Der Begriff der Natur ist aus den Debatten unserer Alltagskultur nicht wegzudenken. Zurecht. Doch was genau bezeichnen wir damit eigentlich? Im traditionellen Verständnis umfasst Natur all das, was nicht vom Menschen gemacht, was nicht Kultur ist. Diese Trennung scheint allerdings nicht mehr restlos haltbar zu sein — zumindest dann nicht, wenn man der Idee des Anthropozäns Glauben schenkt. Diese nimmt an, dass der Faktor Mensch in einem solchen Maße gestaltgebend für das Antlitz der Erde geworden ist, dass Natur — zunehmend domestiziert — beginnt, sich in Kultur aufzulösen.
Mit seinem Essay Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän liefert der Philosoph und Biologe Andreas Weber einen Beitrag, der sich als erklärtes »Gegenstück« (11) zu dieser Idee versteht. Denn im Anschluss an Gary Snyder steht für ihn fest: »Ein Anthropozän wird es nie geben.« (12) Zu sehr sei der Mensch in seinem Innersten von Natur durchzogen, als dass er imstande wäre, diese vollends einzuhegen und zu unterwerfen. So sei die Vorstellung des Anthropozäns selbst noch ein weiterer aufklärerischer Versuch, »die Welt durch Kontrolle zu verbessern und zu beherrschen« (12). Besser werde die Welt aber nicht durch Kontrolle, sondern allein durch Teilnahme. Mit seiner Konzeption des Enlivenments lotet Weber die Bedingungen und Möglichkeiten dieser Teilnahme aus.
»Aufklärung 2.0« — so bezeichnet Weber sein Konzept des Enlivenments, dessen phonetische Verwandtschaft zum Begriff Enlightenment (Aufklärung) kein Zufall ist. Und er übersetzt es selbst als »Verlebendigung«. Seine zentrale These ist, »dass wir ›Leben‹ und ›Lebendigkeit‹ wieder zu fundamentalen Kategorien des Verstehens, aber auch den Handelns machen müssen« (15). Was ist damit gemeint, und wieso ist es von Bedeutung?
Durch die europäische Neuzeit hindurch, von der cartesianischen Trennung über die Aufklärung bis hin zu ihrer Kritik, habe die Wissenschaft und ihr Verdikt der »Körperferne« (27) Regeln erzeugt, die von uns verlangen, »alles als tot zu behandeln« (24). Die Konsequenz: eine Vorstellung der Wirklichkeit, die in ihrem Funktionieren nach »mechanischer Rationalität« (23) aufgeht und im Zeichen menschlichen Fortschritts in ihre Einzelbestandteile zu zergliedern sei — eine »Metaphysik des Toten« (47).
Zudem sieht Weber unsere heutige Zeit in besonderem Maße von zwei Lehren geprägt — dem (Neo)-Darwinismus und dem (Neo-)Liberalismus —, deren Verflechtung die »grundlegende Matrix unseres Realitätsverständnisses« darstelle: den »Bioliberalismus« (45). Der oikos (griechisch Haus, Haushalt, Familie), der sowohl für die Ökologie wie für die Ökonomie namensgebend ist, werde hier allerdings nicht als »Heimat und warmes Herdfeuer«, sondern vielmehr als »Kampfarena« (46) gedacht, in der die Stärkeren sich egoistisch und gnadenlos gegen die Schwächeren durchzusetzen haben, mit dem Ziel, ihr schieres Überleben zu sichern.
Dieses in erster Linie effizienzbasierte Denken habe mit der Realität der Natur allerdings wenig zu tun. Vielmehr fänden darin vor allem die gesellschaftlichen Umstände des vorviktorianischen Englands Ausdruck, in dem Darwinismus und Liberalismus zu einer heute noch wirksamen »ökonomischen Ideologie der Natur« (49) verschmolzen. Ihre Devisen — unter anderem Begriffe wie »Überleben, Optimierung, Effizienz und Erlösung durch Fortschritt« (48) — sind uns gut bekannt, aus Wirtschaft und Evolutionsbiologie gleichermaßen.
