträglich kommen Gemeinsamkeiten in den Blick. Wenn es aber ebenso zutrifft, dass Beheimatungen identitätsstiftend sind, kommt eine andere Logik ins Spiel. Hier gilt, dass die unbestreitbaren Unterschiede, welche die Unverwechselbarkeit eines Menschen ausmachen, umgriffen werden von Gemeinsamkeiten, die er mit anderen teilt. Wenn aber von Heimat nur dort gesprochen werden kann, wo Menschen etwas miteinander teilen und gemein haben, muss man ein neues Arrangement für die Verträglichkeit von Homogenität und Heterogenität finden. Geeignete Bilder und Narrative stehen hierfür noch kaum zur Verfügung. Es sei denn, man strapaziert erneut die Regenbogenmetapher oder man sieht sich im Bereich der Ästhetik um und wird in der Musik bei der Suche nach einem passenden Gleichnis für die mögliche Konsonanz von Differenz und Identität, Gemeinsamkeit und Teilhabe fündig: Die Partitur für ein großes Orchester ermöglicht eine vielstimmige Gemeinsamkeit. Der Klavierauszug einer Komposition erlaubt ein solistisches Agieren, kann aber Klangvielfalt und -fülle nicht ausschöpfen.

weiter denken: Pluralität, so lässt sich mit Hannah Arendt sagen, ist die Grundvoraussetzung für Politik. Erst die Differenz lässt uns in den kommunikativen und praktischen Austausch treten, den wir die politische Öffentlichkeit nennen. Diese scheint aber momentan mehr und mehr polarisiert und fragmentiert. Wie können wir Rahmenbedingungen schaffen, institutionell wie persönlich, die es erlauben, auch mit ganz Anderen in eine Beziehung zu treten, die dessen Freiheit und Gleichheit anerkennt?

Höhn: Ein interessantes Lehrstück könnte in diesem Kontext der 2012 ausgetragene Streit um die Beschneidung minderjähriger muslimischer und jüdischer Jungen sein. Zur Debatte stand: Verstößt dieses Ritual gegen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit? Oder verletzt das Verbot dieses Rituals das Grundrecht auf freie Religionsausübung? Was ist zu tun, wenn religiöses Ritual mit einem modernen säkularen Ethos in Konflikt gerät? Der Gesetzgeber hat bei der Lösung dieses Konflikts nicht versucht, Differenzen zu eliminieren oder eine religionspolitische Maßnahme zu ergreifen, um die gesellschaftliche Akzeptanz für das religiöse Motiv des Beschneidungsrituals zu sichern. Stattdessen hat er über die Bedingungen und Umstände der Ausführung des Rituals eine Entscheidung getroffen und die rituelle Beschneidung für straffrei erklärt, wenn die Regeln der ärztlichen Kunst eingehalten werden (§ 1631d BGB). Dabei hat er darauf gesetzt, dass sich die gesellschaftliche Toleranz der Beschneidung dann einstellt, wenn die äußeren Bedingungen zur Ausführung des Rituals auch von ihren Kritikern akzeptiert werden können. Vielleicht steckt in der Logik dieser Entscheidung ein Modell für die Zukunft, wenn es um die Ausgestaltung von pluralitätskompatiblen und freiheitsförderlichen Rahmenbedingungen einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft geht.

 

Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die postsäkularen Konstellationen von Religion und Gesellschaft, die „Theologia negativa“ als theologische Hermeneutik der Moderne und (Religions)Philosophie und Theologie im Format einer Existentialen Semiotik. Zuletzt erschien Ich: Essays über Identität und Heimat, Würzburg: Echter 2018.

Die Fragen stellte Ana Honnacker.