Editorial
Liebe Leser*innen,
„Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. [...] Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos kann man weder fühlen noch denken noch handeln." Worauf der Philosoph Vilém Flusser mit diesem Gedanken verweist, ist das fundamentale und oftmals für selbstverständlich gehaltene Faktum des Wohnens. Wohnen steht nicht nur für eine räumliche Positionierung oder den Schutz vor Witterung, sondern für eine sinnhafte Verortung, die als Bedingung alles Denken und Handeln ermöglicht. Doch dass diese Bedingungen des Wohnens selbst krisenhaft werden können und damit alles andere als selbstverständlich sind, haben nicht zuletzt die Corona-Krise wie auch Diskussionen um Wohnraumknappheit eindrücklich bewiesen. Genuin philosophisch wird die Frage nach dem Wohnen nun, insofern sie den existenziellen Sinn des Wohnens sowohl in seiner alltäglichen und vorthematischen Dimension freilegt als auch an die radikale Kontingenz und damit Veränderbarkeit der Wohnverhältnisse erinnert. Damit lassen sich die einschneidenden Konsequenzen der Krise des Wohnens neu perspektivieren: Es geht nicht nur um ein Mehr an Wohnraum, sondern darum, wie sich elementare Selbst- und Weltverhältnissen des Menschen konstituieren oder blockiert werden.
In seinem Betrag forscht Daniel Pascal-Zorn nach dem „etwas mehr", das sich im Wohnen ereignet. Das Entstehen von Wohnlichkeit mit seiner Atmosphäre darf dabei nicht auf eine Ansammlung von Gegenständen oder der spezifischen Gestaltung eines Raumes reduziert werden, sondern vollzieht sich als leib- und zeichenhafte Sedimentierung von Sinn, als Insistenz und Beharrlichkeit. Zugleich haftet jedem Wohnen eine nicht zu tilgende Kontingenz an. Die Aneignung eines Ortes ist immer bedroht durch Erfahrungen der Enteignung. Wohnen wird so zur notwendigen und zugleich prekären Seinsweise des Menschen: „Das Leben muss Wohnen". Wie die Bedingungen des Wohnens selbst bedroht oder verstellt sein können, zeigen schließlich jene Wohnformen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden: das Wohnen in Gefängnissen, in Obdachlosenunterkünften oder auf der Straße.
Tabea Latocha wirft in ihrem Beitrag einen feministisch-kritischen Blick auf die gegenwärtige Wohnungskrise, deren vielfältige Ursachen mit der markförmigen Organisation der Wohnfrage verknüpft sind. Ökonomische Ungleichheiten einer kapitalistischen Gesellschaft treffen den Menschen in einer existenziellen Dimension, je mehr das Wohnen selbst zur Ware wird. Mit den prekär werdenden Bedingungen des Wohnens steht nicht nur die Sicherung von Grundbedürfnissen Einzelner auf dem Spiel, sondern der gesellschaftliche Zusammenhalt als solcher. In diesem Sinne spricht Latocha konsequenterweise von Wohnen als einer Beziehungsweise. Als solche wird das Wohnen-als-Zuhause Ausgangspunkt für Solidarität und Widerstand. Zugleich gilt es, die oftmals entpolitisierende Unsichtbarkeit der Care-Arbeit in diesen Beziehungsweisen sichtbar zu machen.
Marcus Döller schließt seine Gedanken an das Diktum Adornos über die Unmöglichkeit des Wohnens an. In der Dialektik von Subjekt und Eigentum, wie sie in der sozialen Logik der bürgerlichen Gesellschaft eingeschrieben ist, findet sich eine Paradoxie, die schließlich Subjekt und Eigentum destruiert. Ein möglicher anderer Vollzug dieser Paradoxie zeichnet sich in den subversiven Formen der Destruktion ab, wie sie bei Alfred Sohn-Rethel und Siegfried Kracauer beschrieben und praktisch am Beispiel der Häuserbesetzung sichtbar werden. Destruktion steht dann für eine kreative Aneignung von Eigentum, in der zugleich die politische und soziale Bedingtheit des Wohnens neu verhandelt werden kann.
Jürgen Manemann Marvin Dreiwes