Allerdings — so argumentiert Weber — hielten die meisten dieser Axiome einer tatsächlichen Prüfung an der belebten Wirklichkeit nicht stand. Denn: »Natur ist nicht effizient. Sie ist verschwenderisch, schlampig, vergesslich, verträumt, planlos — und in all dem hochredundant […].« (36) Mehr als 90 Prozent ihrer Energie müssten Warmblüter aufwenden, allein um ihren Stoffwechsel aufrechtzuerhalten. Nicht wenige Spezies müssten Millionen von Eiern legen, um das Überleben einiger weniger Nachkommen zu gewährleisten. (55) Auch die Idee der produktiven Konkurrenz lasse nicht nicht problemlos auf die Natur übertragen. »Keine neue Art ist aus Konkurrenzkampf um eine Ressource entstanden.« Vielmehr sei sie der Ort neuer »Symbiosen und Kooperationen« (56). Ebenso verhalte es sich mit der Knappheit: »Ressourcen sind in der Natur nicht knapp. Wo sie es werden, führen sie nicht zu kreativen Auffächerung von Vielfalt, sondern zu Verarmung.« (57) Und schließlich sei auch das Konzept von Eigentum in der Natur nicht vorhanden: »Ein Individuum besitzt nicht einmal seinen eigenen Körper. Dessen Substanz ist in einem permanenten, fließenden Austausch mit der übrigen Welt, die als Nahrung beständig einverleibt wird.« (57f.)
Solche und weitere Erkenntnisse (Vgl. z.B. 38ff.) hätten gegen die »Mainstream-Biologie« (59) begonnen, einen tiefgreifenden Wandel in Gang zu setzen: einen Wandel hin zur Beschreibung der Natur als ein »Kontinuum von ›Inwendigem‹ (Sinn) und ›Auswendigem‹ (Körper)«, als eine »Matrix aus Beziehungen und deren Bedeutungen« (40). »Epigenese« und »Autopoesie« (60) zeichnen ein Bild von Organismen, die nicht mehr als — durch ihre genetischen Anlagen determinierte — Handlungsapparate erscheinen. Vielmehr seien sie materielle Prozesse, »Organisation, aber damit auch immer und unverrückbar Sinn, existenzielle Erfahrung und in dieser poetischer Ausdruck« (61).
Diesem Umstand sucht Webers Konzept des Enlivenments Rechnung zu tragen. Als »Aufklärung der Aufklärung« (27) oder »Romantik 2.0« (115) will es rationales Denken und empirische Beobachtung verlebendigen, »mit der ›empirischen Subjektivität‹ und mit der ›poetischen Objektivität‹ sinnvoller Erfahrungen ergänzen« (15f.). Das Enlivenment spricht sich damit für einen grundlegenden Perspektivwechsel in unserer Wahrnehmung der Natur aus, der gelingen könne, wenn wir »unsere gemeinsame Existenz als verkörperte Wesen als Erfahrungshorizont aller lebenden Organismen« (33) heranzögen. Diese Perspektive verdeutlicht Weber unter Rückgriff auf Gregory Bateson, der dem klassischen Syllogismus:
- Menschen sind sterblich.
- Sokrates ist ein Mensch.
- Sokrates ist sterblich.
einen poetischen Syllogismus beiseite stellt:
- Menschen sind sterblich.
- Gras ist sterblich.
- Menschen sind Gras.
Weber schreibt dazu: »Diese Folgerung ist nicht im Wortsinne wahr. Genau darauf beruht ihre welterschließende Kraft. Sie ist wahr als eine auf Erfahrung beruhende oder poetische Einsicht, die nur teilen kann, wer als ein Körper begehrt.« Diese »poetische Objektivität« sei aufs Tiefste »mit der alltäglichen sozialen Kommunikation, mit Austausch und Interaktion verbunden, mit Lachen und Betroffenheit, mit unserem Fleisch.« (67) Demnach sind »Bedeutung und Ausdrucksfähigkeit im Innersten der Natur verwurzelt« (38).
Weber betont ausdrücklich, dass es ihm nicht um eine »nette Esoterik« (105), nicht um eine »individualistische oder solipsistische Weltsicht« und auch nicht um »Schwärmereien« (112) gehe, wenn er von poetischer Objektivität spricht. Er ist sich auch gewahr, dass sie der Objektivität wissenschaftlicher Beweise nicht gleichkommt. In diesem Sinne sei poetische Objektivität »bewusst schwach« (107). Vielmehr sei es ihm um »eine Praxis der Lebendigkeit« zu tun, »die über die abstrakte Objektivität des Verstandes hinausgeht und die Wirklichkeit des lebendigen Organismus und der eigenen Emotionalität einbezieht« (105). Diese Praxis setzt das körperlich-empfindende Sein und dieses Sein als Ort existenzieller, gültiger und vor allem wertvoller Erfahrungen als nicht weiter ableitbare Tatsache, wodurch eine »Gewissheit in der ersten Person« (106) gelinge. So wende sich diese Praxis gegen den Ausschluss der Subjektivität aus dem empirisch-rationalen Gefüge einer notwendig verkürzten Weltbetrachtung — verwandle empirische Rationalität in empirische Subjektivität. Dazu bedürfe es allerdings der poetischen Präzision, um nicht »ungeprüfter Irrationalität« (120) Vorschub zu leisten. Und die bestehe vor allem im Bewusstsein der unvermeidbaren Paradoxien des Lebens. Das bedeutet auch, dass sich vom Standpunkt des Enlivenments »gleichwohl keine nahtlose neue Utopie entwerfen, sondern nur eine Zärtlichkeit zu dem entfalten [läßt], was ist« (19).
In seinem philosophisch und poetisch gespickten Essay unternimmt Andreas Weber einen Streifzug durch Vergangenes und Mögliches — vor allem unter Gesichtspunkten der Biologie, der Wirtschaft und der Philosophie. Wie im Vorübergehen berührt er dabei Begriffe wie Identität, Freiheit, Leben und Kultur. Dass er dabei oft andeutend und thesenhaft bleibt verdankt sich der von ihm zurecht frei gewählten Form des Essays. Erfrischend kommentiert er: »Wir sollten keine Angst haben, allgemein zu werden und persönlich betroffen zu sein.« (32)
Mit seinem Konzept des Enlivenments — das er in der aufklärerisch-romantischen Tradition verortet — schlägt Weber vor, das Verhältnis von Mensch und Natur grundlegend neu zu denken. In diesem Verhältnis wäre die Natur »Quelle existenzieller Bedeutung«, und nicht mehr »sinnfreier oder neutraler Ort« (18), keine »zu kolonialisierende oder einzuhegende Sphäre« (13). Die Menschen wären nicht mehr nur Konsument_innen, die der Natur als dem abstrakten Anderen gegenüberstehen, sondern »vorübergehende Verwandlungen in einem Prozess von materiell-semiotischen Beziehungen« (14). Das Vorzeichen dieser Begegnung sei dann keine »Ideologie […], die um tote Materie kreist« (16), sondern einzig die »sich selbst organisierende, unhintergehbare, in die Opazität der Wirklichkeit von Ökosystemen, emotionalen Impulsen und poetischer Imagination mündende Lebendigkeit« (13).
Nur dann könne es uns gelingen, die Herausforderungen unserer Zeit produktiv und nachhaltig anzugehen. Denn, so Weber: »Es ist […] ein Kategorienfehler zu denken, durch Effizienz ließe sich mit der Wirklichkeit ins Reine kommen.« (37)
Weber, Andreas: Enlivenment. Eine Kultur des Lebens. Versuch einer Poetik für das Anthropozän. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 153 Seiten, Klappenbroschur, 12€